Liebe Leserin,
vor kurzem erst gelesen und gut in Erinnerung habe ich Walsers "Jakob von Gunten" aus dem Jahr 1909. Es geht um eine Knabenschule für künftiges Dienstpersonal sowie um eine sonderbar antihumanistisch anmutende Erziehungsphilosophie. Der Titelheld Jakob von Gunten (ein alter ego Walsers) zeigt auf, wie viel Größe im ganz Kleinen verborgen sein kann.
Hier einige Zitate:
„Wenig lernen! Immer wieder dasselbe! Nach und nach fange auch ich an zu begreifen, was für eine große Welt hinter diesen Worten verborgen ist. Etwas sich in der Tat fest, fest einprägen, für immer! Ich sehe ein, wie wichtig, vor allen Dingen, wie gut und wie würdig das ist. [...]
Uns Zöglinge will man bilden und formen, [...] nicht mit Wissenschaften voll pfropfen. Man erzieht uns, indem man uns zwingt, die Beschaffenheit unserer eigenen Seele und unseres eigenen Körpers genau kennen zu lernen. Man gibt uns deutlich zu verstehen, dass allein schon der Zwang und die Entbehrungen bilden, und dass in einer ganz einfachen, gleichsam dummen Übung mehr Segen und mehr wahrhaftige Kenntnisse enthalten sind, als im Erlernen von vielerlei Begriffen und Bedeutungen. Wir erfassen eines ums andere, und haben wir etwas erfasst, so besitzt es uns quasi. Nicht wir besitzen es, sondern im Gegenteil, was wir scheinbar zu unserem Besitz gemacht haben, herrscht dann über uns.
Uns prägt man ein, dass es von wohltuender Wirkung ist, sich an ein festes, sicheres Weniges anzupassen [...]. Man will uns vielleicht verdummen, jedenfalls will man uns klein machen.
[...] Wir dürfen nicht ausschweifen, nicht phantasieren, es ist uns verboten, weit zu blicken, und das stimmt uns zufrieden und macht uns für jede rasche Arbeit brauchbar. Die Welt kennen wir sehr schlecht, aber wir werden sie kennen lernen, denn wir werden dem Leben und seinen Stürmen ausgesetzt sein. Die Schule Benjamenta ist das Vorzimmer zu den Wohnräumen und Prunksälen des ausgedehnten Lebens. Hier lernen wir Respekt empfinden und so tun, wie diejenigen tun müssen, die an irgendetwas emporzublicken haben.
[...] Wir Zöglinge hoffen nichts, ja, es ist uns streng untersagt, Lebenshoffnungen in der Brust zu hegen [...]. Wer sich selbst sehr schätzt, ist vor Entmutigungen und Herabwürdigungen nie sicher, denn stets begegnet dem selbstbewussten Menschen etwas Bewusstseinsfeindliches. Und doch sind wir Schüler durchaus nicht ohne Würde, aber es ist eine sehr bewegungsfähige, kleine, bieg- und schmiegsame Würde. [...]“
Das klingt, obwohl es annähernd 100 Jahre alt ist, fast wie ein Beitrag aus der aktuellen Diskussion über Fragen der Kinder- und Jugenderziehung! Auch heute gibt es ultrakonservative Kräfte, die Erziehung und Schule als eine Art Dressurveranstaltung verstehen, an dessen Ende der funktionierende Mensch steht - sowohl als brauchbare Arbeitskraft als auch in Form des halbwegs ruhig gestellten Bürgers.
War Robert Walser seiner Zeit voraus? Oder hat er unbequeme Wahrheiten ausgesprochen, die damals niemand lesen und zur Kenntnis nehmen wollte? Beides würde jedenfalls erklären, warum dem „Jakob von Gunten“ nach seinem Erscheinen kein sehr großer Erfolg beschieden war und warum der Autor fortan zu einem Außenseiter abgestempelt war.
Es grüßt
Sir Thomas