Beiträge von Sir Thomas

    Ein kleiner McCarthy-"Appetizer":

    „Die Abendröte im Westen“
    , McCarthys elegischer und brutaler Abgesang auf die Mythen des „Wilden Westens“, ist ein mit Unmengen Blut gemaltes Panorama der menschlichen Wolfsnatur, ein permanenter Showdown mit Bergen von Leichen, eine Meditation über den allgegenwärtigen Tod und das sinnlose Sterben – kurz: eine morbide Vision vom Untergang jeglicher Zivilisation. Mit biblischer Wucht und in den düstersten Farben Hieronymus Boschs wird der menschenverachtende Raubzug einer Gruppe von Outlaws (und ihres psychopathischen Anführers) geschildert, die in den Jahren 1849/50 das texanisch-mexikanische Grenzgebiet auf der Suche nach ganz besonderen Trophäen durchkämmt: Indianerskalpe.


    Wegen der grandiosen und menschenfeindlichen Weite der geschilderten mexikanischen und texanischen Wüstenlandschaften wird „Die Abendröte im Westen“ gern mit „Moby Dick“ verglichen – einem Roman, in dem ebenfalls die bedrohliche Seite der Natur eine wesentliche Rolle, wenn nicht gar die Hauptrolle, spielt. Der Vergleich ist gelungen, doch es gibt noch weitere Parallelen zwischen den beiden Monumentalwerken der US-amerikanischen Romanliteratur: Das Motiv der Jagd (auf Wale und auf menschliche Skalpe) und des dämonischen Kapitäns bzw. Anführers.


    Nichts für schwache Nerven!


    Es grüßt


    Sir Thomas


    Und ich auf die, dass ich bei Dickens (ähnlich wie bei Raabe) den Erstling (The Pickwick Papers bzw. Die Chronik der Sperlingsgasse) ganz amüsant finde und als jeweiligen Einstieg in den Autor durchaus geeignet - dann aber eigentlich erst das Spätwerk wieder so richtig mag. Dickens ist in seinen berühmten Werken wie Oliver Twist oder David Copperfield für meinen Geschmack unterträglich sentimental. Das Alterswerk hingegen besticht sprachlich wie thematisch bei beiden, finde ich.


    Zu welcher Phase rechnest Du "Bleak House", nach meinem Empfinden Dickens bestes Werk?


    Viele Grüße


    Sir Thomas

    Beinahe vergessen habe ich meine größte "Leseleistung" 2007. Zum ersten Mal habe ich 1.600 Seiten "Krieg und Frieden" durchgehalten. Das klingt mühsam, war es aber nicht! Tolstois wunderschöne Sprache, die herrlichen Figuren und nicht zuletzt seine philosophischen Einlassungen zum Lauf der Weltgeschichte machten die Lektüre zu einem Vergnügen, dass ich so nicht erwartet hatte.


    Es lohnt sich, mehr als nur die "Schlüsselszenen" der Klassiker zu kennen.


    Viele Grüße


    Sir Thomas

    Meine größte Entdeckung 2007 war Cormac McCarthy. Gelesen habe ich "Draußen im Dunkeln" und "Die Abendröte im Westen". Sehr düster, verstörend und beunruhigend. Wiederentdeckt (nach vielen vielen Jahren) habe ich Robert Walser ("Der Gehülfe" und "Jakob von Gunten") und Victor Hugo ("Der Glöckner von Notre-Dame").


    Mit besten Grüßen und Wünschen für das neue Jahr


    Sir Thomas

    Liebe Leserin,


    zunächst einmal vielen Dank für Deine Hinweise zu Melville, Conrad und Lowry. "Unter dem Vulkan" hatte ich durch ein wenig Geklicke bereits entdeckt - klingt interessant.


    Noch einmal zu Hemingway. Ich möchte Dich nicht ärgern (vielleicht eher ein wenig unterstützen) durch einen Ausschnitt aus "Tod am Nachmittag". Im Kapitel 19 philosophiert Hemingway über das Töten des Stiers - den „krönenden“ Abschluss seines rituellen Totentanzes mit den Banderilleros, Picadores und Matadores.


    „Ein großer Töter muss gern töten; wenn er nicht spürt, dass dies das Größte ist, was er tun kann, wenn er sich nicht dessen Würde bewusst ist und fühlt, dass es seine eigene Belohnung in sich birgt, wird er der Selbstverleugnung unfähig sein, die beim richtigen Töten erforderlich ist. Der wahrhaft große Töter muss ein Gefühl für Ehre haben und ein Gefühl für Ruhm [...] er muss den Augenblick des Tötens als spirituelles Hochgefühl empfinden. Sauber zu töten und auf eine Art und Weise, die einem ein ästhetisches Vergnügen und ein Gefühl von Stolz gibt, war immer eine der stärksten Genüsse für einen Teil der menschlichen Rasse. [...] Eine der größten Freuden dabei [...] ist das Gefühl der Rebellion gegen den Tod, das man erlebt, wenn man ihn verursacht. Wenn man einmal die Herrschaft des Todes bejaht hat, ist „Du sollst nicht töten“ ein leicht und natürlich zu befolgendes Gebot. Aber wenn ein Mensch sich noch in Rebellion gegen den Tod befindet, macht es ihm Vergnügen, sich eines der gottähnlichen Attribute anzueignen: den Tod zu verursachen. Dies ist eines der aller stärksten Gefühle in jenen Menschen, die Genuss am Töten haben. Solche Dinge werden aus Stolz getan [...] Stolz macht den Stierkampf, und wahrer Genuss am Töten macht den großen Matador.“


    Ich gebe zu: Das ist schon harter Stoff!


    @ uis: Du schreibst, dass Hemingway über Schmerzgrenzen ging. Meine persönliche Grenze ist mit den eben zitierten Betrachtungen über das Töten erreicht ...


    Ich wünsche Euch einen guten Rutsch und weitere spannende Diskussionen im nächsten Jahr!


    Sir Thomas


    Melville ist mehr als nur der Schöpfer dieses wahrhaft homerischen Meisterwerkes.
    Hoffentlich hast du auch alles andere gelesen, was er geschrieben hat. Wenn nicht, dann lies und staune.


    Dass du noch nichts von Malcolm Lowry gelesen hast, darum beneide ich dich fast, denn es steht dir ein enormes Leseglück bevor.


    Liebe Leserin,


    welche weiteren Melville-Empfehlungen kannst Du aussprechen? Und womit steige ich idealerweise in die Lowry-Welt ein? Ich bin dankbar für Deine Tipps!


    Meinen "Lord Jim" kann ich nicht mehr auffinden, ist wahrscheinlich ausgeliehen und nicht zurückgebracht. Und was meine Einordnung Hemingways anbelangt, so halte ich ihn mitnichten für den Größten seiner Zunft, aber doch für lesenswert. Ich mag einfach von Zeit zu Zeit die lakonische "hard-boiled"-Sprache und den "tough style" bestimmter US-Autoren (wie Faulkner, Hammett, Chandler oder C. McCarthy).


    Vielen Dank für Deine Neujahrsgrüße, denen ich mich natürlich anschließe und Dir ebenfalls erlesene Zeiten wünsche.


    Bis demnächst, ich freu mich auf Deine Hinweise zu Melville und Lowry!


    Sir Thomas


    Für mich zählt Hemingway zu den allergrößten Irrtümern der Literaturgeschichte. Seine Bücher sind ( Der alte Mann und das Meer, Inseln im Strom etc.) larmoyant, lächerlich pathetisch, blutrünstig, armselig männlich, einfach grauenvoll.
    Wer wahrhaftige Literatur erleben will, soll doch bitte Joseph Conrad, Malcolm Lowry und Herman Melville lesen!


    Liebe Leserin,


    diese Tirade gegen Hemingway ist nicht neu. Das habe ich schon des öfteren zu hören (und zu lesen) bekommen. Hemingway scheint zu den Autoren zu zählen, die man entweder mag oder abgrundtief ablehnt und verachtet. Naja, das ist, wie so vieles im Leben, halt Geschmacksache ...


    Zum Schluß ein wenig Zustimmung: Melville ist wirklich großartig, sein "Moby Dick" rangiert in meiner persönlichen Top 10. Lowry kann ich nicht beurteilen, von Conrad kenne ich "Das Herz der Finsternis" (hervorragend, wenn auch sperrig) und "Lord Jim" (selten so gelangweilt :grmpf:).


    So, nun aber nichts wie ran an die selbst gebackenen Zimtsterne meiner Frau und einen leckeren Capuccino!


    Es grüßt



    Sir Thomas

    Versuch es mal mit Volker Spierling: Kleine Geschichte der Philosophie - 50 Portraits von der Antike bis zu Gegenwart (Serie Piper). Das Buch bietet einen guten Überblick, geht allerdings nicht in die Tiefe.


    Auch ganz nett: Lust an der Erkenntnis - Die Philosophie des 20. jahrhunderts (hg. v. V. Spierling).


    Die von Dir erwähnten Titel kenne ich nicht.


    Es grüßt


    Sir Thomas


    Gerade lese ich mit meiner kleineren Tochter ein Lieblingsbuch aus meiner Kindheit - ich habe es zig mal gelesen, ach was verschlungen, heiß geliebt und wenn ich es fertig hatte, gleich wieder von vorn begonnen.


    Hallo Steffi,


    nun hast Du uns angefixt, ohne den Titel zu nennen ... :zwinker:


    Viele Grüße


    Sir Thomas


    Dennoch berührte mich "Der alte Mann und das Meer" sehr: Es ist eine von diesen klassischen Novellen, die so sehr gelungen sind, dass sie Menschheitsthemen meines Erachtens unüberbietbar formulieren.


    ... und deshalb erschien es mir heute als nette vorweihnachtliche Lektüre.


    Beinahe schon überladen mit christlich-metaphysischen Metaphern, Symbolen und Bildern, schildert "Der alte Mann und das Meer" den dreitägigen Kampf und die Leiden des alten, vom Glück verlassenen kubanischen Fischers Santiago mit einem gewaltigen Schwertfisch, den er seinen „Bruder“ nennt, den er verehrt, aber dennoch töten will – was ihm schließlich unter Aufbietung allerletzter Kräfte gelingt. Auf dem Rückweg verliert er den großen Fang seines Lebens jedoch an eine Meute Haifische, die seine stolze Beute bis auf das Rückgrat, den Kopf und den Schwanz auffrisst. Ohnmächtig muss der alte schmerzgeplagte Mann dies hinnehmen, weil er zum Schluss nicht mehr über die Mittel verfügt, die angreifenden Haie von dem erlegten Schwertfischkadaver fernzuhalten. Zu groß ist ihre Übermacht, zu stumpf seine Waffen, zu dunkel die Nacht, um den gierigen Fressmaschinen auf Dauer standhalten zu können.


    Das Töten und der Tod sind allgegenwärtig auf dem offenen Meer. „Fisch, ich liebe dich und achte dich sehr. Aber ich töte dich bestimmt, ehe dieser Tag zu Ende ist.“ Der Schwertfisch ist ein würdiger Gegner, der – indem man den Kampf mit ihm aufnimmt – die besten Tugenden eines Menschen zum Vorschein bringt: Stärke, Ehre, Mut, Stolz, Respekt und Würde. Santiago und der Fisch sind auf dem weiten Ozean Teile des selben ehernen Gesetzes: Töte oder du wirst getötet.


    Nachdem Santiago den ersten Hai, der sich an seinem Fang vergriffen hatte, mit einer Harpune erlegt hatte, denkt er zunächst:
    "... den Hai hast du gern getötet. Er lebt von den lebenden Fischen wie du. Er ist kein Assgeier oder einfach ein schwimmender Hunger wie mancher Hai. Er ist wunderschön und edel und hat vor nichts Angst. „Ich habe ihn aus Notwehr getötet“, sagte der alte Mann laut. „Und ich habe ihn gut getötet.“ Außerdem, dachte er, tötet alles auf irgendeine Art alles andere. Fischen tötet mich und erhält mich auch am Leben."


    Während vor allem der Schwertfisch, aber auch der erste Hai, als edle und würdige Gegner im Kampf ums Dasein auf dem Meer gesehen werden, sind die später im Rudel auftretenden Haie für Santiago reine Fressmaschinen, Aasgeier und Killer. Sie repräsentieren die destruktiven Elemente und Gesetze der Natur. Anders als der Schwertfisch und der einzelgängerische Makohai haben sie keine Würde und sind deshalb keine Gegner, aus deren Bekämpfung sich Stolz ableiten lässt.


    Das Töten (insbesondere des Schwertfischs) ruft widersprüchliche Gefühle in Santiago hervor. „Du hast den Fisch nicht nur getötet, um dein Leben zu fristen und um ihn zum Essen zu verkaufen, dachte er. Du hast ihn aus Hochmut getötet, und weil du ein Fischer bist. Du hast ihn geliebt, als er am Leben war, und danach hast du ihn auch geliebt. Wenn du ihn liebst, ist es keine Sünde, ihn zu töten. Oder ist es dadurch schlimmer?“. Die Rechtfertigung des Tötens um der Nahrung willen hat Santiago zuvor schon verworfen: „Sind sie es wert, ihn zu essen? Nein, natürlich nicht. Es gibt niemanden, der es wert ist, ihn zu essen, wenn man die Art seines Verhaltens und seine ungeheure Würde bedenkt.“


    Was bleibt? Ein zugleich bitteres, aber auch erleichtertes Resümee: „Es ist einfach, wenn man geschlagen ist, dachte er. Ich wusste niemals, wie einfach es ist. Und was hat dich geschlagen? Nichts. Ich bin einfach zu weit hinausgefahren.“


    Vorweihnachtliche Grüße von


    Sir Thomas


    Also, ehrlich gesagt, ich fand einige von den Büchern die Du aufzählst als Kind ganz furchtbar (Graf von Montecristo, Tom Sawyer, Musketiere). Ich empfand die damals als schlecht geschrieben und daher ur-langweilig.


    ... die waren wohl auch eher was für Jungs ... :breitgrins:


    Mal im Ernst: Ob ein Buch gut oder schlecht geschrieben ist, konnte ich als Jugendlicher ganz bestimmt noch nicht beurteilen. Übrigens: Gemeinhin gelten Alexandre Dumas und Mark Twain nicht als miese Schreiberlinge, wovon ich damals natürlich auch noch keine Ahnung hatte. Deine frühreife Urteilskraft erstaunt mich deshalb sehr ... :zwinker:


    Grüße aus dem "gebirgichten" Westfalen


    Sir Thomas

    In der Vorweihnachtszeit stellt sich immer wieder diese eine Frage: Kann (oder soll) man Kindern und Jugendlichen Bücher schenken, die früher zum klassischen Bestand gezählt wurden? Interessiert sich heute ein durchschnittliches Kind (oder ein Jugendlicher) für das Urmel aus dem Eis, Jim Knopf, Robinson Crusoe, die drei Musketiere, den Grafen von Montecristo, die Schatzinsel, Krabat oder gar Tom Sawyer und dessen verlotterten Kumpel Huckleberry Finn?


    Um ehrlich zu sein: Ich glaube das nicht, weil die meisten Klassiker meiner Kindheit und Jugend mittlerweile x-mal verfilmt worden sind (zuletzt lief "Die Schatzinsel" als eher mieser Zweiteiler auf Pro 7) und dementsprechend in der gedruckten Version nur noch als langweilig empfunden werden. Das mag einem Buchliebhaber in der Seele weh tun, aber ändern wird es nichts.


    Nun kann man einwenden, dass Harry Potter heute die Rolle all der Gestalten übernommen hat, die ich aufgezählt habe. Ich kann über die Qualität des Zauberlehrlings nichts sagen und freue mich natürlich, dass überhaupt noch gelesen wird von unserem Nachwuchs. Trotzdem bedaure ich sehr den "Abstieg" meiner früheren Heroes zu Vorlagen für mehr oder weniger gute Filme.


    Ratlos vor dem Weihnachtsbaum grüßt


    Sir Thomas

    Hallo sandhofer,



    Ein Jahrhundertbuch? Ja.


    einverstanden, allerdings mit kleinen Einschränkungen. Mir ging die weinerliche Dekadenz zum Teil ein wenig auf die Nerven. Als Reflektionen eines Einsamen ist das "Buch der Unruhe" natürlich äußerst lesenswert, wenn auch nur in kleinen Dosen. Sprachlich bewegt Pessoa sich auf höchstem Niveau, so dass ich ihm den dekadenten Touch gern verzeihe. Der Vergleich mit Werken wie "Ulysses" und "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" wird gern gezogen. Auch Musils "Mann ohne Eigenschaften" taucht für gewöhnlich als Messlatte für Pessoas Werk auf. Neu ist mir in Deiner Aufzählung der Vergleich mit Robert Walsers "Gehülfen". Darauf wäre ich nicht gekommen. Vielleicht lohnt es sich, Walser unter diesem Gesichtspunkt noch einmal aufzublättern ...


    Danke für die interessante Anregung!


    Es grüßt


    Sir Thomas


    Aber wie paßt das zu dem Wort "Ewigkeit" das Kay nicht legen kann und das Gerdas Liebe dann von selbst erscheinen läßt?


    Hallo millie,


    es gibt viele Möglichkeiten, dieses Märchen zu deuten. In meinem Verständnis steht die Schneekönigin für die kalte Rationalität und Emotionslosigkeit eines Zeitalters, in dem der technische Fortschritt zum neuen Götzen emporstieg. Daher auch Kays Unfähigkeit, das Wort "Ewigkeit" zu legen. Es hat einfach keine Bedeutung im kalten Reich der Vernunft.


    "Die Schneekönigin" ist zusammen mit der "Meerjungfrau" eines der schönsten Kunstmärchen und man kann Andersen gar nicht genug dafür loben! Eine schöne Lektüre - nicht nur in der Vorweihnachtszeit ...


    Viele Grüße


    Sir Thomas


    "Tauben im Gras" spielt in München. Da sich hier viel in Hotels und auf der Straße und an diversen Sehenswürdigkeiten abspielt ist der Ort in dem Roman sehr wichtig.


    Hallo JMaria,


    ja, ich stimme Dir zu, mit einer kleinen Einschränkung: "Tauben im Gras" könnte in jeder ausgebombten deutschen Stadt der Nachkriegszeit spielen, ist also nicht notwendigerweise auf München fixiert. Auch wird in meiner Erinnerung München nicht ausdrücklich als Schauplatz erwähnt (aber da kann ich mich natürlich täuschen ...).


    Es grüßt


    Sir Thomas

    Liebes Forum,


    es gibt großartige Romane, in denen der Ort der Handlung mindestens genauso wichtig ist wie die handelnden Personen. Nehmen wir Victor Hugos "Der Glöckner von Notre-Dame", wo das mittelalterliche Paris mit der berühmten Kathedrale eine heimliche Hauptrolle spielt oder "Berlin Alexanderplatz" von Alfred Döblin. Weitere Beispiele, in denen große europäische Städte einen wichtigen Handlungshintergrund abgeben, sind: "Der Tod in Venedig" (Thomas Mann), "Nachts unter der steinernen Brücke" (Leo Perutz) oder "Die Strudlhofstiege" (Heimito von Doderer).


    Wer kennt weitere Werke dieses Typs?


    Auf eine Fortsetzung dieser Liste freut sich


    Sir Thomas

    Liebes Forum,


    in wenigen Tagen, am 4. Dezember, jährt sich Gustav Meyrinks Todestag zum 75. mal. Aus diesem Anlass hier ein kleiner Ausschnitt aus dem „Golem“ von 1915, seinem wohl bekanntesten Werk und einem Schlüsselroman der expressionistischen Literatur. Meyrink beschreibt das alte Prager Judenviertel und dessen Bewohner:


    „Ich [...] musterte die mißfarbigen Häuser, die da vor meinen Augen wie verdrossene alte Tiere im Regen nebeneinander hockten. Wie unheimlich und verkommen sie alle aussahen! Ohne Überlegung hingebaut standen sie da, wie Unkraut, das aus dem Boden dringt. An eine niedrige, gelbe Steinmauer, den einzigen standhaltenden Überrest eines früheren, langgestreckten Gebäudes, hat man sie angelehnt – vor zwei, drei Jahrhunderten, wie es eben kam, ohne Rücksicht auf die übrigen zu nehmen. Dort ein halbes, schiefwinkliges Haus mit zurückspringender Stirn; – ein andres daneben: vorstehend wie ein Eckzahn. Unter dem trüben Himmel sahen sie aus, als lägen sie im Schlaf, und man spülte nichts von dem tückischen, feindseligen Leben, das zuweilen von ihnen ausstrahlt, wenn der Nebel der Herbstabende in den Gassen liegt und ihr leises, kaum merkliches Mienenspiel verbergen hilft.


    In dem Menschenalter, das ich nun hier wohne, hat sich der Eindruck in mir festgesetzt, den ich nicht loswerden kann, als ob es gewisse Stunden des Nachts und im frühesten Morgengrauen für sie gäbe, wo sie erregt eine lautlose, geheimnisvolle Beratung pflegen. Und manchmal fährt da ein schwaches Beben durch ihre Mauern, das sich nicht erklären läßt, Geräusche laufen über ihre Dächer und fallen in den Regenrinnen nieder, – und wir nehmen sie mit stumpfen Sinnen achtlos hin, ohne nach ihrer Ursache zu forschen.


    Oft träumte mir, ich hätte diese Häuser belauscht in ihrem spukhaften Treiben und mit angstvollem Staunen erfahren, daß sie die heimlichen, eigentlichen Herren der Gasse seien, sich ihres Lebens und Fühlens entäußern und es wieder an sich ziehen können, – es tagsüber den Bewohnern, die hier hausen, borgen, um es in kommender Nacht mit Wucherzinsen wieder zurückzufordern. Und lasse ich die seltsamen Menschen, die in ihnen wohnen wie Schemen, wie Wesen – nicht von Müttern geboren, – die in ihrem Denken und Tun wie aus Stücken wahllos zusammengefügt scheinen, im Geiste an mir vorüberziehen, so bin ich mehr denn je geneigt zu glauben, daß solche Träume in sich dunkle Wahrheiten bergen, die mir im Wachsein nur noch wie Eindrücke von farbigen Märchen in der Seele fortglimmen.


    Dann wacht in mir heimlich die Sage von dem gespenstischen Golem, jenem künstlichen Menschen, wieder auf, den einst hier im Getto ein kabbalakundiger Rabbiner aus dem Elemente formte und ihn zu einem gedankenlosen automatischen Dasein berief, indem er ihm ein magisches Zahlenwort hinter die Zähne schob.


    Und wie jener Golem zu einem Lehmbild in derselben Sekunde erstarrte, in der die geheime Silbe des Lebens aus seinem Munde genommen ward, so müßten auch, dünkt mich, alle diese Menschen entseelt in einem Augenblick zusammenfallen, löschte man irgendeinen winzigen Begriff, ein nebensächliches Streben, vielleicht eine zwecklose Gewohnheit bei dem einen, bei einem andern gar nur ein dumpfes Warten auf etwas gänzlich Unbestimmtes, Haltloses – in ihrem Hirn aus.


    Was ist dabei für ein immerwährendes, schreckhaftes Lauern in diesen Geschöpfen! Niemals sieht man sie arbeiten, diese Menschen, und dennoch sind sie früh beim ersten Leuchten des Morgens wach und warten mit angehaltenem Atem – wie auf ein Opfer, das doch nie kommt. Und hat es wirklich einmal den Anschein, als träte jemand in ihren Bereich, irgendein Wehrloser, an dem sie sich bereichern könnten, dann fällt plötzlich eine lähmende Angst über sie her, scheucht sie in ihre Winkel zurück und läßt sie von jeglichem Vorhaben zitternd abstehen.


    Niemand scheint schwach genug, daß ihnen noch so viel Mut bliebe, sich seiner zu bemächtigen: Entartete, zahnlose Raubtiere, von denen die Kraft und die Waffe genommen ist“


    Es grüßt


    Sir Thomas

    Hallo, Friedrich-Arthur,


    mir fällt soeben noch eine sehr gelungene Verfilmung der Wiener Jahre Mozarts ein (verlassen wir für einen Moment das Reich der Maler und bildenen Künstler :zwinker:): "Amadeus" von Milos Forman.


    Der oscargekrönte Film handelt von der Rivalität zwischen dem schnoddrigen Genie Mozart und dem damaligen Wiener Hofkompositeur Salieri, der, angesichts der Mozartschen Leichtigkeit, seine eigene Mittelmäßigkeit erkennt und letztlich daran zerbricht. Man sollte "Amadeus" allerdings nicht als Tatsachenbericht verstehen, sondern als fiktives Drama, denn Salieri war weder mittelmäßig noch verdächtig, an Mozarts frühem Tod mitgewirkt zu haben, wie der Film suggeriert.


    In diesem Zussammenhang sei auch das gleichnamige Theaterstück des Engländers Peter Shaffer erwähnt. Shaffer schrieb in enger Anlehnung an sein Bühnendrama auch das Drehbuch für den Forman-Spielfilm.


    Es grüßt


    Sir Thomas