Dezember 2004:Albert Camus - Der Fremde / Der Mythos ..

  • Liebe Leute,


    auch ich möchte euch ein Weihnachtsfest wünschen, wie auch immer ihr es mögt. :nikolaus:


    Ich bin über die Feiertage von der Online-Zivilisation abgeschnitten (was ich eigentlich gar nicht so schlecht finde); vor Neujahr werden wir uns aber definitiv noch mal wiederlesen...


    Lasst es euch gutgehen & esst bis der Arzt kommt! :smile:


    Grüße, rennt mir mit der Diskussion nicht so weit weg und bis dann :winken:
    -kali-

    Der Zufall ist unser Schicksal und das ist ein gutes Zeichen für das Unberechenbare.

  • Hallo ihr Lieben!


    Hoffe, ihr habt die Weihnachtsfeiertage gut über die Runden gebracht :winken: ...


    Um nochmals auf die Umdeutung von „gleichgültig“ zu „gleich gültig“ zurückzukommen... Wie lebt es sich eigentlich damit, wenn einem alles „gleich gültig“ erscheint? Wie kann man sich in einem solchen Falle je zu einer Entscheidung durchringen? Wenn ich mich vor die Wahl gestellt sehe: A oder B? und für beide Alternativen sprechen genauso viele Argumente dafür wie dagegen, beide Wahlmöglichkeiten folglich „gleich gültig“ sind – wird es da nicht wieder „gleichgültig“, ob ich mich für A oder B entscheide? Extreme neigen ja bekanntlich dazu sich zu berühren...


    Die Entscheidung kann ob der Gleichwertigkeit von A und B geradezu verunmöglicht werden. Dann ist man wie der kauzige Mr. Bartleboom in Alessandro Bariccos Buch „Oceano Mare“, der sich ausserstande sieht, sich zwischen zwei Frauen, einer Pianistin oder einer Malerin, zu entscheiden:


    Am nächsten Morgen nahm er die Kutsche nach Hollenberg: Er hatte sich für die Pianistin entschieden. Sie ist begehrenswerter, dachte er. Beim zweiundzwanzigsten Kilometer angekommen, änderte er seine Meinung: genau gesagt in Bazel, wo er ausstieg und übernachtete. Am frühen Morgen machte er sich mit der Kutsche auf den Weg nach Bad Hollen – in seinem Innersten bereits verlobt mit Anna Ancher, der Malerin –, um dann in Suzer, einem zwei Kilometer von Pozel entfernten kleinen Dorf, anzuhalten, wo er sich definitiv darüber klar wurde, dass er, charakterlich gesprochen, besser zu Elisabeth, der Pianistin, passte. In den darauffolgenden Tagen brachten ihn seine wankelmütigen Ortswechsel erneut nach Alzen, dann nach Tozer, von dort nach Balzen, anschliessend zurück bis nach Fazel und von dort der Reihe nach nach Palzen, Rulzen, Alzen (zum drittenmal) und Colzen. Bei den Leuten der Gegend war die Überzeugung herangereift, er sei ein Inspektor irgendeines Ministeriums. [...]


    Oder man entscheidet sich sowohl für A als auch für B... Diese Variante scheint die „seltsame kleine Frau“ zu bevorzugen, die sich in Kapitel V (I. Teil) des „Fremden“ zu Meursault an den Tisch setzt als dieser bei Céleste zu Abend isst:


    Sie hat ihre Jacke abgelegt, hat sich hingesetzt und fieberhaft die Speisekarte studiert. Sie hat Céleste gerufen und mit zugleich präziser und hastiger Stimme alle Gänge auf einmal bestellt. [...] Während sie auf den nächsten Gang wartete, hat sie [...] eine Zeitschrift mit dem Rundfunkprogramm der Woche aus ihrer Tasche gezogen. Mit grosser Sorgfalt hat sie nacheinander fast alle Sendungen angekreuzt.


    Die Angst vor Fehlentscheidungen oder weil einem alle Wahloptionen gleich verführerisch erscheinen, führt in diesem Falle dazu, dass man kritiklos einfach alles wählt...


    Oder – noch eine Möglichkeit – man macht es wie der Hund von dem Heinrich von Kleist erzählt... Leider finde ich die betreffende Stelle nicht mehr, kann sein, dass es sich um einen Auszug aus einem seiner Briefe handelt... Jedenfalls scheint Kleist für mehrere Tage in einer Pension logiert und sich dabei mit dem Schäferhund der Wirtin angefreundet zu haben. Als er eines Morgens zu einem Spaziergang aufbrechen will, sieht er den Hund faul im Hof herumliegen und ruft ihn zu sich, damit dieser ihn begleite. Voller Vorfreude springt der Hund in die Höhe. In demselben Augenblick lehnt sich die Wirtin aus dem Küchenfenster und ruft ebenfalls nach dem Hund. Was nun?... Das arme Tier blickt unentschlossen zwischen Kleist und der Besitzerin hin und her, setzt seine Schritte mal in die eine, dann wieder in die andere Richtung. Eine Weile lang setzt sich dieses Zaudern fort, dann legt sich das Tier – auf halber Strecke zwischen Kleist und Wirtin... – einfach hin und schläft ein.


    Unfähig sich zwischen zwei Alternativen zu entscheiden, weil sowohl die Aussicht auf einen Spaziergang mit Kleist als auch das Pflichtgefühl gegenüber der Besitzerin sich als „gleich gültig“ erweisen, entscheidet sich der Hund für ein neutrales Drittes und legt sich schlafen.
    In der Ethologie nennt man ein solches Benehmen „Übersprungverhalten“: „In Konfliktsituationen wird bisweilen ein Verhalten gezeigt, das für keine der beiden miteinander in Konflikt stehenden Tendenzen relevant zu sein scheint.“ (Thomas Städtler: Lexikon der Psychologie) – Was das Alles mit Camus und dem „Fremden“ zu tun hat, weiss ich freilich auch nicht. Scheint, ich bin wiedermal vom Thema abgekommen... :smile:


    Liebe Grüsse


    riff-raff

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  • Hallo werte Lesegemeinde!


    riff-raff hat geschrieben


    Zitat

    Die Entscheidung kann ob der Gleichwertigkeit von A und B geradezu verunmöglicht werden.


    Interessanter Aspekt das Wort "Gleichgültigkeit" näher zu hinterfragen. Da kommen mir meine alten BWL-Vorlesungen zur Entscheidungstheorie wieder ins Gedächtnis:


    Der Mensch ist bestrebt seine individuelle Nutzenfunktion zu maximieren. Jedes Gut (nicht nur wirtschaftlich betrachtet sondern auch soft facts wie Freizeit, Unterhaltung, Kultur) ist mit einem positiven Nutzwert verbunden, deren Grenznutzen allerdings abnehmend ist.


    Beispiel: Ein Bier hat immer einen positiven Nutzen :breitgrins: wobei der Nutzen des zehnten Bieres weniger stark ausgeprägt ist, als der des ersten Bieres (Durst ist ja schon gelöscht). Insofern nimmt der Grenznutzen des Gutes Bier ab. :rollen: so die Worte meines ollen Profs.


    Insofern ist die individuelle Nutzenfunktion des Monsiezr Meursault vielleicht nur abweichend von der allgemeinen Norm: Geld oder Mitmenschlichkeit sind weniger stark mit einem Nutzen hinterlegt als in der Normalveteilung der Bevölkerung.


    Anderseits unterstellt die BWL , daß jeder Mensch ein Nutzenoptimierer ist und sich entsprechend verhält. Man spricht von "homo oeconomicus". Ob Meursault in dieses Schmema passt vermag ich momentan nicht zu sagen.


    Ein anderer Aspekt wäre, anstatt Gleichgültig oder "gleich gültig" andere passende Ausdrücke für sein Verhalten zu suchen. Mir ist da spontan der Spruch "Ich bin diesbezüglich leidenschaftslos" in den Sinn gekommen. Ist Meursault am Ende nur Leidenschaftslos? Läßt er keine Sachen soweit an sich heran, daß sich Leidenschaft bei ihm entzünden kann? Der Homo oeconomicus muß per Definition ebenfalls leidenschaftlos sein. Insofern ist Meursault vielliecht am Ende doch ein solcher?


    Gruß


    Sovereign

  • Meursault entscheidet, wenn ich mich richtig erinnere, einfach nach bestimmten Kriterien, v.a. Ehrlichkeit - darauf legt er viel Wert - und was er will. Er genießt ja auch gerne - Baden, Wein trinken etc.

  • Hallo zusammen,


    ich hoffe, dass alle ein angenehmes Fest hatten. :smile:


    Wie weit seit ihr denn mittlerweile im Fremden? Haben alle den ersten Teil gelesen?
    Zwei Stichpunkte fände ich u.a. noch ganz spannend zu diskutieren und es würde mich interessieren, wie ihr sie bisher einordnet:


    - die Schussszene des ersten Teils (Wendepunkt des Romans)
    - die Bedeutung des Lichts (der Sonne)


    Liebe Grüße,
    Michael

  • Hallo zusammen,


    Alles Gute im neuen Jahr! :trinken:


    Auch ich gehe nun eine Weile offline und hoffe, dass Ihr mich nicht uneinholbar hinter Euch lässt!
    Danke, Michael, für Deine beiden Denkanstösse, ich werde darauf achten, wenn ich am 9. im Zug im Fremden weiterlese.


    Wollen wir langsam mal einen Startpunkt für den Sisyphos ins Auge fassen? Anfang Februar? Oder früher?


    Eine schöne Woche wünscht
    Maja

  • Hallo zusammen!


    Einige Gedanken zum Schluss des ersten Teils...


    Der erste Schuss, den Meursault auf den Araber abgibt, scheint mir ein reiner Reflex zu sein, der Mord folglich eine Verkettung unglücklicher Umstände: Das plötzliche Aufblitzen des Messers in der Sonne, die momentane Blindheit durch den in die Augen fliessenden Schweissfilm, die instinktive Verkrampfung des Körpers und der um den Revolver geschmiegten Finger... – Interessanter scheint mir die Frage zu sein, die später auch das Gericht beschäftigen wird, nämlich warum Meursault noch vier weitere Schüsse auf sein Opfer abfeuert. Der Staatsanwalt irrt sich, wenn er behauptet, dass sei gewesen „um sicherzugehen, dass die Arbeit ordentlich erledigt war.“ Die „Arbeit“ war nämlich bereits „ordentlich erledigt“, wie aus Meursaults eigenen Worten zu entnehmen ist, wenn er schreibt: „Da habe ich noch viermals auf einen leblosen Körper geschossen.“ Der Araber war folglich bereits nach dem ersten Schuss tot und Meursault wusste das. Warum also vier weitere, unnötige Schüsse? Einen Anhaltspunkt könnten wieder Meursaults eigene Worte liefern... Ist es nicht seltsam, dass er schreibt, er habe „noch viermals auf einen leblosen Körper geschossen“? Sollte es nicht vielmehr heissen, „auf den leblosen Körper“? Die Benutzung des unbestimmten Artikels scheint mir in diesem Fall bezeichnend zu sein. Für jemanden, der dermassen im materiellen Diesseits verwurzelt ist wie Meursault muss ein toter Mensch nur noch als eine leblose Masse Fleisch erscheinen, nutzlose Materie mehr nicht. Genauso gut hätte Meursault seine weiteren Schüsse auf ein totes Stück Holz abfeuern können... Es spielt keine Rolle, wie oft man auf einen Menschen schiesst, wenn er erst mal tot ist; erschiessen kann man ihn schliesslich nur einmal... Weiterschiessen oder nicht muss also in Meursaults Augen belanglos erscheinen. Als Toter interessiert ihn ein Mensch einfach nicht mehr. Das sind auch genau die Gedanken, die er später im Gefängnis seiner Geliebten Marie gegenüber hegen wird, von der er lange nichts mehr gehört hat:


    "Mir ist auch der Gedanke gekommen, dass sie womöglich krank oder tot war. [...] Von dem Moment an wäre mir die Erinnerung an Marie übrigens gleichgültig gewesen. Als Tote interessiert sie mich nicht mehr."


    So ganz befriedigt mich diese These aber auch wieder nicht... Vor allem, wenn ich mir den Satz ansehe, mit dem der erste Teil des Buches endet: „Und es war wie vier kurze Schläge, mit denen ich an das Tor des Unglücks hämmerte". Normalerweise hämmert man ja an eine Tür um sich Einlass zu verschaffen. Hat Meursault mit diesen vier Schüssen das Unglück also bewusst und überlegt heraufbeschworen? Da steckt für mich irgendwas Trotziges oder Selbstzerstörerisches in diesem letzten Satz. Als habe Meursault bewusst jegliche rettende Brücke hinter sich abreissen wollen um sich endgültig von aller gesellschaftlicher Verbundenheit und Norm zu distanzieren. Eine endgültige und absichtsvolle Entfremdung.


    Liebe Grüsse


    riff-raff

  • Hallo zusammen,
    hallo riff-raff,


    danke für deine anregenden Gedanken.

    Zitat

    Es spielt keine Rolle, wie oft man auf einen Menschen schiesst, wenn er erst mal tot ist; erschiessen kann man ihn schliesslich nur einmal... Weiterschiessen oder nicht muss also in Meursaults Augen belanglos erscheinen.


    Aus Meursaults Sicht ist das konsequent, das finde ich auch. Aber ähnlich wie nach der Beerdigung seiner Mutter, wird sich auch hier vor Gericht herausstellen, dass er damit gesellschaftliche Normen unberücksichtigt lässt. In beiden Fällen beobachtet "man" ihn genau, wägt sein Handeln um das Geschehen herum ab und interpretiert es. Und in diesem Sinne werden ihm auch die vier Schüsse auf den Leichnam als besondere Unmenschlichkeit ausgelegt werden. (Die Szene mit dem Richter kommt ja schon fast einer Bekehrungsszene gleich.) Für Meursault ist es wahrscheinlich wirklich keine Frage, wie oft er auf eine Leiche schießt. Weil er sich diesen, von ihm erwarteten "Handlungsnormen" (ich nenne das hier einfach mal so) nicht zuordnen kann oder auch will, muss er letztlich zu den "Anderen" in Widerstreit geraten. Vor einem Gericht muss er letztlich verurteilt werden. Vielleicht ist ihm im Sinne dieser Erkenntnis klargeworden, dass er an die Tür des Unglücks pocht.


    Interessant finde ich an der Schlussszene des ersten Teils, dass Meursaults hier die Gleich-gültigkeit einen Moment zu verlieren scheint.
    Warum schießt er? Warum dreht er sich nicht gleich-gültig um und geht wieder?
    Die Sonne schreit ihm vom Himmel herab ins Gesicht. Die Sonne, immer wieder die Sonne! Er schwitzt und sein eigenen Schweiß legt sich wie ein verschleiernder Film über seinen Blick. Und selbst wenn Meursault nicht direkt ins Licht schaut. Durch die Reflexion des Messers trifft ihn wieder ein Strahl von ihr in die Augen. Dieses Bild des Lichtes, von Hitze, Glut und Sonne lassen Meursault das ganze Buch über nicht los.


    Ist die Sonne eine Art Unerbittlichkeit des Lebens, die einen letztlich nicht loslässt, manchmal angenehm wärmt, ein anderes Mal zu versengen droht? In ihrer Wirkung steht die Sonne für etwas, dass man nicht ändern oder verhindern kann. Sie ist letztlich nicht abwendbar. Meursault muss sie ertragen. In dem Moment, wo er extrem unter dieser Sonne leidet, da er sie fast unerträglich findet, schießt er auf den Araber, schießt er viellfach auf die Leiche. Und im Folgenden wird er immer wieder sagen: Die Sonne wäre die eigentliche Ursache seiner Tat. Und wohin führt dieser Gedanke letztlich. Ich bin mir da noch nicht ganz im Klaren...


    LG,
    Michael :smile:


    PS.: Sind wir in den nächsten Tagen wieder vollzählig?

  • Hallo!?


    Ich habe den Fremden jetzt beendet. Wie sieht es den bei euch aus?


    Liebe Grüße,
    Michael

  • Hallo zusammen!


    Zitat von "Michael"

    PS.: Sind wir in den nächsten Tagen wieder vollzählig?


    Mein Beitrag zur Vollzähligkeit: ich bin jedenfalls wieder da!


    Zitat von "Michael"

    Die Sonne, immer wieder die Sonne!


    Das bringt es auf den Punkt, was ich auch sagen wollte. Die Sonne, und zwar, wie Du sagst, manchmal angenehm wärmend und manchmal versengend, scheint in Camus' Werk von zentraler Bedeutung zu sein. Die Junius-Einführung zu Camus beginnt jedenfalls mit etlichen Seiten zum Thema Sonne und Licht. (Doch um dieses Thema auszuloten, müssten wir wohl mal ein Camus-Sonne-Projekt starten...).


    Was mir bei den Schüssen aufgefallen ist: Der eigentliche Scharnierpunkt des Ganzen befindet sich zwischen dem tödlichen und den 4 weiteren Schüssen. Nach dem ersten Schuss wird ihm bewusst, dass nun nichts mehr ist wie vorher, dass sein sorgloses In-den-Tag-hinein-Leben zu Ende ist. Dann schiesst er noch viermal.
    Interessant finde ich die Verbindung zwischen dem dritt- und dem zweitletzten Satz:

    Zitat

    J'ai compris que j'avais détruit l'équilibre du jour, le silence exceptionnel d'une plage où j'avais été heureux. Alors, j'ai tiré encore quatre fois....

    Wie ist das in Eurer Übersetzung wiedergegeben? "Alors" stellt für mich eine engere Verbindung her als nur ein zeitliches Nacheinander, es hat die Nuance eines "deshalb".


    Zitat von "riff-raff"

    Ist es nicht seltsam, dass er schreibt, er habe „noch viermals auf einen leblosen Körper geschossen“?


    Meine Hypothese: Hier kam der Tod, den er vorher verdrängt hatte, in sein Bewusstsein. (Damit auch das Bewusstsein seiner eigenen Sterblichkeit, der Endlichkeit und letzlich Sinnlosigkeit des Daseins.) Deshalb ist es für ihn nicht mehr der leblose Körper von vorher, sondern viel allgemeiner "etwas Totes", worauf er schiesst.


    Herzliche Grüsse,
    Maja

  • Zitat von "Maja"


    Die Sonne, und zwar, wie Du sagst, manchmal angenehm wärmend und manchmal versengend, scheint in Camus' Werk von zentraler Bedeutung zu sein.


    Ob sie vielleicht für Bewußtsein und Erkenntnis steht ?


    :rollen:

  • Hallo,


    Zitat von "Bulkington"

    Ob sie vielleicht für Bewußtsein und Erkenntnis steht ?


    :rollen:


    Das ist zwar logisch, weil die Sonne in der Literatur auch an anderen Stellen diese symbolische Bedeutung hat. Doch für jemanden, der in Algerien aufgewachsen ist, hat sie, denke ich, zusätzlich eine viel greifbarere Bedeutung. Denn die Schmerzhaftigkeit und Unerbittlichkeit, die im Fremden oft diesbezüglich zum Ausdruck kommt ist m.M.n. mit dem Symbol Sonne allein noch nicht erschöpfend erklärt.


    :sonne: Grüße,
    Michael

  • Hallo,


    Zitat von "Maja"

    Interessant finde ich die Verbindung zwischen dem dritt- und dem zweitletzten Satz:

    Wie ist das in Eurer Übersetzung wiedergegeben? "Alors" stellt für mich eine engere Verbindung her als nur ein zeitliches Nacheinander, es hat die Nuance eines "deshalb".


    Aumüller übersetzt die Stelle mit:
    "Mir wurde klar, daß ich das Gleichgewicht des Tages zerstört hatte, die außergewöhnliche Stille eines Strandes, an dem ich glücklich gewesen war. Da habe ich noch viermal auf einen leblosen Körper geschossen, in den die Kugeln eindrangen, ohne daß man es ihm ansah."


    In der Goyert / Brenner-Übersetzung heißt es an der Stelle:
    "(...)Dann schoß ich noch viermal auf einen leblosen Körper, in den die Kugeln eindrangen, ohne daß man es sah."


    Der Satz vorher ließ mich noch mehr aufhorchen:
    "Ich habe den Schweiß und die Sonne abgeschüttelt."
    Die Erkenntnis die hier stattfindet ("Mir wurde klar...") erscheint wie eine Befreiung. Vielleicht in dem Sinne, dass er sich vom Leben, dass er bisher geführt hatte befreit, vielleicht sogar, dass er sich vom Leben selbst befreit - denn er tötet ja - und gleichzeitig den Tod verhöhnt, in dem er vier Mal auf "etwas Totes" schießt? Und er befreit sich im weiteren Sinne ja durchaus auch von seinem eigenen Leben, nämlich in Konsequenz seiner Tat.


    LG,
    Michael

  • Hallo zusammen!
    Hallo Michael!


    Zitat von "Michael"

    Der Satz vorher ließ mich noch mehr aufhorchen:
    "Ich habe den Schweiß und die Sonne abgeschüttelt."
    Die Erkenntnis die hier stattfindet ("Mir wurde klar...") erscheint wie eine Befreiung. Vielleicht in dem Sinne, dass er sich vom Leben, dass er bisher geführt hatte befreit, vielleicht sogar, dass er sich vom Leben selbst befreit - denn er tötet ja - und gleichzeitig den Tod verhöhnt, in dem er vier Mal auf "etwas Totes" schießt? Und er befreit sich im weiteren Sinne ja durchaus auch von seinem eigenen Leben, nämlich in Konsequenz seiner Tat.


    Dein Gedankengang scheint mir einleuchtend und folgerichtig. Auch zeigen sich mir hier die Vorteile des gemeinsamen Lesens: Ich selbst hätte die Wichtigkeit des von dir zitierten Satzes wohl überlesen. Danke!


    Auch für deine Interpretationen zum Licht und der allgegenwärtigen Sonne (in einem vorhergehenden posting), bin ich sehr dankbar, da ich mir bisher keinen rechten Reim darauf machen konnte.



    Hallo Maja!

    Zitat von "Maja"

    Wie ist das in Eurer Übersetzung wiedergegeben? "Alors" stellt für mich eine engere Verbindung her als nur ein zeitliches Nacheinander, es hat die Nuance eines "deshalb".


    Wie Michael bereits gezeigt hat wird das "alors" in einer Übersetzung mit "dann" und in einer anderen mit "da" übersetzt. Die zweite Übersetzung scheint dem Original näher zu kommen, weil Camus hier - wie du richtig erkannt hast - eine kausale und nicht bloss temporale Verknüpfung der beiden Sätze angedeutet haben möchte. Zeigt sich wiedermal wie wichtig eine gute Übersetzung ist. Oft hat man ja nicht die Wahl zwischen zwei oder mehr Übersetzungen und muss sich mit dem zufrieden geben, was erhältlich ist. Schön, wenn man das Buch im Original lesen kann... ich beneide dich darum, Maja.


    Liebe Grüsse


    riff-raff

    Einmal editiert, zuletzt von ()

  • Hallo zusammen!
    Hallo Michael!


    Zitat von "Michael"

    Hallo!?


    Ich habe den Fremden jetzt beendet. Wie sieht es den bei euch aus?


    Liebe Grüße,
    Michael


    Bin ebenfalls seit mehreren Tagen durch mit dem Buch. Habe mir aber vorgenommen, den zweiten Teil noch einmal zu lesen.


    Gruss


    riff-raff

  • Hallo zusammen,


    langsam kommen wir wieder zusammen, was? :smile:


    Zitat von "riff-raff"

    Die zweite Übersetzung scheint dem Original näher zu kommen, weil Camus hier - wie du richtig erkannt hast - eine kausale und nicht bloss temporale Verknüpfung der beiden Sätze angedeutet haben möchte. Zeigt sich wiedermal wie wichtig eine gute Übersetzung ist.


    Leider ist die zweite angeführte Übersetzung die ältere. Die Aumüller-Übersetzung ist die aktuelle Neuübersetzung. Allerdings scheinen beide ihre Schwächen zu haben.
    Goyert / Brenner übersetzen auf der ersten Seite:


    L´asile de vieillards est à Marengo, à quatre-vingts kilomètres d´Alger.
    Das Altersheim liegt in Marengo, vierzig Kilometer von Algier entfernt.


    Das ist schon merkwürdig, oder? :zwinker:
    Vielleicht macht man es doch besser wie Maja.


    LG,
    Michael

  • Ich bin ja schon länger damit fertig.


    Morgen bekommen wir hoffentlich unsere Klausur über das Buch zurück. Dann fahre ich aber erst einmal wieder weg. Vermutlich fällt mir Ende nächster Woche noch mal ein Diskussionsbeitrag ein.


    Ist echt spannend, was hier so geschrieben wird!


    LG
    Nightfever

  • Hallo alle zusammen,


    Wollen wir noch das zweite Buch zusammen lesen? Wenn ja, ab wann?


    Ansonsten würde ich mich nochmal mit dem Fremden beschäftigen, es ist jetzt schon länger her, dass ich ihn abgeschlossen habe. Ich würde sonst auch nochmal den zweiten Teil lesen und diskutieren.


    Liebe Grüsse,

  • Hallo zusammen!


    Ich finde schon, dass es noch einige diskussionswürdige Punkte gerade zum zweiten Teil des Buches gäbe. Allerdings kann dies natürlich, und vielleicht sogar noch eingehender, unter Einbezug des "Sisyphos" geschehen. Mir wären beide Vorgehensweisen recht.


    Was meint ihr?


    LG,
    Michael

  • Hallo zusammen,

    Zitat von "Michael"

    Ich finde schon, dass es noch einige diskussionswürdige Punkte gerade zum zweiten Teil des Buches gäbe.


    Ich schliesse mich an, da doch der zweite Teil stärker mit dem Sisyphos zusammenhängt.
    Ich fände es interessant, wenn jeder, vielleicht zunächst mal gegliedert nach den einzelnen Teilen, seine Gedanken äussert. Die Schwerpunktthemen ergeben sich dann daraus.
    Meine erste Lektüre liegt auch schon ein paar Jahre (um nicht zu sagen: zwei Jahrzehnte :entsetzt: ) zurück. Diese Woche war ich durch Dante und den Alltag sehr abgelenkt, aber heute abend stehen zwei Stunden Zugfahrt an, so dass ich morgen etwas beisteuern kann!
    Liebe Grüsse,
    Maja