Hallo zusammen,
das Buch von Philipp Krämer habe ich nicht gelesen, aber im selben Jahr (1938) ist das Buch "Ehrfurcht vor dem deutschen Wort" von Wilhelm Schneider erschienen; er singt das Hohelied des "guten" Buches, d.h. insbesondere der Klassiker: Goethe, Schiller, Kleist, Jean Paul, Fontane, Dickens, Homer, Sophokles, Shakespeare usw. solle man lesen, denn:
Zitat
Wir gewinnen als Leser von Dichtungen eine Fülle von Maßstäben und Vergleichsmöglichkeiten und nutzen sie, ob wir nun uns dessen bewußt sind oder nicht. Wir überwinden die Einseitigkeit, die Stand, Beruf, Familie, Wohnort notwendig mit sich bringen, und unser Geist fliegt weit über unsern engen Lebensraum hinaus.
[...]
Wie schnell sind die Menschen im allgemeinen zu einem harten und verdammenden Urteil bereit! Sie geben sich nur selten die Mühe, sich im Geiste in die Lage eines anderen zu versetzen, sie machen nur ausnahmsweise den Versuch, ihm seine Gefühle nachzufühlen. Der Dichter aber zwingt uns dazu. So leitet er uns an, unser oberflächliches und ungerechtes Pharisäertum abzutun, er erzieht uns zur Milde des Urteils und zur verstehenden und verzeihenden Nächstenliebe.
[...]
Und wer immer wieder zu den großen Dichtungen zurückkehrt, der wird seine Engherzigkeit verlieren, er wird sich aller krämerhaften Gesinnung schämen, seine Seele wird sich dem Großen, Schönen und Guten öffnen und sich verschließen gegen das Kleinliche und Gemeine.
Alles anzeigen
Das klingt ja ganz schön, und man möchte es gerne glauben, aber nur wenige Seiten weiter schreibt Wilhelm Schneider dann dies:
Zitat
Man sei nicht zu ängstlich und heikel, wenn man für sich einen Scheiterhaufen der schlechten Bücher errichtet. Die deutsche Jugend war es auch nicht, die im Jahre 1933, umweht vom Brausen des neuen Geistes, Schriften undeutschen und widerdeutschen Geistes zusammentrug und verbrannte.
Das soll sie also sein, die "Milde des Urteils", die "verstehende und verzeihende Nächstenliebe" und die sich dem "Großen, Schönen und Guten" öffnende Seele?
Ironischerweise hat Wilhelm Schneider das Kapitel "Dichtung und Leben" mit einem Goethe-Zitat aus dem "Torquato Tasso" eingeleitet:
»Und wer der Dichtung Stimme nicht vernimmt,
Ist ein Barbar, er sei auch, wer er sei.«
Tatsächlich zeigt Wilhelm Schneider mit seinem Lob der Bücherverbrennung, daß man auch dann Barbar sein kann, wenn man wie er "der Dichtung Stimme vernimmt".
Die damalige Diktatur wurde von vielen gebildeten und belesenen Menschen tatkräftig unterstützt, was deutlich zeigt, wie begrenzt die positive Wirkung von "guten" Büchern ist - eine Wirkung, an die offenbar auch Philipp Krämer noch ziemlich unkritisch glaubte. Gute Bücher, die den Leser zum besseren Menschen heranbilden, und schlechte Bücher, die ihm schaden: diese Aufteilung ist ziemlich einfältig. Krämer spricht vom Leser, der "Opfer" der schlechten Bücher wird, und er verachtet die seichte Unterhaltungsliteratur, weil sie "Flucht vor dem Leben" sei. Aber wie sah denn im Jahr 1938, als Krämers Buch veröffentlicht wurde, die deutsche Wirklichkeit aus? Und was war so schlimm daran, aus dieser Wirklichkeit fliehen zu wollen?
Schöne Grüße,
Wolf