Mann ohne Eigenschaften "falsch" beurteilt?

  • Hallo,


    mir schwirrt im Hinterkopf herum, dass vor längerer Zeit Teile aus Musils "Mann ohne Eigenschaften" an Verlage verschickt wurde, ohne zu sagen, dass diese von ihm stammten und der Roman von allen angeschriebenen Lektoren abgewiesen wurde (aufgrund mangelnder literarischer Qualität o.Ä.)


    Weiss jemand, ob diese Anekdote so stimmt, bzw. hätte mir vielleicht sogar jemand einen Link zu diesem "Versuch"



    Danke & Grüße,


    Rezk




    P.S.: ich hoffe, ich habe nicht gänzlich im falschen Forum gepostet...

    "Es gibt ein Ziel, aber keinen Weg, was wir Weg nennen ist zögern" (F. Kafka)

  • Hallo resk


    Im Buch von Rainer Schmitz "Was geschah mit Schillers Schädel" gibt es einen Abschnitt darüber auf S. 302 unten und S. 303.
    Das Manuskript umfasste 8 Schreibmaschinenseiten (die einzige erotische Szene aus dem "Mann ohne Eigenschaften") und wurde unter dem Namen "Bob Hansen" an 14 deutschsprachige Literaten und 32 Verlage verschickt.


    Die Antwort auf die Nachfrage, ob es Aussichten auf eine Veröffentlichung des Buches bestünde, fiel allesamt negativ aus.


    Claassen Verlag meinte zu dem Manuskript, dass es "stilistisch so viel zu wünschen übrigbleibt". Biederstein hielt dem Autor "primitive Ausdrucksweise und falsche Sentimentalität" vor. Robert Neumann konstatierte einen "Stilkrampf". Suhrkamp urteilte "Was sie schreiben, stimmt mit unseren Vorstellungen von Literatur nicht überein" usw.....


    Als Quelle wird die Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 1. Mai 1968 angeführt.


    Viele Grüße
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Hallo,


    recht vielen Dank für die ausführliche Antwort!
    :smile:
    Im Forum bekommt man wirklich auf alles eine Antwort !



    Gruss,


    rezk

    "Es gibt ein Ziel, aber keinen Weg, was wir Weg nennen ist zögern" (F. Kafka)

  • Das ist ja wirklich sehr spannend und sagt - leider! - sehr viel über Literatur (oder nur über Verlage?) aus. Gibt es denn überhaupt Standards, um Literatur zu beurteilen?


    Würde etwa ein Roman wie Hyperion von Hölderlin, der doch als Klassiker gilt, heute noch verlegt werden?

  • Ich denke, diese Anekdote (meines Wissens hat man ähnliche Versuche auch in anderen Ländern gemacht, z.B. mit Auszügen aus Virginia Woolfs Werk) zweierlei zeigt:
    1. Dass der Zeitgeschmack ist ändert
    2. Dass heutige Lektorate einfach miserabel sind...


  • 1. Dass der Zeitgeschmack ist ändert
    2. Dass heutige Lektorate einfach miserabel sind...


    Bei ersterem stimme ich dir uneingeschränkt zu.


    Bei Punkt 2 finde ich, muss man bedenken, dass Lektoren heutzutage mit Buchanfragen überschwemmt werden und sicher nicht mehr die Zeit haben diese auch gewissenhaft zu lesen. Ich habe einmal gehört, dass sich ein Lektor mit einem eingeschicktem Manuskript nur wenige Minuten befasst. ^
    Wenn ihm die ersten paar Sätze nicht zusagen, dann wird das ganze in den Müll geworfen. Leider bekommen bei dieser, sicher sehr unglücklichen Methode, auch viele gute Bücher keine Chance.


    Katrin


  • Ich denke, diese Anekdote (meines Wissens hat man ähnliche Versuche auch in anderen Ländern gemacht, z.B. mit Auszügen aus Virginia Woolfs Werk) zweierlei zeigt:
    1. Dass der Zeitgeschmack ist ändert
    2. Dass heutige Lektorate einfach miserabel sind...


    Wenn MoE von allen Lektoren abgelehnt wurde, dann spricht das eher für als gegen die Qualität der Lektorate.

  • Dass ein Lektor mit Manuskripten überschüttet wird, sollte ihn nicht davon abhalten, Qualität zu erkennen - aber die meisten Lektorate, so weit habe ich Einblick in die Branche, liest diese unverlangten Manuskripte gar nicht, sondern lässt sie, wenn überhaupt, irgendwann vom Sekretariat zurückschicken.


    Weil es immer wieder durchschimmert, dass der "Mann ohne Eigenschaften" vielleicht doch wohl eher ein schlechtes Buch sein könnte, muss ich entschieden widersprechen; ich habe es ganz gelesen, alle Fragmente und Bruchstücke - und war und bin begeistert, ein Buch voller wahrer Sätze. Wie viele solcher großen Werke hat es eine eigene Sprache, die man als halbwegs versierter Kenner der Literatur feststellen können müsste - insofern sind die Lektorate, die das nicht erkannt haben, miserabel.


    Es war Goethe übrigens, der Hölderlin Steine in den Weg legte, aber nicht, weil er die Sachen wirklich für schlecht hielt, sondern weil er sehr wohl spürte, dass ihm da ein Konkurrent erwachsen könnte, der ihn in den Schatten stellen könnte. Goethes schnödes Verhalten gegenüber Hölderlin hat mich immer gegen diesen ach so edlen Großmeister der deutschen Literatur eingenommen.

  • Goethe war aber nicht Hölderlins Lektor, oder?


    Übrigens fand ich, dass Goethe in dem Brief, in welchem er darüber berichtet, eher wohlwollend klingt als arrogant oder beleidigend. Trotzdem ist die Aussage nach all dem, was Hölderlin konnte, freilich ein Hohn!


    Gruß

  • Goethe war aber nicht Hölderlins Lektor, oder?


    Jein. Wenn ich mich recht erinnere, sprach er da als (Mit-?)Herausgeber eines Almanachs ... Über die psychologischen Beweggründe für diese Aussage können wir wohl allenfalls noch spekulieren ...

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Wenn MoE von allen Lektoren abgelehnt wurde, dann spricht das eher für als gegen die Qualität der Lektorate.


    Oho! Hier wird ein großes Werk gelassen abgewatscht. Hast du denn den Mann ohne Eigenschaften überhaupt gelesen?


    Um einen Eindruck von Musils Sprachmagie zu geben, hier ein winziger Ausschnitt aus dem 1. Buch, wo eine Klavierstunde zu 4 Händen (Clarisse und Walter) beschrieben wird. Ich kann mir kaum noch eine dichtere Sprache vorstellen.


    Zitat

    Das Klavier hämmerte schimmernde Notenköpfe in eine Wand aus Luft. Obgleich dieser Vorgang in seinem Ursprung ganz und gar wirklich war, verschwanden die Mauern des Zimmers, und es erhob sich an ihrer Stelle das goldene Gewände der Musik, dieser geheimnisvolle Raum, in dem Ich und Welt, Wahrnehmung und Gefühl, Innen und Außen auf das Unbestimmteste ineinanderstürzen, während er selbst ganz und gar aus Empfindung, Bestimmtheit, Genauigkeit, ja aus einer Hierarchie des Glanzes geordneter Einzelheiten besteht. An diesen sinnlichen Einzelheiten waren die Fäden des Gefühls befestigt, die sich aus dem wogenden Dunst der Seelen spannen; und dieser Dunst spiegelte sich in der Präzision der Wände und kam sich selbst deutlich vor. Wie puppige Kokons hingen die Seelen der beiden Menschen in den Fäden und Strahlen. Je dicker eingewickelt und breiter ausgestrahlt sie wurden, desto wohliger fühlte sich Walter, und seine Träume nahmen so sehr die Gestalt eines kleinen Kindes an, daß er hie und da begann, die Töne falsch und zu gefühlig zu betonen.


  • Äh - eher nicht. Dunst, der Fäden spinnt? Ich weiß nicht. Entweder ist das eine Stilparodie oder es ist einfach: Kitsch.


    Nein, das ist keine Parodie. Was soll daran kitschig sein? Spricht man doch auch sonst von Dunstfäden.


    Gezeigt wird hier ein Vorgang, worin zwei Personen sich ganz in Musik vertiefen und selbst Musik werden. Langsam wird eine ungute Atmosphäre in diesem "Dunst" erzeugt, man merkt, dass hier etwas schief läuft zwischen den beiden.


    Der Kitsch, den du vermutest, ist der Kitsch der Gefühle der beiden Protagonisten Clarisse & Walter, deren Eheleben gewissermaßen nur noch am Dunstfaden ihrer Musik hängt.


  • Spricht man doch auch sonst von Dunstfäden.


    Ein Wort, bei dem Google 78 Treffer kennt? Da spricht "man" garantiert nicht von.


    Worauf ich hinauswollte: Dieser Abschnitt, so für sich genommen und ohne zu wissen, welche Funktion er in welchem Text hat, ist gruslig schlecht und würde zurecht bei jedem Lektor durchfallen. Aber - und das ist ein sehr großes aber, also: ABER: Der Abschnitt steht in einem Kontext und in einem Roman, der viele verschiedene Tonfälle beherrscht. Und das: ändert schlichtweg alles.


    Zitat

    Was soll daran kitschig sein?


    Wie wäre es mit: alles? Das ist ganz grauenhaft verschmocktes Feuilleton. Die "goldenen Gewände der Musik". Sonst noch was?

  • Oho! Hier wird ein großes Werk gelassen abgewatscht. Hast du denn den Mann ohne Eigenschaften überhaupt gelesen?


    Um einen Eindruck von Musils Sprachmagie zu geben, hier ein winziger Ausschnitt aus dem 1. Buch, wo eine Klavierstunde zu 4 Händen (Clarisse und Walter) beschrieben wird. Ich kann mir kaum noch eine dichtere Sprache vorstellen.


    Hallo Kaspar,


    den MoE habe ich, abgesehen von den Fragmenten, gelesen. Du kannst meine Einstellung zu dem Buch in der entsprechenden Leserunde unter den Beiträgen von Bloom verfolgen. Abgesehen davon, dass sich die Qualität eines so langen Textes nicht durch ein einziges Zitat bestimmen lässt, halte ich den Ausschnitt von dir schlicht und einfach für Schmus. Hätte das Buch nur diese Qualität, dann wäre ich keine 30 Seiten weit gekommen.

  • Nachdem ich mich längere Zeit nicht im Forum umgeschaut habe, stelle ich nun mit Entsetzen fest, wie leichtfertig und dumm hier über den "Mann ohne Eigenschaften" geurteilt wird, ein Buch, das ich etwa seit meinem 14. Lebensjahr immer wieder lese, wie die Bücher von Kafka, wie Proust, es gehört also zu meinen Lebensbüchern. Es ist von unerschöpflicher Geisteskraft, ein nie versiegender Quell von Intelligenz und Inspiration, von ungeheurer Sprachintensität, zeugend von einer "taghellen Mystik", wie Musil es nennt. Ohne jemanden belehren zu wollen, bitte ich darum, euch zu besinnen. Dieses Forum hat doch sicher für viele junge Leser eine Vorbildfunktion. Ich appelliere an euch, genauer zu lesen und zu denken, bevor ihr etwas schreibt. Ihr kennt ja alle das Lichtenberg-Zitat, von dem Buch und dem Kopf. In diesem Sinne.
    Eine ziemlich verzweifelte Leserin