Hallo Steffi und Maria,
wie ich Euren Beiträgen entnehme, lest ihr parallel zum Roman auch noch Biographisches über die Autorin, sehr interessant.
Das im Roman geschilderte New York wirkt ganz anders als eine moderne Großstadt, nichts von anonymen Massen und Vereinzelung, sondern wie in einer Kleinstadt kennt jeder jeden, nichts bleibt unbeobachtet, jeder muß damit rechnen, daß sich gesellschaftliche Verfehlungen sofort herumsprechen. Allerdings geht es nur um das New York der Oberschicht, andere Gruppen werden nur am Rande erwähnt. Diese zusammenhängende Gesellschaft war damals anscheinend schon in Auflösung begriffen. Im 6. Kapitel etwa heißt es:
Zitat
Man sei, meinte Mrs. Archer, heute nicht mehr so eigen wie früher, und wenn die alte Catherine Spicer das eine Ende der Fifth Avenue und Julius Beaufort das andere Ende beherrsche, könne man nicht erwarten, daß die alten Traditionen noch lange gültig blieben.
Die räumliche Trennung der Häuser ist hier ein Zeichen für die Lockerung der gesellschaftlichen Bindungen. Ellen Olenska wohnt ja auch in einem Stadtteil, in dem man in diesen Kreisen normalerweise nicht wohnen sollte:
Zitat
Es war allerdings ein seltsames Viertel zum Wohnen. Kleine Schneiderateliers, Tierpräparatoren und »Leute, die schreiben« waren ihre nächsten Nachbarn
Sehr hübsch finde ich die Umschreibung »Leute, die schreiben« ("people who wrote"), offenbar ist das Schriftstellerdasein derart anrüchig, daß man das Wort "Autor" nicht in den Mund nehmen will. Newland Archer mag aber diese Menschen; in diesem "seltsamen Viertel" wohnt auch ein Freund von ihm, der Autor und Journalist ist. Im 12. Kapitel heißt es über Newland Archer:
Zitat
Er wußte, daß es Gesellschaften gab, in denen Maler, Dichter, Schriftsteller, Gelehrte und selbst bedeutende Schauspieler ebenso gesucht waren wie Herzöge. [...] Doch so etwas war in New York unvorstellbar, und der bloße Gedanke daran beunruhigte ihn. Archer kannte die meisten »Leute, die schreiben«, die Musiker, die Maler: er traf sie im »Century« oder in den kleinen Musik- und Theaterklubs, die eben in New York aufkamen.
Auch Ellen Olenska mag diese Leute, in ihrem Haus liegen jede Menge Bücher herum, in denen sie gerade liest und die Newland Archers Interesse erregen, es handelt sich um seinerzeit neue Namen wie Paul Bourget, Huysmans und die Brüder Goncourt. Dagegen liest Newlands Verlobte eigentlich nur das, was er ihr selbst gegeben hat.
Zitat von "JMaria"
und im Kapitel 9 gehts um die "eingefangenen Männer".
....trennte Archer sich von seiner Braut mit dem Gefühl, er sei wie ein schlau in die Falle gelocktes wildes Tier vorgeführt worden.
Die Autorin beabsichtigt wohl dieses Bild des primitiven Überlebenskampf.
In diesem Zusammenhang werden auch "anthropologische Schriften" erwähnt, die Newland Archer liest. Später fällt der Name Herbert Spencer, von dem er sich ein neues Buch gekauft hat. Im 10. Kapitel werden "wissenschaftliche Bücher" erwähnt, und Newland vergleicht seine Braut May mit einem blinden Höhlenfisch, von dem er gerade gelesen hat:
Zitat
But how many generations of the women who had gone to her making had descended bandaged to the family vault? He shivered a little, remembering some of the new ideas in his scientific books, and the much-cited instance of the Kentucky cave-fish, which had ceased to develop eyes because they had no use for them. What if, when he had bidden May Welland to open hers, they could only look out blankly at blankness?
(aus dem englischen E-Text zitiert, damit ich mir das Abtippen spare ;-))
Es gibt viele solcher Stellen, in denen die hochstehende New Yorker Gesellschaft als im Grunde "primitiv" (= unentwickelt; nicht progressiv) dargestellt wird. In einem späteren Kapitel ist von einem "prähistorischen Ritual" die Rede.
Im 16. Kapitel gibt es eine aufschlußreiche Szene, in der May Welland an Format und menschlicher Tiefe gewinnt, nachdem sie vorher eher als blind und unwissend dargestellt wurde.
Schöne Grüße,
Wolf