Klassiker-Lektüre

  • Wenn du noch nicht so weit fortgeschritten bist in der Kunst des Lesens - und es ist dies der höchste Stand, den du als Leser erreichen kannst -,


    Ich muss zugeben, dass mich dieser Tonfall immer wieder ärgert: Auf der einen Seite der Meister, der anscheinend im Besitz der Wahrheit ist und weiß, was der höchste Stand ist, den man in irgendwas erreichen kann (und auch kein Hehl daraus macht, dass er es weiß), auf der anderen Seite die Schüler, die an den Lippen des Meisters hängen. So funktionieren Sekten und ähnliche Gruppierungen.


    Anders gesagt: An so einem Tonfall erkennt man Scharlatane und Schätzer. Und der Rest des Zitats, halten zu Gnaden: der ist auch danach. Wie da eine völlige Banalität als Weisheit verkauft wird. Also wirklich.


    Wie anders doch ein wirklich großer Geist wie etwa Goethe:


    Zitat

    Die guten Leutchen wissen nicht, was es einem an Zeit und Mühe kostet, um lesen zu lernen. Ich habe achtzig Jahre dafür gebraucht und kann auch jetzt nicht sagen, dass ich am Ziel wäre.

  • Jaja. Man sollte aber denken, daß dieses Büchlein von Krämer IIRC aus den 30er Jahren ist. Da gabs noch massenweise Pathos, auch in solchen Dingen.


    Den Verdacht hatte ich auch schon. Aber das macht das ja nicht wirklich besser. Krämer ist imho einfach übles Feuilleton. Aber mei - wenn’s Dir gefällt: wer bin ich, dass ich Dir da reinreden könnte 8-).

  • Hallo zusammen,


    das Buch von Philipp Krämer habe ich nicht gelesen, aber im selben Jahr (1938) ist das Buch "Ehrfurcht vor dem deutschen Wort" von Wilhelm Schneider erschienen; er singt das Hohelied des "guten" Buches, d.h. insbesondere der Klassiker: Goethe, Schiller, Kleist, Jean Paul, Fontane, Dickens, Homer, Sophokles, Shakespeare usw. solle man lesen, denn:



    Das klingt ja ganz schön, und man möchte es gerne glauben, aber nur wenige Seiten weiter schreibt Wilhelm Schneider dann dies:


    Zitat


    Man sei nicht zu ängstlich und heikel, wenn man für sich einen Scheiterhaufen der schlechten Bücher errichtet. Die deutsche Jugend war es auch nicht, die im Jahre 1933, umweht vom Brausen des neuen Geistes, Schriften undeutschen und widerdeutschen Geistes zusammentrug und verbrannte.


    Das soll sie also sein, die "Milde des Urteils", die "verstehende und verzeihende Nächstenliebe" und die sich dem "Großen, Schönen und Guten" öffnende Seele?


    Ironischerweise hat Wilhelm Schneider das Kapitel "Dichtung und Leben" mit einem Goethe-Zitat aus dem "Torquato Tasso" eingeleitet:


    »Und wer der Dichtung Stimme nicht vernimmt,
    Ist ein Barbar, er sei auch, wer er sei.«


    Tatsächlich zeigt Wilhelm Schneider mit seinem Lob der Bücherverbrennung, daß man auch dann Barbar sein kann, wenn man wie er "der Dichtung Stimme vernimmt".


    Die damalige Diktatur wurde von vielen gebildeten und belesenen Menschen tatkräftig unterstützt, was deutlich zeigt, wie begrenzt die positive Wirkung von "guten" Büchern ist - eine Wirkung, an die offenbar auch Philipp Krämer noch ziemlich unkritisch glaubte. Gute Bücher, die den Leser zum besseren Menschen heranbilden, und schlechte Bücher, die ihm schaden: diese Aufteilung ist ziemlich einfältig. Krämer spricht vom Leser, der "Opfer" der schlechten Bücher wird, und er verachtet die seichte Unterhaltungsliteratur, weil sie "Flucht vor dem Leben" sei. Aber wie sah denn im Jahr 1938, als Krämers Buch veröffentlicht wurde, die deutsche Wirklichkeit aus? Und was war so schlimm daran, aus dieser Wirklichkeit fliehen zu wollen?


    Schöne Grüße,
    Wolf