Mann ohne Eigenschaften "falsch" beurteilt?

  • Hallo!



    Nachdem ich mich längere Zeit nicht im Forum umgeschaut habe, stelle ich nun mit Entsetzen fest, wie leichtfertig und dumm hier über den "Mann ohne Eigenschaften" geurteilt wird, ein Buch, das ich etwa seit meinem 14. Lebensjahr immer wieder lese, wie die Bücher von Kafka, wie Proust, es gehört also zu meinen Lebensbüchern. Es ist von unerschöpflicher Geisteskraft, ein nie versiegender Quell von Intelligenz und Inspiration, von ungeheurer Sprachintensität, zeugend von einer "taghellen Mystik", wie Musil es nennt. Ohne jemanden belehren zu wollen, bitte ich darum, euch zu besinnen. Dieses Forum hat doch sicher für viele junge Leser eine Vorbildfunktion. Ich appelliere an euch, genauer zu lesen und zu denken, bevor ihr etwas schreibt. Ihr kennt ja alle das Lichtenberg-Zitat, von dem Buch und dem Kopf. In diesem Sinne.
    Eine ziemlich verzweifelte Leserin


    Nun bin ich ein bekennender Musil-Bewunderer, kann auch nur schwer verstehen, wie man sich der sprachlichen Brillianz (insbesondere des ersten Teiles, der zweite bedürfte einer gesonderten Betrachtung) entziehen kann. Aber mit Entsetzen, Verzweiflung oder gar der Befürchtung einer jugendlich-literarischen Verderbnis ins Feld für den eigenschaftslosen Manne zu ziehen erscheint mir dann doch übertrieben. Das führt zwangsläufig dazu, dass da ein armierter (echter) Kerl deiner wartet und dir mit einem Pamphlet mediokrer Provenienz eins überzieht.


    Interessant wäre zu wissen, welcher Ausschnitt den Lektoren vorgelegt wurde. (Den von Kaspar finde ich ausnehmend unglücklich gewählt, die psychologischen Hintergründe der einzelnen, an der Parallelaktion Beteiligten oder auch die Kapitel über den Großschriftsteller - Vorder- oder Rückansicht - würden sich zur Illustration musilscher Sprachgewalt besser eignen.) Jedenfalls finde ich die Sorge um die literarische Unschuld der Jugend zwar rührend, aber denn doch überzogen; ich jedenfalls gestehe, dass ich Postings unabhängig von ihrem prospektiven pädagogischen Gehalt zu verfassen pflege.


    Im übrigen glaube ich zu wissen, dass Lektoren nicht ausschließlich nach Qualität und Anspruch urteilen, sondern immer die kommerzielle Verwertbarkeit der Texte in Betracht ziehen (müssen!). Insofern haben sie mit ihrer Ablehnung durchaus Recht; zu Lebzeiten wurden vom MoE ein paar Tausend Exemplare verkauft. Dies bedeutet aber keineswegs, dass ich mit dieser Vorgehensweise einverstanden bin, sondern soll nur die Kriterien möglicher Manuskriptablehnungen erhellen.


    Grüße


    s.


    ceterum censeo: Mitlesendes, jugendliches Ungestüm - wärmstens sei dir der MoE empfohlen. Und verleihe hiermit der Hoffnung Ausdruck, meiner Vorbildwirkung Genüge getan zu haben!

  • Interessant wäre zu wissen, welcher Ausschnitt den Lektoren vorgelegt wurde.


    Da liegt wohl der Hund (mit)begraben: In jedem Grosswerk findet man problemlos Stellen, die schlicht und ergreifend unsäglich schlecht sind. Und in jedem Gesamtwerk. Wieviel (gut deutsch gesagt: ) Mist lässt sich nicht in jeder einigermassen vollständigen Werkausgabe von - z.B. - Goethe finden ...

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • In den Beiträgen zur Leserunde von MoE hat Imrahil Motiven und Themen des Textes aufgelistet (S.2). Diese Liste zeigt meiner Auffassung nach das Problem des Romans sehr deutlich. Es ist einfach zu viel und zu viel Komplexes was Musil hineinpackt und das er selbst nicht mehr strukturieren kann. Ich bin überzeugt, dass er es selbst bemerkt hat, als er versuchte den 3. Teil zum Abschluss zu bringen und dies nicht zustande gebracht hat. In einem Roman müssen keineswegs alle Handlungsstänge zu einem Ende geführt werden, in MoE wirkt jedoch alles abgebrochen. Möglicherweise wollte Musil auch zeigen, dass sich nichts (abgesehen von Trivialitäten) zu Ende führen lässt, doch selbst das wird nicht deutlich.
    Heute ist sicherlich schon umstritten was ein Roman ist, und MoE mag meinetwegen ein Intelligenztest, der größte Beitrag Österreichs zur Weltliteratur, eine Lebenshilfe, ein stellenweise sprachliches Kunstwerk, ein Labyrinth geistiger Einsichten, eine Schatztruhe für originelle Zitate sein, es bleibt meines Erachtens ein missglückter Roman.
    Was die Reaktionen der Lektorate zu den eingesandten Ausschnitten betrifft, gebe ich Knabe, Sandhofer und Giesbert vollkommen Recht und angehende Schriftsteller sind zu bedauern, wenn sie die ersten Absätze nur schreiben müssen, um sich den Lektoren interessant zu machen.

    Mit meiner, recht rohen Ablehnung von MoE möchte ich aber keineswegs Musil selbst und den Liebhabern dieses Werks, meinen Respekt versagen und ich hoffe ihr nehmt mir meine emotionale Art mich zu Büchern zu äußern nicht allzu übel.

  • Zitat von "scheichsbeutel^"


    Interessant wäre zu wissen, welcher Ausschnitt den Lektoren vorgelegt wurde.


    Das war, wie Maria schon geschrieben hat, offenbar die einzige erotische Szene aus dem MoE, insgesamt acht Schreibmaschinenseiten lang. Laut Spiegel kamen diese Sätze darin vor:


    "Er beugte sich hinab und bedeckte es [das Gesicht] mit den rücksichtslosen Küssen, die das Fleisch in Bewegung setzen. Helga stand willenlos auf und ließ sich führen."


    Hier der Link zum Spiegelartikel von 1968:
    http://wissen.spiegel.de/wisse…l?id=46050158&top=SPIEGEL


    Wenn man in Google-Books nach "rücksichtslosen Küssen" sucht, bekommt man den Ausschnitt angezeigt (S. 620 der gesammelten Werke).


    Schöne Grüße,
    Wolf

  • Hallo!


    Danke für den Hinweis auf die Stelle, S. 620 unten bis 624 (also 4 und nicht 10 Seiten, dürfte wohl wie so manche Seminararbeit mit großem Zeilenabstand geschrieben worden sein).


    Das Erstaunlichste für mich ist die Tatsache, dass den Hoax niemand erkannt zu haben scheint (ich glaube nicht, dass ich den Ausschnitt nicht hätte zuordnen können). Die Passage ist die Beste nicht, eher eine Dunstfädenstelle, muss aber in jedem Fall im Kontext der Erzählung gelesen werden, da diese Szene Ulrich - Gerda auf die vorhergehende Entdeckung Gerdas bezüglich Arnheim und der Verbindung mit Diotima hinweist. "Er fühlte die Verpflichtung, Diotima zu warnen, die mit ausgebreitetem seelischen Gefieder in eine lächerliche Enttäuschung hineinsegelte." Dieser Satz ist für die musilsche Schreibweise schon eher charakteristisch - und besser. (Im übrigen scheint mir das Ganze eine recht ironische Liebesszene zu sein, was sich bei isolierter Betrachtung nicht erschließt.)


    Dass der Roman viel zu komplex und ausschweifend konzipiert war, liegt auf der Hand, wobei das Problem nicht nur in der Konzeption besteht, sondern in der Fähigkeit des Schriftstellers, zu streichen und die Fäden wieder zusammen zu führen (Doderer konnte das in der Strudlhofstiege, pflog aber auch eine gänzlich andere Arbeitsweise). Das allein spielt für mich aber in der Beurteilung eines Romanes keine entscheidende Rolle, es ist mir relativ egal, ob sich Gärtner oder Butler als Mörder erweisen, wenn ich bis zu diesem Zeitpunkt gelangweilt worden bin (so sind auch die "Toten Seelen" ein großartiger Roman, wiewohl Fragment). Gerade im ersten Teil des MoE finden sich m. E. unzählige Stellen, Kapitel, die sowohl sprachlich als auch inhaltlich ihresgleichen in der deutschsprachigen Literatur suchen. Diese allein machen dieses Buch zu einer großartigen Demonstration dessen, was mit Sprache möglich ist und lassen den MoE zu einem herausragenden Roman werden.


    Den Entwurf, das Prokrustesbett, in das sich Musil damit begeben hat, halte ich für verfehlt (die ganze Geschwisterliebe etwa für höchst entbehrlich) und eigentlich für nicht ausführbar. Sein Problem bestand wohl - u. a. - darin, dass er an diesem Aufbau mehr-weniger verzweifelt festgehalten hat und dadurch sich selbst in die Uferlosigkeit getrieben hat.


    Grüße


    s.

  • Das war, wie Maria schon geschrieben hat, offenbar die einzige erotische Szene aus dem MoE, insgesamt acht Schreibmaschinenseiten lang. Laut Spiegel kamen diese Sätze darin vor:


    Also ich kenne die Geschichte so, dass sie das erste Kapitel des MoE an Verlage geschickt haben und das ist ja nun wirklich fulminant. Wenn das stimmt, wäre es auch ein Armutszeugnis für die Lektoren, denn der Beginn des MoE gehört ja zu den berühmtesten Romananfängen der deutschsprachigen Literatur.


    CK

  • Also ich kenne die Geschichte so, dass sie das erste Kapitel des MoE an Verlage geschickt haben und das ist ja nun wirklich fulminant. Wenn das stimmt, wäre es auch ein Armutszeugnis für die Lektoren, denn der Beginn des MoE gehört ja zu den berühmtesten Romananfängen der deutschsprachigen Literatur.


    CK



    Selbst wenn die Geschichte stimmt, die Frage ist doch dann, ob die Manuskripte es bis auf den Tisch der Lektoren geschafft haben und nicht von Hilfskräften zuvor aussortiert wurden. Das wäre zwar auch bitter, da dann die Prozesse im Verlag nicht stimmen, den Lektoren selber könnte man daraus aber keinen Vorwurf machen.


    Schöne Grüße,
    Thomas


  • Selbst wenn die Geschichte stimmt, die Frage ist doch dann, ob die Manuskripte es bis auf den Tisch der Lektoren geschafft haben und nicht von Hilfskräften zuvor aussortiert wurden. Das wäre zwar auch bitter, da dann die Prozesse im Verlag nicht stimmen, den Lektoren selber könnte man daraus aber keinen Vorwurf machen.


    Also ich war auch einmal so eine "Hilfskraft" bei Carl Hanser und hätte Musil schon erkannt :breitgrins:


    Habe aber auch sehr viel aussortiert.


    CK

  • Mal ernsthaft - solche "Tests" sind doch allenfalls als Feuilleton-Futter gut. Die sagen nichts, rein gar nichts aus. Weder über den Autor noch über das Lektorat.


    Und aus meiner Jugenderinnerung taucht da "Hanny & Nanny" von Enid Blyton auf. Da gibt es auch so einen "Test". Eine nervige Schülerin legt die Lehrerein herein, in dem sie bei einem Test einen Shakespeare-Text abgibt, den die Lehrerin nicht erkennt, worauf das Nerverl triumphiert.


    Und genau da gehört sowas auch hin: zum pubertären Austesten von Autoritäten.


  • Mal ernsthaft - solche "Tests" sind doch allenfalls als Feuilleton-Futter gut. Die sagen nichts, rein gar nichts aus. Weder über den Autor noch über das Lektorat.


    Und aus meiner Jugenderinnerung taucht da "Hanny & Nanny" von Enid Blyton auf. Da gibt es auch so einen "Test". Eine nervige Schülerin legt die Lehrerein herein, in dem sie bei einem Test einen Shakespeare-Text abgibt, den die Lehrerin nicht erkennt, worauf das Nerverl triumphiert.


    Und genau da gehört sowas auch hin: zum pubertären Austesten von Autoritäten.


    Ganz so einfach ist die Sache nicht. Es handelt sich schlicht um ein Hinterfragen von Autoritäten, welches - hoffentlich - immer dort auftritt, wo diese Autoritäten ex cathedra zu sprechen sich anschicken. Und das halte ich prinzipiell - im Falle von Hanni und Nanni noch viel mehr, weil ein solch jugendliches Hinterfragen konstituierend für die Entwicklung ist - für mehr als berechtigt. Das so etwas zu etwas dümmlichen Pennälerspäßen verkommen kann, liegt natürlich auf der Hand.


    Literaturkritik tritt häufig mit einem solchen arrogant-überheblichen Anspruch auf. Und diese Form der Decouvrierung hat insofern durchaus ihre Berechtigung, auch wenn es für mich persönlich eines solchen Beweises der Relativität von Urteilen nicht bedürfte (das hat aber auch mit meinem (deinem?) Alter zu tun; bei Hanni und Nanni ist's ein sinnvoller und notwendiger Prozess, wobei das in realiter meist nur jenen Lehrern widerfährt, die mit entsprechend herrschaftlichem Gebaren vor die Klasse treten).


    Etwas entfernt Vergleichbares (und m. E. durchaus Gelungenes) ist Sokal, Bricmont mit dem "Eleganten Unsinn" gelungen. (Für alle, denen diese Geschichte unbekannt ist: Sokal hat einen Artikel namens "Die Grenzen überschreiten. Auf dem Weg zu einer transformativen Hermeneutik der Quantengravitation" verfasst und ihn in "Social Text", einer anerkannten Publikation, veröffentlicht. Das Ganze war nichts weiter als Wortgeklimper und eine Aneinanderreihung klug klingenden Unsinns, der mit postmodernen Versatzstücken Geist suggerierte. Nach Lob und Anerkennung für das vermeintlich geistreiche Elaborat war der Katzenjammer nach Aufdeckung des Schwindels groß.) Auch hier ging es um das Hinterfragen von selbstgefälliger Autorität im scheinbar unantastbaren akademischen Gewand, ein Hinterfragen, das umso wichtiger ist, da solche Publikationen häufig Ehrfurcht, auch Angst erwecken (insbesondere bei Schülern und Studenten). Aber - in Umkehrung des Lichtenbergschen Aphorismus: Auch Bücher bzw. die Köpfe der Autoren können hohlen Klang erzeugen.


    Und wenn mit dem Musilschen Text bloß auf die Fragwürdigkeit von Urteilen hingewiesen wird, auf die Schwierigkeit allgemein gültiger Urteile in bezug auf die Kunst: So ist damit doch etwas getan.


    Grüße


    s.

  • Zitat

    Etwas entfernt Vergleichbares (und m. E. durchaus Gelungenes) ist Sokal, Bricmont mit dem "Eleganten Unsinn" gelungen. (Für alle, denen diese Geschichte unbekannt ist: Sokal hat einen Artikel namens "Die Grenzen überschreiten. Auf dem Weg zu einer transformativen Hermeneutik der Quantengravitation" verfasst und ihn in "Social Text", einer anerkannten Publikation, veröffentlicht. Das Ganze war nichts weiter als Wortgeklimper und eine Aneinanderreihung klug klingenden Unsinns, der mit postmodernen Versatzstücken Geist suggerierte. Nach Lob und Anerkennung für das vermeintlich geistreiche Elaborat war der Katzenjammer nach Aufdeckung des Schwindels groß.) Auch hier ging es um das Hinterfragen von selbstgefälliger Autorität im scheinbar unantastbaren akademischen Gewand, ein Hinterfragen, das umso wichtiger ist, da solche Publikationen häufig Ehrfurcht, auch Angst erwecken (insbesondere bei Schülern und Studenten). Aber - in Umkehrung des Lichtenbergschen Aphorismus: Auch Bücher bzw. die Köpfe der Autoren können hohlen Klang erzeugen.


    Klingt irgendwie nach Hape Kerkeling: hurz


    Das Thema im Allgemeinen klingt jedoch spannend. Beispielsweise indem man unsinnigerweise die Frage verfolgt, wäre es Musil vielleicht in Zusammenarbeit mit einem(r) guten und engagierten Lektor(in) bereits zu Lebzeiten gelungen, sein opus magnum zu vollenden? Oder anders herum. Wie wichtig ist, bzw. welchen Einfluss hat die Zusammenarbeit mit einem(r) LektorIN im heutigen Literaturbetrieb im Allgemeinen? Immerhin ist die Rentabilitätsfrage auch hier nicht gänzlich von der Hand zu weisen. Wenngleich Goethes Wort von Glanz, Augenblick und Nachwelt sicher auch gegenwärtig noch seine Gültigkeit besitzt. Trotzdem wollen Verlage natürlich auch ihre schillernden Neuerscheinungen verkaufen. Immerhin gibt es genügend Schätze für spätere Generationen zu erhalten. Und das ist sicher nicht ganz billig...


    Grüße aus Hinterfotzingen

    Einmal editiert, zuletzt von troll ()

  • dobroi utro,


    heute nacht stellte sich mir wieder unaufhörlich die frage, ob es sich beim MoE um ein klassisches Beispiel von apollinischer Kunst handelt, weil bis zu Seite 370 weder gesoffen, kaum gehurt und schon gar kein crack geraucht wurde.


    :morgen:


    gruß vom troll
    (kofferpackend)

  • Gibt es nicht auch die nüchternen Räusche der Mystik? Und hat nicht z. B. Hölderlin (der mit den Schwänen und dem "heilig-nüchternen Wasser") gesagt: "Da wo die Nüchternheit dich verlässt, ist die Grenze deiner Begeisterung"?
    Und gibt es bei Musil z. B. nicht u.a. die Verbindung von Rationalität und Mystik?