Dezember 2004:Albert Camus - Der Fremde / Der Mythos ..

  • Guten Tag allerseits.


    Den "Fremden" haben wir in der Schule gelesen. Das ist zwar ungefähr dreißig Jahre her, aber wir erinnern uns bestens daran, da wir uns auch heute noch immer wieder so fühlen wie er, z.B. diesen Sommer an der Elbe, oder auch täglich in der Fußgängerzone.


    (Hier folgten, im Kontext mit dem Buch sehr bewußt ausgewählte, Mitteilungen sehr privater Natur. Verständnislose und seltsam unfreundliche Reaktionen ließen mich erkennen, daß sie hier wohl nicht angebracht waren.)

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  • (Hier standen, im Kontext mit dem Buch sehr bewußt ausgewählte, Mitteilungen sehr privater Natur. Verständnislose und seltsam unfreundliche Reaktionen ließen mich erkennen, daß sie hier so wohl nicht angebracht waren. Schade. Zwar gebe ich zu, daß die Krassheit der Mitteilungen in Verbund mit gleichzeitiger versuchter Ironisierung geschmacklos gewirkt haben mag, aber von Leuten, die sich mit Literatur beschäftigen, hätte ich erwartet, daß sie das einzuordnen wissen und verkraften.)

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  • Hallo zusammen!


    Es ist schön, dass Camus ein paar neue Leute in dieses Board geholt hat. Sie seien hier alle herzlich willkommen geheissen.


    Speziell an die Adresse von "ChicoundHammer" sei gesagt, dass ernst gemeinte Beträge hier jederzeit willkommen sind. Dieses Unterforum nennt sich "Gemeinsames Lesen", sollte also für die reserviert bleiben, die zusammen ein Werk lesen. Für generelle Bemerkungen zu einem Werk gibt es das "Allgemeine Diskussionsforum". Und eine letzte Bemerkung: In diesem Forum gibt es Admins und Mods, deren Bereitschaft, jedweden Unsinn, Spam, sinnlose Streitereien etc. im Keim zu ersticken, derjenigen von Ralf Harder in keiner Weise nachsteht.


    Grüsse


    Sandhofer

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Guten Morgen,


    bevor ich mir heute Abend noch ausführlicher Zeit nehmen werde, vorweg eine Stelle aus gegen Ende des zweiten Kapitels, die mich stutzig machte.


    Ich habe eine Werbung für Kruschen-Salz ausgeschnitten und sie in ein altes Heft geklebt, in dem ich die Sachen sammle, die mich in der Zeitung amüsieren.


    Auch ohne zu wissen, was genau Kruschen-Salz ist, amüsiert es mich sehr, dass das Meursault amüsiert. Ziemlich fremd, der Typ. :zwinker:


    Grüße,
    -kali-

    Der Zufall ist unser Schicksal und das ist ein gutes Zeichen für das Unberechenbare.

  • sandhofer
    Was ist denn in Sie gefahren ?
    Was war denn bitte an unseren Beiträgen nicht ernst gemeint ?
    Wo war Unsinn, Spam oder sinnlose Streiterei ?


    Wollen Sie uns, wie Kafkas Käfer, totschlagen ?


    Das haben wir schon des öfteren ganz ähnlich erlebt; diskutieren, über Religion und Philosophie reden, über Wahrheit suchen zu reden ist zwar erwünscht, aber bitte im Rahmen und nicht allzu heftig, es sollte doch gemütlich bleiben. - Saubermänner, die sich dazu berufen fühlen, die gemäßigte Temperatur zu allseitiger Behaglichkeit zu überwachen.


    Uns ging es hier in beiden Beiträgen um Camus „Fremden“, den wir auch gelesen haben, und sonst gar nichts.

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  • Guten Morgen Chico und Hammer,


    ich glaube, es würde der Diskussion gut tun, wenn ihr mehr im Text und dessen Inhalt schwelgtet als in eurer Kindheit.
    Es geht um Kontexte und nicht um Rebellion.


    Mfg,
    -kali-

    Der Zufall ist unser Schicksal und das ist ein gutes Zeichen für das Unberechenbare.

  • kali
    In unserer Kindheit zu schwelgen, dazu haben wir keinen Anlaß. Wir haben von Kindheit & Jugend und sonst privatem gesprochen, um zu erläutern, warum wir das Buch sehr gut verstehen, und wie man so werden kann, wie der „Fremde“ es ist.


    Sie schrieben in einem früheren Beitrag:
    (kleiner Exkurs: Ich musste in der sechsten Klasse mal einen Aufsatz über mein Lineal und meinen Bleistift schreiben, der hatte wohl einen sehr ähnlichen sprachlichen Stil )


    Ist das etwas anderes ?


    Camus ging es sicher mehr um „Rebellion“ (obwohl ich das Wort hier unpassend finde) als um Kontexte.


    Aber vielen geht es halt darum, Dinge auf ihren (oder einen gemeinschaftlichen) Level herabzuholen, als zu ihnen gleichsam hinaufzusteigen.

  • Hallo zusammen,
    hallo Maja,


    Zitat von "Maja"

    Mir kommt die Gleichgültigkeit irgendwie depressiv vor. Als Phase mag das ja gehen, aber als Dauerzstand??


    Depressiv finde ich den Fremden gar nicht, gleichgültig, entrückt ja, aber nicht depressiv. Vielleicht wirkt die Figur manchmal etwas überspitzt gezeichnet, weil Camus an ihr gerade die Entfremdung zum Leben, zu den Mitmenschen, des Menschen zu sich selbst darstellt. Trotzdem finde ich seine einzelnen Reaktionen auf seine Umwelt sehr menschlich und nachvollziehbar, wie sie einem so in vielerlei Hinsicht begegnen könnten. Manchmal extrem ehrlich vielleicht:
    Innerlich trauert man u.U. nicht wirklich um jeden verstorbenen Verwandten, auch wenn man einer gesellschaftlichen Norm folgend, dies auszudrücken versucht. Innerlich weiß man u.U. wirklich nicht ob man jemanden wirklich liebt, man sagt es nur nicht so krass, um den anderen nicht zu verletzen.


    Zitat von "carina"


    dass Meursault ein Mensch sein muss, der nichts an sich heranlässt. Der sofort abblockt und sich auf Nebensächlichkeiten konzentriert, um sich nicht mit dem eigentlichen Thema auseinander setzen zu müssen.


    Zitat von "Maja"

    Irgendwie habe ich das Gefühl, dass wir diesen Gedanken im Auge behalten sollten. Was er abblockt (verdrängt), muss sich doch irgendwann wieder melden?


    Im oben genannten Sinne habe ich gar nicht das Gefühl, dass der Fremde hier irgendetwas verdrängt oder verbirgt, abgesehen von der Erkenntnis, was dieses "Fremdsein" für ihn wirklich bedeutet.
    Warum sollte es ihm nicht gleichgültig sein, dass seine Mutter gestorben ist? Depressiv oder verdrängend finde ich sein Verhalten und seine Gedanken deshalb noch nicht.


    Liebe Grüße,
    Michael :smile:

  • Hallo zusammen,


    Zitat von "Michael"

    Depressiv finde ich den Fremden gar nicht, gleichgültig, entrückt ja, aber nicht depressiv.


    Ja, vom Ausdruck "depressiv" nehme ich unterdessen auch wieder Abstand. Alles in allem scheint er nicht ungern zu leben, kann sich amüsieren, Lust empfinden, arbeitet und hat Kontakte.
    Die Hypothese vom Verdrängen/Abblocken gebe ich aber noch nicht auf. :zwinker: Das Thema Tod zieht sich ja durch den ganzen Roman, und da wird sein Umgang mit dem Tod der Mutter nicht bedeutungslos sein.


    Zitat

    Was denkt ihr, warum, Meursault seine Mutter nicht nochmal sehen wollte?


    Zuerst will er sie ja sehen, muss aber erst mal zum Direktor! Nachher denke ich, dass es für ihn quasi als Ritual nicht mehr sinnvoll ist.


    Zitat von "kali"

    Auch ohne zu wissen, was genau Kruschen-Salz ist, amüsiert es mich sehr, dass das Meursault amüsiert. Ziemlich fremd, der Typ. :zwinker:


    Gerade hier finde ich ihn nicht sehr fremd!
    Man darf sich nicht zu stark vom Titel die Optik beeinflussen lassen! Vieles an Meursault ist einem doch auch bekannt: Wer hat sich noch nie über eine Annonce oder Werbung amüsiert, sie herausgerissen und jemandem gezeigt? Wer hat noch nie einen Sonntag vertrödelt? Einen Toten nicht ansehen wollen?


    Noch etwas zum Anfang: Die Aufzeichnungen des Ich-Erzählers setzen mit dem Tod der Mutter ein, als ob damit ein neuer Lebensabschnitt beginne.
    Seine Überlegungen in den ersten paar Sätzen, ob es heute oder gestern gewesen sei, erinnern an die Erfahrung, dass eimen in "grossen Momenten" manchmal etwas ganz Banales durch den Kopf geht.
    Als nächstes will ich mal nachzählen, wie oft das Wortfeld "gleichgültig" vorkommt, und wie oft "fremd"!


    Bis später, herzliche Grüsse,
    Maja


    PS @Chico & Hammer:

    Zitat

    während wir uns durch den Text gleichsam immer repräsentiert fühlten und das beschriebene bestens kennen und nachvollziehen.


    Die Phase des rein identifikatorischen Lesens haben wir im Laufe unseres Schülerdaseins überwunden und versuchen nun, auch Texte, deren Protagonisten uns im Wesen fremd sind, immer wieder neu zu entdecken und zu verstehen (siehe Motto oben rechts auf dieser Seite.). Dazu dient, da Textanalyse eine recht einsame Sache ist, auch der Austausch mit anderen Lesern, egal welchen Alters.

  • Hallo zusammen!


    Ich frage mich, ob der Held des Romans wirklich konsequent ist in seiner Gleichgültigkeit? – „Der Fremde“ scheint mir eine Ich-Erzählung mit Tagebuchcharakter zu sein:


    Heute ist Mama gestorben[...]
    [...] heute ist Sonnabend.
    Heute habe ich im Büro viel gearbeitet [...]


    Camus hätte die einzelnen Erzählpassagen, wie in einem richtigen Tagebuch, ohne weiteres auch mit Datum und Uhrzeit versehen können. Einen Menschen aber, dem wirklich alles gleichgültig ist, kann ich mir aber nicht anders als verstummt vorstellen. Beweist nicht die Tatsache, dass Meursault sein Leben für wichtig genug nimmt, um davon zu erzählen, es zu protokollieren, noch nicht völlig abgestumpft sein kann? Wenn ihm alles egal wäre, wozu dann die ganze Mühe?


    Für Einen, dem gesellschaftliche Normen belanglos erscheinen und dem der Tod der eigenen Mutter kalt lässt ist es nur konsequent, wenn er, anstatt die Fassade des trauernden Sohnes aufrecht zu erhalten, bereits am Tage nach deren Beerdigung baden und sich amüsieren geht. Nicht konsequent ist es aber, dass er dennoch nicht darauf verzichtet einen schwarzen Schlips und eine Trauerbinde zu tragen (die er sich zudem für diesen Zweck extra noch von einem Freund ausborgen muss...).


    Ein Minimum an gesellschaftlichen Spielregeln scheinen also trotz Indifferenz Wert eingehalten zu werden.


    Konsequent erscheint es mir, wenn er auf die Frage seines Flurnachbarn, ob er dessen „Kumpel“ sein wolle antwortet, das sei ihm egal oder wenn er auf die Frage der Frau, mit der er eben geschlafen hat, ob er sie denn liebe, erwidert, dass ihm das nicht so scheine und überdies sowieso nichts bedeute. Inkonsequent hingegen, wenn er auf den Vorschlag, in ein Bordell zu gehen, mit der Begründung ablehnt, dass er das nicht mag oder sich weigert die Polizei zu holen, weil er diese ebenfalls nicht mag. Von einem, dem alles egal ist sollte man doch erwarten, dass er auch keine speziellen Vorlieben und Abneigungen mehr hat...


    Mir scheint, als sei Meursault erst auf dem Wege dazu, sich der Gesellschaft zu entfremden. Noch ist er noch nicht so gleichgültig und fremd wie der Romantitel vermuten lässt.


    Bin gespannt, wie es weitergeht.


    Liebe Grüsse


    riff-raff

  • Hallo ihr!


    Zitat von "Maja"

    Die Hypothese vom Verdrängen/Abblocken gebe ich aber noch nicht auf. :zwinker: Das Thema Tod zieht sich ja durch den ganzen Roman, und da wird sein Umgang mit dem Tod der Mutter nicht bedeutungslos sein.


    Bedeutungslos?
    Ähh, für den Roman und das was im Verlauf des Romans in Meursaults Kopf vorgehen wird, ganz und gar nicht bedeutungslos. Das der Roman Camus´ mit dem Tod beginnt ist meiner Ansicht nach einer der wichtigsten Punkte darin und ein wichtiger Hinweis auf die Gedanken über das Absurde, mit denen sich Camus bereits im Fremden auseinandergesetzt hat.


    Nur ist Meursault nicht emotional angegriffen, geschockt, voller Trauer, etc. Ich meine, dass Meursault diese Empfindungen am Grab seiner Mutter nicht wirklich spürt und sich darüber sehr wohl klar ist, ohne etwas zu verdrängen. Meine Interpretation, ich weiß :zwinker:


    Dass Meursaults Verhalten im Wiederspruch zu den gesellschaftlichen Geplogenheiten steht ist klar und wird ihm selbst deutlich. Im Gespräch mit dem Pförtner am Sarg seiner Mutter heißt es:
    "Er hat innegehalten, und ich war verlegen, weil ich merkte, daß ich das nicht hätte sagen sollen. Nach einer Weile hat er mich angesehen und hat gefragt: "Warum nicht?", aber ohne Vorwurf, so als wollte er sich informieren. Ich habe gesagt: "Ich weiß nicht."
    Eine fast wörtlich ähnliche Stelle gibt es bereits zu Beginn im Bezug auf das Gespräch mit seinem Chef.
    Auch wenn es heißt, dass er verlegen wäre, meine ich, dass ihn auch diese Diskripanz nicht sonderlich zu belasten scheint. Bezogen auf ein "gesellschaftlich" definiertes Wertesystem, das bestimmte Verhaltensmuster "verlangt", muss er zwangsläufig anecken. Dazu würde gehören, dass er Trauer zeigt im Angesicht seiner verstorbenen Mutter, dass er nicht einfach eine Frau heiraten könnte, obwohl er sagt, dass er sie eigentlich nicht liebt (obwohl dies wohl nicht selten vorkommt, aber eben nicht so gesagt würde!) und dass er sich in seinem Verhalten seinem Nachbarn und dessen Lebensweise gegenüber anders verhalten könnte. Er könnte es tun, er könnte es lassen. Für Meursault scheinen beide Optionen, so oder anders zu handeln, gleichbedeutend oder keine von beiden bedeutender als eine andere. Zu Marie sagt er auf ihren Heiratsantrag hin:
    "Ich habe gesagt, das wär mir egal, und wir könnten es tun, wenn sie es wollte."
    Und später:
    "Ich habe ihr erklärt, daß das völlig belanglos wäre und daß wir, wenn sie es wünsche, heiraten könnten. (...)
    Sie hat dann zu bedenken gegeben, daß die Ehe eine ernste Sache wäre. Ich habe "Nein" geantwortet."


    Das eine scheint für ihn ebenso "sinnhaft" oder bedeutsam zu sein wie das andere. Das ergibt ein interessantes Bild im Bezug auf die Bedeutung menschlicher Handlungsfreiheit, oder?


    So und nun erst einmal genug des "sinnvollen" Geschwafels. Ich verliere mich... :redface:


    Grüße,
    Michael

  • Zitat von "ChicoundHammer"

    Aber vielen geht es halt darum, Dinge auf ihren (oder einen gemeinschaftlichen) Level herabzuholen, als zu ihnen gleichsam hinaufzusteigen.


    Bei letzterem wünsche ich Euer Ehren viel Spaß! :rollen:

  • Hallo zusammen,


    Zitat von "Maja"

    Noch etwas zum Anfang: Die Aufzeichnungen des Ich-Erzählers setzen mit dem Tod der Mutter ein, als ob damit ein neuer Lebensabschnitt beginne.
    Seine Überlegungen in den ersten paar Sätzen, ob es heute oder gestern gewesen sei, erinnern an die Erfahrung, dass eimen in "grossen Momenten" manchmal etwas ganz Banales durch den Kopf geht.


    Es ist mir immer noch nicht einleuchtend, dass der Tod und im speziellen der Tod seiner Mutter für Meursault diese enorme Wichtigkeit hat, wie wir intuititv von Menschen in der westlichen Gesellschaft annehmen, dass er haben sollte.
    Wie weiter oben schon erwähnt, nennt er sie "Leiche", was ich alles andere als eine feinfühlige, von Emotionen bewegte Wortwahl nenne. Er betont, dass er sie nie besuchte, da ihm das ganze Procedere irgendwie doch zu stressig sei und das Kapitel zwei wird mit den Worten abgeschlossen: Ich habe gedacht, daß immerhin ein Sonntag herum war, daß Mama jetzt beerdigt war, daß ich wieder zur Arbeit gehen würde und daß sich eigentlich nichts geändert hatte. Und ich glaube, man unterstellt Meursault zu viel wenn man denkt, da sei sowas ganz, ganz Zerbrechliches und Weiches hinter all dieser ist-mir-irgendwie-egal-Haltung...


    Zitat von "kali"


    Was denkt ihr, warum, Meursault seine Mutter nicht nochmal sehen wollte?


    Auch wenn es seltsam ist, sich selbst zu zitieren, aber auch hier ist mir das immer noch unplausibel. :redface:
    Ich meine, betrachten wir uns, wie im ersten Kapitel Menschen beschrieben werden. Sie sind absolut reduziert auf äußerliche Erscheinungen. Bsp.weise stellt Meursault fest, dass Pérez hinkt, dass seine Nase mit Mitessern gespickt war usf. Da ist keinerlei Überlegung, was in diesem Mann wohl vor sich gehen muss oder was seine Mutter mit ihm verbunden haben muss. Da ist auch kein gedankliches Abtriften, in dem Sinn, dass er sich ganz nebensächlichen Kleinigkeiten zuwendet. Er beschreibt die Menschen wie seelenlose Materie oder als würde er ein Fahndungsfoto aufgeben. Worauf ich hinauswill: wenn er die Lebenden nicht mehr als lebend sieht, warum kann er sich dann nicht auch die Tote ansehen? :confused:


    Zitat von "riff-raff"


    Ich frage mich, ob der Held des Romans wirklich konsequent ist in seiner Gleichgültigkeit?


    Ist es tatsächlich Gleichgültigkeit oder ist es eben Entfremdung oder ganz was anderes? Ich glaube, dass es uns weiterhelfen würden, wenn wir über die Abgrenzung der Begriffe gegeneinander noch mal genauer sprechen würden...


    Bis dahin: liebe Grüße,
    -kali-

    Der Zufall ist unser Schicksal und das ist ein gutes Zeichen für das Unberechenbare.

  • Hallo zusammen,


    sehr viele interessante Gedanken auf einmal, die ich noch einmal überschlafen möchte.


    Zitat

    Ist es tatsächlich Gleichgültigkeit oder ist es eben Entfremdung oder ganz was anderes? Ich glaube, dass es uns weiterhelfen würden, wenn wir über die Abgrenzung der Begriffe gegeneinander noch mal genauer sprechen würden...


    Ich bin voller Zuversicht, dass uns darüber vor allem der "Sisyphos" Klarheit verschaffen kann. Denn letztlich ist es nicht unwichtig, wie Camus selbst die Begriffe "Fremdheit" und "Absurdität" begriffen hat.
    Vielleicht ist Majas Vorschlag den Fremden nach dem "Mythos des Sisyphos" noch einmal zu lesen gar nicht verkehrt.


    Liebe Grüße,
    Michael


    PS.: Ich glaube, wie schon irgendwo einmal gesagt, dass Camus beide Werke ursprünglich zusammen veröffentlicht haben wollte.

  • zur Gleichgültigkeit:


    Als wir den Roman gelesen haben, hatten wir dazu noch zwei Auszüge aus dem "Mythos des Sisyphos" - den Mythos selbst und "Das Klima der Absurdität". In der Diskussion haben wir dann festgestellt, dass Meursault nicht im üblichen SInne des Wortes "gleichgültig" ist - Camus nimmt eine Umdeutung der Gleichgültigkeit (frz l'indifference) vor - sondern ihm ist alles "gleich gültig". Was denkt ihr dazu? Ich fand es spannend, unter diesem Aspekt darauf zu achten, wie Meursault seine Umwelt beschreibt: Ich selbst lege den Schwepunkt immer auf die Menschen um mich herum - Meursault beschreibt alles mögliche, die Sonne, das Meer, die Natur, die Straße... vielleicht ist es ihm wirklich mehr oder minder gleich gültig? D. h. er hat/entwickelt eine Offenheit für die Welt um ihn herum.


    Herzliche Grüße
    Nightfever

  • Hallo zusammen!


    Zitat von "Nightfever"

    In der Diskussion haben wir dann festgestellt, dass Meursault nicht im üblichen SInne des Wortes "gleichgültig" ist - Camus nimmt eine Umdeutung der Gleichgültigkeit (frz l'indifference) vor - sondern ihm ist alles "gleich gültig". [...] Meursault beschreibt alles mögliche, die Sonne, das Meer, die Natur, die Straße... vielleicht ist es ihm wirklich mehr oder minder gleich gültig? D. h. er hat/entwickelt eine Offenheit für die Welt um ihn herum.


    Das mit der Umdeutung von "gleichgültig" zu "gleich gültig" finde ich einen echt genialen Gedanken. - Auf verquere Art gefällt mir diese distanzierte Beobacherhaltung, die Meursault seiner Welt entgegenbringt; er zieht keine voreiligen Schlüsse, fällt keine überstürzten Urteile, was sehr erfreulich ist wie ich finde. Wie z.B. im Falle des alten Salamano, der ständig über seinen räudigen Hund stänkert und ihn ausschimpft:


    Céleste sagt immer, "Es ist ein Jammer", aber im Grunde kann es niemand wissen.


    Im Grunde kann es wirklich niemand wissen - als ihm der Hund abhanden kommt, vermisst der Alte ihn jedenfalls. Auf seine Art scheint er also glücklich mit ihm gewesen zu sein...


    Liebe Grüsse


    riff-raff

  • Ich wünsche allen


    ein Frohes Weihnachtsfest und ein gutes Neues Jahr!


    Vorerst muss ich mich hier ausklinken, bis zum 10.01.05 bin ich ohne internet-Anschluss - vielleicht schaffe ich im neuen Jahr wieder den Einstieg... auf jeden Fall freuen mich die vielen Gedankengänge, die ich jetzt auch weiterverfolgen möchte, die Lektüre ist eingepackt.


    Liebe Grüsse,

  • Hallo zusammen,
    hallo Nightfever!


    Zitat von "Nightfever"

    In der Diskussion haben wir dann festgestellt, dass Meursault nicht im üblichen SInne des Wortes "gleichgültig" ist - Camus nimmt eine Umdeutung der Gleichgültigkeit (frz l'indifference) vor - sondern ihm ist alles "gleich gültig". Was denkt ihr dazu?


    Das bringt die Sache schön auf den Punkt. Sehr schöner Gedanke.
    Etwas ähnliches hatte ich im Kopf, als ich davon sprach, jede Handlungsmöglichkeit, ob die eine oder die andere, wäre für Meursault "gleich bedeutend" oder im Umkehrschluss "gleich unbedeutend".


    Zitat

    Für Meursault scheinen beide Optionen, so oder anders zu handeln, gleichbedeutend oder keine von beiden bedeutender als eine andere.


    Wichtig finde ich, dass die Betrachtung ohne gesellschaftsmoralische Einordnung geschieht. Meursault ist eine Handlung nicht bedeutender, weil sie so von ihm "erwartet" werden könnte. Weil man von ihm erwartet auf eine bestimmte Art Trauer zu zeigen, heißt das nicht, dass diese Art sich zu verhalten, vorzuziehen sei.


    Interessant fand ich folgenden Gedanken von riff-raff:


    Zitat

    Für Einen, dem gesellschaftliche Normen belanglos erscheinen und dem der Tod der eigenen Mutter kalt lässt ist es nur konsequent, wenn er, anstatt die Fassade des trauernden Sohnes aufrecht zu erhalten, bereits am Tage nach deren Beerdigung baden und sich amüsieren geht. Nicht konsequent ist es aber, dass er dennoch nicht darauf verzichtet einen schwarzen Schlips und eine Trauerbinde zu tragen (die er sich zudem für diesen Zweck extra noch von einem Freund ausborgen muss...).


    Mir fiel dazu eine Stelle ein, die ich in Camus´ Carnets gelesen habe:


    "Der junge Bursche, der zu so viel Hoffnungen berechtigte und jetzt in seinem Büro arbeitet. Sonst tut er nichts, kommt nach Hause, legt sich hin und wartet rauchend, bis es Zeit ist, zu Abend zu essen, legt sich dann wieder hin und schläft bis zum nächsten Morgen. Sonntags steht er sehr spät auf und stellt sich ans Fenster, um den Regen oder die Sonne, die Vorübergehenden oder das Schweigen zu betrachten. So treibt er es das ganze Jahr hindurch. Er wartet. Er wartet auf das Sterben. Wozu die Hoffnung, wenn doch ohnehin..."
    (Fragment zu "La Mort heureuse". Camus verwendet es auch im Fremden.)


    "Mechanisches Leben", ich glaube, Camus hat es selbst einmal so bezeichnet.
    In diesem Sinne verstehe ich auch Meursaults Leben und Handeln zu Beginn des Fremden. Alltagsroutine: Seine Büroarbeit, seine "Freizeit", Rhythmus des Alltäglichen. Der Tod ist es, der Meursault aus diesem Trott bringt. Seine Mutter stirbt. Er fährt zu ihrer Beerdigung. Ich glaube, an Stellen, da er sich eine schwarze Kravatte ausleiht und sich umbindet folgt er einem immer noch "gesellschaftlich vorgezeichneten" Lebensrhythmus, in dem alles so zu sein hat. Zwei Tage Urlaub für den Tod seiner Mutter, dann wieder Bürojob, mit der Hoffnung auf was?
    Der Beginn des Romans, die Ereignisse um die Beerdigung der Mutter herum, scheinen mir der Anlass für ein Gefühl von Absurdität von diesem mechanischen Leben. Vielleicht das leichte aufmerkende "Warum".


    Warum sollte es mir peinlich sein, wenn ich meine tote Mutter, ihre Leiche, nicht sehen will?
    Warum sollte ich eine Frau nicht heiraten, wenn sie es möchte, auch wenn ich mir des Gefühls der Liebe zu ihr nicht sicher bin? Andererseits, warum sollte ich sie heiraten?


    Zitat von "riff-raff"

    Inkonsequent hingegen, wenn er auf den Vorschlag, in ein Bordell zu gehen, mit der Begründung ablehnt, dass er das nicht mag oder sich weigert die Polizei zu holen, weil er diese ebenfalls nicht mag.


    Warum sollte er in ein Bordell gehen, wenn er es nicht mag? Warum sollte er nicht gehen?
    Oder warum sollte er die Polizei holen? Oder nicht?


    Das sind Fragen, die sich mindestens mir hier stellten. Immer die Frage nach dem Entweder - Oder? Was ist "richtig", was sinvoll, was logisch, was konsequent?


    Zurück zum Ausgangspunkt: Ist beides "gleich gültig"? Und wenn beides gleich gültig ist, was dann? Ich glaube, auch wenn diese Fragen von Meursault zu Beginn nicht offen gestellt werden, das keimende Gefühl darunter ist nach dem Ereignis um das Sterben der Mutter angelegt.


    So weit...


    Liebe Grüße,
    Michael


    PS: Frohes Fest und einen guten Rutsch, Carina. :winken:

  • Hallo ihr!


    Allen ein schönes, vor allem ruhiges Weihnachtsfest und einen guten Rutsch ins neue Jahr... :blume:


    Ich freue mich auf die weiterhin anregenden Dispute.
    Bis dahin liebe Grüße,


    Michael :winken: