Beiträge von Karamzin

    Die beiden Teile des Henri IV. waren für mich als Fünfzehn/Sechzehnjährigen eine bevorzugte Lektüre, der in einigen Szenen vorgestellte Michel de Montaigne wurde mein "Leib- und Magenphilosoph" (zentrale Frage des Skeptikers, die auch für Henri wichtig wurde: "Was weiß ich?").

    Das historische Material hatte Heinrich Mann wiederum, wie ich später festellte, der umfangreichen Biographie von Saint-Rene Taillandier entnommen, und er nahm in der Zeit seiner Immigration historische Stätten in Südfrankreich, etwa Schloß Pau, selbst in Augenschein. In diesem Alter war auch das Verhältnis Henris zu den Frauen fesselnd, die er so zahlreich in seine Nähe zog; selbst war für mich besonders die vernünftige Corisande anziehend, und ich bedauerte den als Ermordung dargestellten Tod der schönen Gabriele.


    Der "Henri Quatre" war um 1935 ein historisches Gleichnis. Die Gefahr des aufkommenden Nationalsozialismus, auch faschistischer Bestrebungen in Frankreich selbst, ließ Heinrich Mann zu einem führenden Politiker der "Volksfrontbewegung" in Paris werden, der auch den Kontakt mit Kommunisten nicht scheute, im Gegensatz zu seinem Bruder Thomas. In seinen Erinnerungen "Ein Zeitalter wird besichtigt", die ich ebenfalls las, ist der gleiche Schreibstil mit den Gleichnissen und Überhöhungen zu bemerken, wie im "Henri Quatre". Er gab offen zu, dass er auf die Sowjetunion als Hoffnung im Kampf gegen den Faschismus setzte. Der stalinistische Terror wurde aber, wie bei seinem Freund Lion Feuchtwanger, ausgeblendet und von letzterem schließlich in grotesker Weise legitimiert und verherrlicht.

    Die Liga in Paris als Verkörperung der Unvernunft und des Hasses, die die "Bartholomäusnacht" 1572 herbeiführte, bot sich Heinrich Mann zu Vergleichen mit den Faschisten an, was unhistorisch, ihm als Schriftsteller, der sich in die Auseinandersetzungen seiner Zeit einmischt, aber sicher erlaubt war.


    Als im Frühjahr 1971 sein 100. Geburtstag an der "Heinrich-Mann-Oberschule" begangen wurde, an der ich Oberschüler war, stellte ich eine Gruppe von Schülern zusammen, die Dialogszenen aus dem "Henri" vortrug. "Humanisten müssen streitbar sein". Sie müssen nicht nur lernen, zu dichten und zu schreiben, sondern auch das Reiten und Zuschlagen üben. Die leisen Zweifel, die sich damals bei meiner Lektüre Montaignes und Manns "Untertan" einstellten, bezogen sich zu dieser Zeit aber noch nicht auf das gesamte Gesellschaftssystem in der DDR,


    Nach den Ereignissen von 1989 stellte sich als einer der führenden Kritiker der alten BRD Ulrich Greiner ein. Heinrich Mann wollte 1950 aus Santa Monica ausgerechnet in Die DDR übersiedeln, starb aber kurz zuvor. Dieser Umstand und die Sympathien Manns für die Sowjetunion waren im Hintergrund bemerkbar, als Greiner zu einem Frontalangriff auf Heinrich Mann ansetzte. Etliche seiner Jugendwerke, die weniger bekannt waren als "Der Untertan" (in der DDR unsere Schullektüre) oder der "Professor Unrat", wurden erbarmungslos als schwülstiger Kitsch abgetan (kann ich nicht beurteilen, habe sie nicht gelesen), die natürlich völlig von der Kunst des Bruders Thomas abstachen.


    Alexandre Dumas habe ich zu jener Zeit ebenfalls gelesen. Die Bartholomäusnacht war damals für mich eine Warnung, daran zu denken, was von Propagandisten und Predigern aufgeheizte Menschenmengen in kürzester Zeit anrichten können (hatte damals noch die Ermordung der Hypatia 415 und die "Magdeburger Bluthochzeit" 1631 vor Augen).

    Christa Wolf tastete sich immer wieder vor: wie weit kann ich jetzt gehen ? und folgte dabei doch ihren Impulsen. Dabei ging es ihr in erster Linie um ihr eigenes Empfinden, sie schielte beim Schreiben nicht auf das Publikum, ihr wichtigstes Korrektiv war ihr Mann Gerhard.

    Sie war die Impulsivere von beiden, die sich immer wieder bremsen musste, er der Überlegte, der wusste, dass sich ihr Talent zwar letztlich durchsetzen würde, aber vor Fallstricken warnen musste.

    In den Jahrzehnten nach der Wende las ich ihren ganzen publizierten Briefwechsel, ihre Tagebücher, von kaum einer Schriftstellerin ist in den Jahrzehnten mehr bekannt geworden, als von Christa Wolf. Und so wuchs auch das Verständnis: ein paar Ordner aus den 1960er Jahren, in denen sie einige Berichte an die Stasi lieferte, die letztlich nicht von Belang waren, standen Meter von Akten über die Beobachtung des Ehepaares, das jahrelang bis in intime Bereiche ausgespäht wurde, gegenüber. Vor ihrem Haus stand das Auto mit den Spähern. Günter Gaus, ehemaliger Leiter der Ständigen Vertretung der BRD in Ostberlin, hat sie später vor ungerechtfertigen Anwürfen in Schutz genommen.

    Christa Wolf hat jahrzehntelang immer ihr riesiges Publikum gehabt, kritische ästhetische Betrachtungen von Ulrich Greiner oder Marcel Reich-Ranicki, der freilich den Kommunismus aus eigenem Erleben kannte, hin oder her.


    Es ist alles vorbei. Hätte sie geahnt, dass sich Deutschland im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts wieder in einer derartigen verfahrenen, viel trostloseren Situation wiedergefunden hätte ...

    Als das "Nachdenken über Christa T." 1968 erschien, gingen die wenigen Exemplare von Hand zu Hand, wurden ausgeliehen und sogar mit der Schreibmaschine abgeschrieben. Meine Eltern, vom gleichen Geburtsjahrgang wie Christa Wolf und im Volksbildungswesen der DDR tätig, konnten eines erwerben, das heute noch in meiner Bibliothek steht.


    Man kann sich heute die damalige ungeheuere Wirkung nur schwer vorstellen. Ich las das Buch im Alter von 13 Jahren, habe sicher nicht alles verstehen können, war aber aufgewühlt, wie von keinem anderen Buch der Gegenwartsliteratur. Schwere Krankheit und Tod waren Tabuthemen in der DDR, es gab keine Ratgeberliteratur dazu, wie erst nach 1990. Daher ist es verständlich, dass Christa Wolf körbeweise Zuschriften von Lesern, in der Mehrzahl Frauen, erhielt, die sie um ihren Lebensrat baten und ihr aus dem eigenen Leben erzählten. Auch die aus Österreich stammende Maxie Wander erzielte später mit ihren authentisch (Tonband) aufgezeichneten Lebensgeschichten von Frauen ("Guten Morgen, du Schöne") eine solche Wirkung, die Grenzen von Schreibkunst und Dokumentaristik verschwammen.


    Der sozialistische Held hatte im Kampf für die gerechte Sache der Arbeiterklasse sein Leben hinzugeben, was aber in diesen Zeiten eher die Ausnahme gewesen sein dürfte und sich im Ausland oder in der Vergangenheit abspielte. Anna Seghers ließ einen jungen Genossen in einem ihrer Gegenwartsromane, der eher kaum gelesen wurde, früh an einem Herzinfarkt sterben, den mein damals 29jähriger Vater auch just zu der Zeit erlitt, als Anna Seghers bei uns zu Hause auf Besuch war und von mir 5jährigem stolz durch den Dom und zur Großen Glocke Gloriosa von 1497 geführt wurde.


    Aber die gleichnamige Heldin des Romans von Christa Wolf litt nicht nur an ihrer Krankheit, sondern auch an den Zuständen bei uns. Gegen den Einmarsch der Streitkräfte des Warschauer Vertrages in die Tschechoslowakei im gleichen Jahr, am 21. August 1968, protestierten nur die, die ohnehin schon Zweifel am System hatten. Wir glaubten damals, kein Westfernsehen zu Hause sehend, dass die Tschechoslowakei Gefahr lief, vom westdeutschen "Revanchismus" (sudetendeutsche Landsmannschaften unter Becher) vereinnahmt zu werden, der den Besitz der Vertriebenen wiederhaben wollte, weil das die einzig zugängliche Propaganda von Partei und Regierung (heute gibt es ja zum Glück viele alternative Medien) so verkündete.

    Christa Wolf hütete sich, hier offiziell Stellung zu beziehen, als Autorin war sie in ihren Ansichten damals kaum von ihrer Heldin Christa T. zu unterscheiden, wie auch die Ansicht in der Parteiführung, den Zensurbehörden und in den Schulen der DDR nicht verbreitet war, dass man zwischen Autoren-Ich und Helden-Ich zu unterscheiden hätte. Manchen Schriftstellern wurde das in politisch aufgeheizter Situation zum Verhängnis. Dass sich Christa Wolf seit den 1970er Jahren immer mehr der Antike (Kassandra, Medea) und mit ihrem Mann Gerhard der Romantik (Die Günderrode, Heinrich Kleist) zuwandte, war insbesondere im Zusammenhang mit der Biermann-Ausbürgerung im November 1976 kein Zufall, sie konnte einfach keine Gegenwartsromane mehr schreiben, ohne den von ihr nicht gewollten Umweg über die Medien des Westens gehen zu können und zu wollen (was sie später mit ihren eher konspirativ verhüllten Texten dennoch tat).


    1974 erschien dann die "Franziska Linkerhand" (1981 Verfilmung als "Unser kurzes Leben" (!) von Brigitte Reimann (1939-1993) und fand wieder eine ungeheuere Resonanz in breitesten Schichten der Bevölkerung, während Irmtraud Morgner meines Erachtens nur in bestimmten Intellektuellenkreisen gelesen wurde.

    Gerade gestern habe ich mit meinem Sohn im Botanischen Garten Eichendorff-Gedichte gelesen, die er für seine Tätigkeit als Lehrer im Deutschunterricht braucht (da lesen sie Eichendorff in der 11. Klasse!), in einer Ausgabe, die mir meine Frau 1985 zum Geburtstag geschenkt hatte,

    In diesen Gedichten geht es recht beschwingt zu, mit wandernden Gesellen, trötendem Posthorn, Nachtigallen, grünen teutschen Wäldern und antiken Statuen, Lauten (nicht mehr klassischen 'Leyern') und Mädchen am Fenster. Die Schüler einer zweisprachigen Schule werden angeregt, Assoziationen zu "Sehnsucht" herzustellen - übersetze mal solch ein Wort oder "Gemüt" und "Heimweh" in eine andere Sprache !


    Jedenfalls sind da aber ganz gewaltige Unterschiede sowohl zu Hölderlin, dessen Jubiläum wir in diesem Jahr begingen, und dann wieder zu Goethe zu spüren, bei Eichendorffs "Sehnsucht" springe ich ja sofort wieder zu Goethes Mignon zurück. "Wanderers Sturmlied" liest sich so - tut mir leid - als hätte er enorm einen in der Krone gehabt, das Gedicht aber am Tag darauf dennoch für gut genug befunden hätte, um veröffentlicht zu werden.

    Ein Hallo in die Therapierunde,


    ich bin der, der dem Karamzin seinen Namen entlehnt hat (aber bitte nicht Maik zu mir sagen, ich komme aus dem Osten).

    Ich bin büchersüchtig seit meiner Kindheit. Das hat mich davon abgehalten, moderne elektronische Medien zu genießen. Gegen Altersgewohnheiten gibt es keine Therapien. Ich hoffe aber einigermaßen empfänglich in der Birne für manches Neue geblieben zu sein.

    Bei den Hörbüchern könnte sein, dass man eine besondere Stimme schätzt.


    Ich bin ja noch als Kind ab dem fünften Lebensjahr mit einem festen Rhythmus des Radiohörens aufgewachsen, da gab es die vertrauten, wiedererkennbaren Stimmen. Ganze Vormittage verbrachte ich bei schlechtem Wetter allein mit einem Radio im Zimmer (erst 1963 bekamen meine Eltern einen Fernseher). Es gab sehr lehrreiche Sendungen, mit einem Bauern, einem Seemann, einem Förster und einer Figur, die zum Sparen und Umdrehen der Münzen anregte: dem "kleinen Pfennig", in der Musik kam der große Thüringer Landsmann Herbert Roth (1926-1983) zur Geltung.


    Meine Pflegeeltern holten, als ich fünf war, die Schiefertafeln ihrer Schulzeit für mich heraus (in Lehesten in Südthüringen waren die Schiefersteinbrüche), und ich erinnere mich, dass es Stifte gab, die ein schneidendes kratzendes Geräusch erzeugten, mit Kreide aber ließ es sich viel weicher und leichter schreiben. Zur Zeit der Einschulung konnte ich schreiben, und meine Aufgabe bestand nun darin - Spaziergänge an frischer Luft! - in der frei gewordenen Zeit die Schulschwänzer einzufangen.


    Und dann nahm die oben erwähnte Bibliothek ihren Anfang: zuerst mit der Serie "Unser kleines Wanderheft", Schwarz-Weiß-Bildbänden "Unsere schöne Heimat" (worin aus Versehen oder Gewohnheit oder Schläfrigkeit des Zensors mitunter sogar Aufnahmen westdeutscher Sehenswürdigkeiten aufgenommen wurden) sowie kleine Hefte über Burgen, Schlösser und Denkmäler - die sind alle erhalten, Regionalia füllen einen ganzen Schrank.


    Nun, all die Nostalgie kann hier nerven, um Elektronik führt heute kein Weg mehr herum, aber zu e-books werde ich nicht mehr übergehen - Hauptsache ist, Augenlicht und Gehfähigkeit bleiben erhalten.

    Da hat man nun all die Jahrzehnte über einem großen Laster gefrönt - und sich Bücher angeschafft. Ein Auto habe ich nie gefahren, habe kein modernes Handy (nur einen uralten Handknochen für den Notfall), habe zwölf Jahre ohne Fernseher zugebracht (damals auch kein Verlust weiter) und noch nie ein e-book in der Hand gehalten. Hätte gar nicht die Geduld, mir ein Hörbuch anzuhören.


    Aber die Bücher, von denen ich am Tag bestimmt mehr als 20 in der Hand habe und darin lese. Inzwischen füllen sie fünf Räume in zwei Städten und den Keller. Als Kind und als Jugendlicher dachte ich: vielleicht schaust Du Dir all diese Bücher wieder in Ruhe an, wenn Du älter bist.


    Auf einmal war das 60. Lebensjahr überschritten, und ich fühlte endgültig: ich bin alt geworden. Ein Großteil der Bücher wird ja auch jetzt noch gebraucht, so ist es nicht. Mein Kollege, den ich seit 1975 kenne und der in diesem Jahr 96 Jahre alt wird, hat in mühevoller Kleinarbeit seine eigene Bibliothek nach Sachgruppen verzeichnet und ihr sogar Signaturen erteilt. Dieser Katalog war dann ein ganzes Buch von mehr als 200 Seiten geworden. Er arbeitet auch noch, rüstig geblieben, mit seinen Büchern. Es ist mir vor zehn Jahren gelungen, seine Bibliothek - na vielleicht geschätzte 8000 Bücher - geschlossen in einer Forschungsbibliothek unterzubekommen. Ich schaffte weder, einen derartigen Katalog der eigenen Bibliothek zu verfertigen, noch wüsste ich auch nur annähernd, wie viele Bücher es insgesamt wohl sein mögen.


    Bei Antiquariatsbesuchen immer wieder eine kalte Dusche: wir kaufen nichts mehr! Ich wurde gerade noch einen zweibändigen Roman von 1782 für 40 Euro los, von dem es nur noch ganz wenige Exemplare gibt, dann trat ich mit einer schweren Tasche die Flucht an. Raritäten, seltene und von der Aufmachung her schöne Bücher habe ich sowieso nur ganz wenige, die Bücher sind Arbeitsmaterial, wenn ich es auch nicht leiden kann, dass darin herumgekritzelt wird, wie in den Büchern aus der Staatsbibliothek. Da findet man dann mit Bleistift den ungemein wichtigen Satz unterstrichen: "Deutschland hat viele bedeutende Dichter hervorgebracht."



    In die gegenwärtig oft aufgelegte Langspielplatte will ich gar nicht mehr hineinhören, die hat 'nen Sprung: wer liest denn heutzutage noch Bücher, schaut auf die heutige Jugend! Die Elektronik hat alles verdrängt! In meiner Wolfenbütteler Zeit brachte mich eine Werbetafel einer Buchhandlung zum Schmunzeln: "Überrasche Deine Eltern, lies ein Buch!" Ich wäre ja ansonsten auch nicht in einem solchen "Klassikerforum".

    Es fanden sich, ganz im Gegenteil, immer begeisterte Leser und Zuhörer aus allen Altersgruppen. Aber was wird aus den Büchern ? Sie einzeln zu verticken, über e-bay oder Amazon, dafür hätte ich nie die Zeit, dafür brauchte ich wahrscheinlich Jahre, die Verpackung ist teurer, als das Buch wert ist. Und wer liest Bücher in diesen (slavischen) Sprachen ? Eine Tragödie war, als nach dem Untergang der DDR Hunderttausende von Büchern auf Müllhalden landeten und von einigen Enthusiasten wieder eingesammelt wurden. Zu den DDR-Zeiten wurde der Aufnahme-Stop in den Bibliotheken mit mangelnder Stellfläche begründet, der Unwille, etwas Widerborstiges zu drucken, mit Papiermangel (das teure Papier muss erst in Finnland eingekauft werden! Dafür fielen im Thüringer Wald und Erzgebirge die Bäume wegen des "sauren Regens" aus den Leuna-Werken um).

    Welche Bibliothek soll sie denn heutzutage noch einarbeiten, wer soll das bezahlen?

    Ich will meinen verbliebenen nahen Angehörigen kein Chaos hinterlassen, mein Sohn hat ja auch schon wieder zwei Zimmer voller Bücher, aber zumeist anderer, einen Teil hat er ja schon von mir abgestaubt.


    Ende eines überlangen Textes. In einem anderen Thread wird es im Herbst weitergehen mit dem "Wallenstein", ich kann hier nicht imemr hereinschauen.

    Ich richte mich ganz nach Euch. Ich kann ja schon einmal, wie gewohnt, im Sommer ein paar Angaben zur Vorbereitung zusammentragen, Quellentexte, Rezeptionsbeispiele und Rezensionen oder ähnliches.


    Wir wollen wegen der weiterhin bestehenden Corona-Beschränkungen noch nicht konkret über einen Urlaub nachdenken; wenn es besser aussehen sollte, würde ich im September wie jedes Jahr in Südtirol sein und dort nur alle paar Tage ins Internet kommen, aber das steht alles noch nicht fest; zur Zeit sind wir eher auf einen Trip in meine Thüringer Heimat eingestellt.

    Mein Sohn musste im vorigen Jahr als Lehrer für Deutsch Daniel Kehlmann im Unterricht der Gymnasialstufe durchnehmen und erzählte mir davon, wobei mir manche der Literaturanalysen ziemlich gruselig daher kamen. Der Literaturunterricht zu meiner Zeit im Realsozialismus war schon grauslich genug, konnte mir allerdings die Liebe zur Poesie und Prosa nicht austreiben.


    Aber entscheidend dürfte ja wohl sein, ob sich die Schüler darein finden konnten und mitmachten, was offenbar sogar der Fall war ! Dieser Autor konnte sie durchaus inspirieren.


    Nun verhehle ich nicht, in manchem so wie der "Polyhistor" :-) an die "Vermessung der Welt" herangegangen zu sein. Das wäre aber ein bißchen traurig - "Herr Lehrer, ich weiß etwas, was da nicht stimmen kann" und zugleich zu wissen, dass man es selbst nie besser hinbekommen würde, weil die Fußnoten sämtliche Phantasie austreiben.


    Wenn aber ein solcher Kenner der Reiseliteratur wie Wolfgang Griep sich kritisch mit Daniel Kehlmann auseinandersetzt, kann es auch eher locker und gekonnt daher kommen (wie schnell ist die Zeit seit 2007 vergangen, die Jahre verfliegen, *seufz*)


    https://www.zeit.de/online/2007/16/L-Kehlmann

    Zwar lässt sich nicht übersehen, dass Schillers Geschichte des Dreißigjährigen Krieges in hohem Tempo um des "Broterwerbs" willen entstand. Aber sie musste auch für Damen lesbar sein. Sie ist nicht nur deshalb nicht vollendet, weil Schiller zunehmend finanziell unterstützt wurde (so durch den Herzog von Augustenburg), sondern ihm auch nach dem Tod Herzog Bernhards von Weimar 1639 (den sich auch Goethe und Lenz vorgenommen hatten) Schiller buchstäblich die "Helden" ausgingen. Der Krieg entartete bis 1648 in ein sinnloses Gemetzel ohne "Heldengestalten", einem Hin- und Herziehen von Heerhaufen und Einzelaktionen von plündernden Horden, schon begleitet von Vorgesprächen und Friedensverhandlungen.


    Das Jubiläumsjahr 2018 erbrachte eine Fülle an Jubiläumsliteratur über den Dreißigjährigen Krieg, die ich nicht annähernd vollständig erfasst habe, das braucht man ja auch nicht, wenn man sich nicht näher auf dieses Thema spezialisiert hat.

    Zur gleichen Zeit wie Schiller wandten sich mehrere Autoren dem Wallenstein-Stoff zu. In dieser fürchterlichen, von Parteigeist zerrissenen Zeit schien diese Gestalt am ehesten geeignet zu sein, als überparteiliche Figur zur Projektion von Friedenshoffnungen zu dienen. Und die waren in den 1790er Jahren verbreitet, nachdem der Koalitions-Krieg gegen die Französische Revolution schon 1792 (Valmy) mit derart vielem Blutvergießen in Intervention und Bürgerkriegen begonnen hatte.


    Übrigens ist das Epidemie-Thema auch im Zusammenhang damit aufschlussreich.


    Was mich jetzt an dem Wallenstein-Zyklus mehr als früher reizt, sind Gestaltungsfragen.

    Zur gleichen Zeit habe ich gegenwärtig mit der "Zeit der Wirren", der "Smuta" in Russland (1598-1613), zu tun, die Helden und 'Antihelden', wie mehrere "Falsche Dmitrijs" hervorbrachte. Lope de Vega machte den Anfang noch mitten drin in der Zeit der Wirren. Im 18. Jahrhundert ging es weiter mit August von Kotzebue (1783), im 19. Jahrhundert eben wieder mit Schiller und seinem unvollendetem "Demetrius"-Fragment (1805), sowie Friedrich Hebbels Drama in Deutschland, in Russland mit Alexander Puschkins "Boris Godunov" und der gleichnamigen Oper von Mussorgskij (1884).


    Ich stehe also ab Sommer bereit für eine Leserunde zu Schillrs Zyklus.

    Hallo Zefira,


    wenn auch Deine Frage weitgehend geklärt ist, könnte ich vielleicht noch hinzufügen, dass die Bezeichnung "Polyhistor" ursprünglich an eine bestimmte Zeit gebunden war: das ausgehende 17. Jahrhundert. Für eine bestimmte Art, Geschichtsschreibung zu betreiben, stand das Werk von Daniel Georg Morhof (1639-1691) unter dem Titel "Polyhistor" (1688), das dieser Richtung den Namen verlieh.


    In Frankreich hatte zur gleichen Zeit der Hofgeistliche und Bischof Bossuet mit seiner Universalgeschichte (1687) das Ziel verfolgt, den gesamten Geschichtsverlauf als Umsetzung des göttlichen Heilsplanes zu betrachten und darzustellen, von der Erschaffung des Menschen, über die Geschichten des Alten und des Neuen Testaments bis zur Gegenwart, der Verherrlichung des Allerchristlichen Königs, des Sonnenkönigs Ludwig XIV. Das war ein in sich geschlossener großartiger Entwurf, wobei der biblischen Geschichte der größte Platz eingeräumt wurde, der jüngsten Geschichte vergleichsweise nur wenig.


    In Deutschland entwickelte sich die Geschichtsschreibung zur Zeit Morhofs aber anders, und das noch in den hunderten Territorien und Landschaften des bis 1806 bestehenden Heiligen Römischen Reiches, Fürstentümern, Grafschaften, Abteien, Freien Reichsstädten und Ritterschaften .... Emsig wurden von den Vertretern der verschiedensten Spezialdisziplinen Quellen zusammengetragen: Urkunden durch die Diplomatik, Münzen durch die Numismatik, Wappen durch die Heraldik, Siegel durch die Sphragistik, Wörter und Etymologien wurden durch Sprachforscher gesammelt, usw., bis am Schluss kaum noch jemand den Überblick darüber hatte, über welchen Wissensschatz man nun eigentlich verfügte.

    Daniel Georg Morhof, der vorwiegend im norddeutschen Raum, an der 1665 gegründeten Universität Kiel tätig war, hat nun den vermutlich letzten Versuch unternommen, in seinem Werk "Polyhistor" diesen gesamten antiquarischen Wissensschatz zusammenzufassen. Nach heutigen Maßstäben war das sicher ein recht langweiliges Unterfangen. Es fehlte eine durchgängige Idee, mit deren Hilfe man Geschichtsschreibung betreiben konnte.


    Voltaire stellte einen Gegenentwurf zur Universalgeschichte des Bischofs Bossuet mit ihrem göttlichen Heilsplan und zu den großen Heldengeschichten mit Königen und Feldherren als handelnden Akteuren vor: In seinem "Essay über die Sitten" führte er vor, wie man die Geschichte der Staaten und Völker in der Darstellung ihres Handels und Gewerbes, ihrer Sitten und Moral, ihrer Kultur und Literatur erfassen sollte, nicht nur lediglich in den Taten der "Großen Männer".


    Und bei uns versuchte Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716), den man nicht ohne Grund als "Universalgelehrten" bezeichnet und nicht als "Polyhistor", der auch mit Morhof korrespondierte, eine Methode zu finden, um in der Geschichtsschreibung auf der Grundlage der Quellen zu wahren Aussagen zu gelangen. Da er zugleich Jurist war und verschiedene Monarchen und Regierungen mit hervorragenden Rechtsgutachten unterstützte, forderte er "Parallel-Belege" auch in der Geschichtsschreibung. Wenn die Nachrichten in zwei unabhängig voneinander entstandenen Quellen ein Ereignis bestätigten, womöglich noch in drei oder mehr Quellenbelegen, dann war die Wahrscheinlichkeit hoch und noch höher, dass sich ein Ereignis genau so abgespielt hat, wie es in den Quellen zu lesen ist. Im 18. und 19. Jahrhundert wurde die Quellenkunde verfeinert, und man ging dazu über, Geschichtstheorien zu entwerfen. Das war dann nicht mehr die Entäußerung des göttlichen Heilsplanes, sondern die Betrachtung allein von Menschenwerk. Und die Spezialdisziplinen, derenVertretern der Begriff "Hilfswissenschaften" nicht gefällt, weil dieser sie zu bloßen Helfern degradiert, verselbständigten sich immer mehr: Diplomatik, Aktenkunde, Numismatik, Sphragistik, historische Namenkunde ...


    Der Begriff von "Literatur" wandelte sich beim Übergang vom 17. zum 18. Jahrhundert: ursprünglich war Literatur alles, was zu einem bestimmten Thema geschrieben worden war und "Literaturgeschichtsschreibung" die Gewinnung eines bibliographischen Überblicks, später bedeutete Literaturgeschichte - nur noch - Geschichte der schönen Literatur, der Belletristik. Und der "Polyhistor", der ursprünglich wie Morhof die "Literatur" über die verschiedensten Spezialdisziplinen zusammentrug, was in seiner Zeit durchaus ein Verdienst war, wurde spätestens mit dem 19. Jahrhundert zur Bezeichnung für einen verstaubten, emsigen antiquarischen Sammler, so einer Art Spitzweg-Type und lächerlichen Figur, der keinen Sinne mehr für große und schöne Ideen und Theorien entwickeln konnte.

    Schillers "Wallenstein"-Trilogie ab August, da könnte ich gern wieder mit dabei sein. Ich habe sie lange nicht mehr gelesen. Ich ahne, dass ich sie, ausgerüstet mit den Erfahrungen der Nachwende-Zeit ab 1990, heute ganz anders lesen würde.


    Meine mündliche Abiturprüfung 1974 in Erfurt galt Schillers "Wallenstein". Damals ging es um das "Zaudern" des Dramenhelden. Die beiden Freunde Goethe und Schiller tauschten sich aus über den "deutschen Nationalautor".

    Der Stern Napoleons war um 1798 aufgegangen. Konnte der "Friede des klassischen Weimar", der nach dem Frieden von Basel 1795 in Mitteldeutschland Einzug gehalten hatte, Bestand haben?


    "Weil ich den Frieden suchte, musst ich fallen", erinnere ich mich an eine Stelle.


    Na und die jetzigen Zeiten: "Nacht muss es sein, und Deine Sterne strahlen" (Seni), was zu DDR-Zeiten flugs im Volksmund verwandelt wurde in: "Dumm musst Du sein, und Deine Sterne strahlen."

    Vielleicht bekommen wir im Sommer solch eine Leserunde hin? Ich würde mich freuen.

    Nach längerer Zeit mal wieder hier.


    Der Klassiker wurde 1988 in einer ansprechenden zweisprachigen Reclam-Ausgabe mit vorzüglichen Kommentaren herausgegeben und 2020 wieder auf den Markt gebracht:


    Giovanni Boccaccio: Decameron. Zwanzig ausgewählte Novellen. Italienisch / Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Peter Brockmeier (Reclams Universal-Bibliothek. Nr. 8449). Ditzingen 2020. 431 S.


    (mit 11 Euro preiswert)



    https://literaturkritik.de/boc…eiten-der-pest,26852.html

    Von Dante Alighieri habe ich eine zweisprachige Ausgabe: La Commedia. Die Göttliche Komödie. III Paradiso / Paradis. In Prosa übersetzt und kommentiert von Hartmut Köhler. Philipp Reclam jun. Stuttgart 2012.


    In Insel-Verlag erschien: Francesco Petrarca: Canzoniere. Rerum vulgarium fragmenta. Zweisprachige Ausgabe. Ausgewählt und aus dem Italienischen übersetzt von Karlheinz Stierle. Insel Verlag. Berlin 2011.



    In der DDR kostete 9,60 Mark, wie dem Schutzumschlag zu entnehmen ist und typisch für das Verlegen ansprechend ausgestatteter Klassiker-Ausgaben war:


    Francesco Petrarca: Dichtung und Prosa. Herausgegeben von Horst Heintze. Rütten & Loening. Berlin 1968.


    Schließlich handelt es sich zwar nicht um Belletristik, aber um ein sehr einflussreiches Buch von Cesare Beccaria (1738-1794) aus dem Jahr 1764, das die europäischen Verfechter von Todesstrafe und Folter in argumentative Bedrängnis brachte. Der katholische Klerus brachte dieses Werk auf den Index, noch 1871 wurde sein Autor als "gottloser" Literat bezeichnet, dessen Denkmal in Mailand niedergerissen werden sollte. Die Kaiserin Katharina II. nutzte das Buch zusammen mit Montesquieus Werk "De L'Esprit des lois" für ihre Instruktion für die Gesetzgebende Versammlung von 1767, in Frankreich wurde diese von der Zensur verboten.


    Cesare Beccaria: Dei delitti e delle pene. Milano 1994.


    Karl Ferdinand Hommel: Des Herrn Marquis von Beccaria unsterbliches Werk von Verbrechen und Strafen. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von John Lekschas (Philosophische Studientexte). Akademie-Verlag. Berlin 1966.


    Bei dem Übersetzer, dem Leipziger Strafrechtslehrer Karl Ferdinand Hommel (1722-1781), hörte der Student Johann Wolfgang Goethe.

    Die Italiener Mantegna und Bellini waren Zeitgenossen in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts und miteinander verwandt. Sie arbeiteten zusammen, wurden aber auch Konkurrenten und entwickelten unterschiedliche Malstile. Die Nationalgalerie besitzt eine reichhaltige Sammlung von Gemälden der italienischen Renaissance. Dieser gemeinsam mit britischen Ausstellern gestaltete Gemäldevergleich wird für uns ein ästhetischer Genuss und lehrreich sein.

    https://www.smb.museum/ausstel…AVHryCezTf9BW9N8GSqD8hHt4

    Hallo Jaqui,


    ich habe das Tagebuch des Peter Hagendorf (1601-1679) über die Jahre 1625-1649 (also noch ein Jahr nach Friedensschluss) in der gedruckten Ausgabe gelesen, die Jan Peters (1932-2011) herausgegeben hatte, der in der Familie eines antifaschistischen Emigranten in Schweden aufgewachsen war, an der Akademie der Wissenschaften in Berlin ("Die alten Schweden" 1981) bis 1991 gearbeitet hatte, die dann "abgewickelt" wurde, und in Potsdam weiter an einem Projekt arbeiten durfte: der Erforschung von Selbstzeugnissen einfacher Menschen, von denen es im 17. Jahrhundert nur wenige gab. So:


    Peter Hagendorf: Tagebuch eines Söldners aus dem Dreißigjährigen Krieg. Göttingen 2012.


    In Österreich könnte man das Buch eventuell über Fernleihe bestellen.

    Das Digitalisat aber gibt die Handschrift wieder, deren Lektüre dann einige Fertigkeiten im Lesen alter Handschriften abverlangen dürfte:

    https://digital.staatsbiblioth…1&PHYSID=PHYS_0001&DMDID=

    Ich habe auch die weiteren Bemerkungen darunter noch gar nicht gelesen und mich in den Seume-Thread veriirrt - mache mal sicher eine Pause, ich kann jetzt sowieso keine Ruhe finden.



    Hallo Zefira ,

    als sich Goethe mit Schiller zusammentat, um in den "Xenien" zahlreiche seiner Zeitgenossen zu verspotten, war er noch nicht fünfzig Jahre, Schiller noch nicht vierzig Jahre alt. Sicher fühlten sich etliche dieser Schriftsteller ungerecht behandelt. Goethe und Schiller nahmen vor allem diejenigen Literaten aufs Korn, die ihrer Ansicht nach zu leichte Kost boten, also Aufklärungsschriftsteller, die leicht eingängige Antworten zu bieten schienen, wie zum Beispiel Friedrich Nicolai in Berlin.

    Das von Dir zitierte Gedicht findet sich in einem Alterswerk, den "Zahmen Xenien", die 1827 in einer Gedichtausgabe "Letzter Hand" erschienen. Da war Goethe 78 Jahre alt. König Lear war ein Narr, wenn er von seinen Kindern bedingungslose Liebe verlangte. Hat sich aber nicht auch Goethe wie ein Narr verhalten, als er 1823 um die Hand der 16jährigen Ulrike von Levetzow anhielt?

    In diesem Gedicht geht es fast knittelvers-mäßig zu, wie in Goethes Jugendwerk, wenn ich weiter unten die "tiefe" Zeile wiederfand, die mir tatsächlich immer wieder einfiel und ich nicht mehr wusste, woher ich sie kannte:

    "Manches können wir nicht verstehen, lebt nur so fort, es wird schon gehn".


    Damals als "aggressiv" empfundene Xenien, im Alter "Zahme Xenien":


    wer literarisch an die Öffentlichkeit trat, musste auch Spott einstecken können, wenn das auch damals die wenigsten konnten.

    Wie sehr stechen aber diese heute relativ harmlos anmutenden Auseinandersetzungen



    - das Phänomen der "Lohnschreiberei" hatte ja einen ziemlich ernsten Hintergrund, die wenigsten konnten sich als "freie Schriftsteller" auf dem literarischen Markt behaupten, sieh die Diskussionen hier im Forum über Johann Gottfried Seume und seine Wanderstiefel - und selbst bei den Weimarer Dioskuren machte es einen Unterschied, ob man 4000 Taler Einkünfte hatte oder 200 und so ein adeliges Frählein heimführen wollte -


    stechen diese Sticheleien ab von dem heutigen Hass, der Forderung nach eindeutiger Parteinahme in einer komplexen Welt mit schwer verständlichen Zusammenhängen, die vielfältige Antworten zulässt, aber man muss sich in bestimmten Medien unter "links" oder "rechts", "grün" oder "Nazi" eingeordnet sehen,


    nein, also flüchtet man im Alter, wenn man noch kann, in Zeiten, in denen es einen derartigen Hass noch nicht gab.


    Oder doch schon? Viel von diesem vernichtenden Haß, der auch die literarische Welt erfasste, brachte die Französische Revolution mit sich. 1793 wurde Caroline Böhmer, die mit dem Mainzer Revolutionär Georg Forster verheiratet war, zusammen mit anderen Frauen lediglich ihrer vermuteten Gesinnung wegen auf einer Festung eingesperrt, der junge August Wilhelm von Schlegel versuchte sie dort herauszuholen. Goethe hat beschrieben, wie der Mob einen Mainzer Revolutionär schlug und mißhandelte, bis der Weimarer Staatsmann selbst einschritt.


    Oder in Nantes lässt 1793 ein wildgewordener Revolutionär (Carrier) tausende unschuldige Opfer in den Fluss werfen, Stefan Zweig schildert, wie ein umgedrehter Oratorianerpriester (Fouche) zum "Mitrailleur von Lyon" wurde und Tausende wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Schicht eiskalt erschießen ließ.


    Ich weiß, man könnte sagen, ein Linker in der Jugendzeit arbeitet sich im Alter, konservativ geworden, an den Revolutionslegenden der DDR-Zeit ab, in der ein Marat zum Volkshelden erhoben wurde, der sich in seinen Aufrufen als "Volksfreund" nicht mit 10000 zu Tötenden zufrieden gab, sondern lieber noch ein paar Nullen anhing.


    (Das ist jetzt die Goethezeit, 1793 schrieb er den "Reineke Fuchs")


    "Mein" Karamzin hatte einen einzigen Gegner (außer relativ harmlosen literarischen Neidern, mit denen er gar nicht erst die Klingen kreuzen wollte), einen feindlich Gesinnten, der ihn richtig übel politisch als "Jakobiner" und "Franzosenfreund" kurz vor dem Einfall Napoleons 1812 beim Zaren anschwärzte - Karamzin ließ sich später mit ihm an der Tafel nieder und sah, wie Fürst Pavel Golenischtschew-Kutuzow derart beschämt mächtig ins Schwitzen kam.



    1827 war Goethe, in der "Biedermeierzeit" vor der nächsten Revolution, altersmilde, er hörte schon in England die Lokomotiven keuchen und atmet hier noch den Geruch der Pflaume ein.


    Aber man lasse sich auch nicht gänzlich täuschen: er teilte auch noch aus und konnte sich das als gefeierter Schriftsteller leisten, vor dem sich die Kleists, Hölderlins und Heines wegducken mussten.


    Es geht bald weiter mit den nächsten Kapiteln Otfried Höffes, mein reales Leben hält, wie hier schon angedeutet, vieles bereit, das dem Alternden einige Bewegung abverlangt.

    @JH Newman

    Otfried Höffe beginnt sein Buch mit Überlegungen, die Du ebenfalls anstellst.


    Alter und Altern hätten in der Öffentlichkeit bisher kaum die nötige Aufmerksamkeit gefunden. Durch den „demographischen Wandel“ würden aber diese Themen verstärkt beachtet. „Die Philosophie meldet sich aber immer noch kaum zu Wort“ (S. 11).


    Die Leitfrage Höffes lautet: Gibt es eine „Kunst“ des Alterns ? Dabei ist unter „Kunst“ nicht künstlerisches Schaffen zu verstehen, sondern das „Können“, die Fähigkeit der konstruktiven Lebensbewältigung.


    Höffe wendet sich vehement gegen die Übermacht der Ökonomie, die den alternden Menschen nur zum Gegenstand finanzieller Geschäfte degradiert. Das anglophone Gequatsche des Managements mache sich auch auf diesem Gebiet überaus lästig bemerkbar, die Management-Sprache und BWL-Mentalität bringe solche Wortungetüme hervor, wie den „Effizienzpakt“ (beschönigend für Einsparungen) und gewissermaßen als Krönung das „sozialverträgliche Frühableben“. Einer der ersten literarisch-belletristischen Ausflüge Otfried Höffes bezieht sich auf Gogols „Die Nase“, in der ein Arzt beteuert, er habe keine finanziellen Interessen. So etwas könnten aber heute nur reiche Erben oder Geldspekulanten von sich sagen, auch Ärzte sind natürlich auf angemessene finanzielle Zuwendungen angewiesen.


    Höffe geht auf drei philosophische Altersdiskurse ein: 1. Die Ethik des glücklich-gelungenen Lebens, wie sie etwa in Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten entwickelt wurde, 2.) die Ethik der moralischen Anforderungen, die Ethik des „kollektiven Wohls“, wie sie etwa bei John Stuart Mill und im britischen Utilitarismus zum Ausdruck kam, sowie 3.) die Moralkritik, wie sie radikal von Friedrich Nietzsche geäußert wurde. Der erste beträfe die „eudaimonistische Altersethik“ als Lebenskunst, die deontologische Altersethik frage als zweites danach, wie alte Menschen behandelt werden sollten, die Kritik beträfe negative Altersbilder.


    Philosophie und Medizin sollten im Sinne des „Arist-o-crates“ kooperieren: des „Aristo-teles“ sowie des „Crates“ = Hippokrates (S. 22). Gar nicht selten gäbe es eine Personalunion, eine Doppelbegabung als Arzt und als Philosoph zugleich, wie bei dem legendenumwobenen Empedokles in der Antike.

    Besonders im islamischen Bereich des Mittelalters sei häufig die Einheit von Körper und Geist betont worden, so von Ibn Sina (Avicenna) 1027, dem Leibarzt Ab Bahr Ibn Tufail und Ibn Ruschd (Averroes). Marsilius von Padua, der Autor eines Friedensvorschlages im 14. Jahrhundert, Paracelus, der sogar behauptete, seine Patienten zu lieben, und John Locke waren Ärzte und Philosophen zugleich (bei letzterem hatte ich zuerst die Pädagogik und Erkenntnistheorie im Auge, nicht sogleich seine Tätigkeit als Arzt).


    Gerade Avicenna und Averroes, möchte ich hinzufügen, wurden von dem aus Glauchau stammenden späteren Chemnitzer Bürgermeister, dem Arzt und Begründer dreier Geowissenschaften (Geologie, Mineralogie, Hüttenkunde) Georg Agricola (1494-1555) intensiv studiert, der sich dem Menschen wie dem einträglichen Bergbau seiner sächsischen Heimat gleichermaßen zuwandte und überaus ausgeglichen schrieb.

    Die Ärzte hätten sich von drei Maximen leiten zu lassen: dem Patientenwohl und der Schadensminimierung (wie sie im Eid des Hippokrates festgehalten sind), dann aber auch in neuester Zeit der Selbstbestimmung des Patienten.


    Diese Formulierung Höffes hat mich gerade in meiner jetzigen Situation berührt:


    ... Dazu zählt keine diagnostische und therapeutische Allwissenheit, wohl aber die Pflicht zur ständigen Fortbildung. Der Arzt muss nicht, wie Paracelsus behauptet, um den Patienten heilen zu können, ihn lieben. Unverzichtbar sind aber Verständnis und Einfühlungsvermögen, Gesprächsbereitschaft und Geduld, die Fähigkeit, zuzuhören und Mut zu machen, sowie die Bereitschaft, menschlich-seelische Probleme nicht bloß zu ‚somatisieren‘. Angst und Hoffnungslosigkeit verdienen mehr, als zu einer Depression etikettiert zu werden, die mit Psychopharmaka schon optimal behandelt werde.“ (S. 26)


    Es tut jetzt gut, so etwas zu lesen.

    In letzter Zeit gibt es in meiner unmittelbaren Umgebung Lebensereignisse, die tief eingreifen, mich sehr in Anspruch nehmen und zur Konzentration veranlassen. Daher kann ich an den meisten Diskussionen, die hier im Forum laufen, nicht teilnehmen.


    Doch ein Buch lenkt mich gar nicht von diesen Umständen ab, sondern führt auf eine mich angenehm berührende Weise an sie heran:


    Otfried Höffe. Die hohe Kunst des Alterns. Kleine Philosophie des guten Lebens. C. H. Beck Verlag. München 2018. 217 Seiten.


    Ich werde bald mehr dazu schreiben. Und vielleicht kommen wir über dieses Buch wieder ins Gespräch.


    Es gab bereits mehrere Rundfunkinterviews mit dem Autor Otfried Höffe, einem der herausragenden deutschen Philosophen der Gegenwart, der über Aristoteles und Kant geschrieben hat.

    Doch an die Philosophie wird auch der Anspruch herangetragen, nicht nur Klassiker zu interpretieren, sondern auch Hilfe für das Nachdenken über die Lebensgestaltung anzubieten.

    Zu DDR-Zeiten gab es zum Beispiel nur eine Lehrstuhlinhaberin, die die Kombination Philosophie und Medizin vertrat und auch dadurch zu überzeugen suchte, dass sie drei Kinder aufzog. Dabei war der Bedarf an Information über die Grenzbereiche des menschlichen Lebens und Sterbens gerade in einer vorwiegend nichtreligiösen Gesellschaft riesig (biologische Einflüsse auf die individuelle Entwicklung, Schwangerschaftsabbruch, geistige und körperliche Behinderung, würdevolles Altern, selbstbestimmtes Sterben).

    Doch waren das Tabuthemen, weil ja der durch die sozialistische Erziehung zu formende, immer im Kollektiv ohne ausgeprägten Anspruch auf Individualität lebende Mensch vor 1989 nach dem Willen der Partei gar nicht über solche Themen nachzudenken hatte. Einen Teil des Diskussionsbedarfs fing angesichts des Mangels einer relativ unabhängigen literarischen Öffentlichkeit die schöne Literatur auf (Christa Wolf, Brigitte Reimann, Maxi Wander), doch waren die Autorinnen oft selbst ratlos, traumatisiert oder unsicher, um wirksame Lebenshilfe vermitteln zu können.


    Geistreiche Plaudereien in den Medien sind vielleicht einmal unterhaltend, aber beim Altern, mit dem gemeinhin die Themen Krankheit und Tod verbunden werden, geht es um eine sehr viele Menschen ernsthaft berührende Problematik. Otfried Höffe führt in einer Auswahl das an, was Denker seit der Antike darüber gesagt haben, die Ergebnisse der modernen Medizin und der Alternsforschung werden herangezogen.

    Im Grunde war ich schon sehr früh, seit der Kindheit, mit dieser Problematik in der Lebensumgebung konfrontiert und habe eine große Menge an Literatur konsumiert, die allerdings oft Ratlosigkeit hinterließ.


    Zur Einführung vielleicht die folgende Rezension:


    http://www.informationsmittel-…n.de/showfile.php?id=9541


    Ich möchte mir mit Euch einmal ansehen, wie Otfried Höffe über das Altern nachdenkt.

    Man darf sich nicht vorstellen, dass Theodor Fontane die Mark Brandenburg tatsächlich zu Fuß durchstreifte, wie das Rousseau, Goethe oder Karl Philipp Moritz in anderen Territorien taten. Im Frühjahr 1981 hatte ich tatsächlich die Gelegenheit, als Fußgänger die märkischen Landschaften auf den Spuren Fontanes zu durchlaufen. Die Landkarten waren ungenau. Mitunter lagerten am Wegesrand Gruppen sowjetischer Soldaten und Offiziere, die dort ihre Übungen abhielten. Zumeist konnte ich mich erst dann mit den einfachen Soldaten auf Russisch unterhalten, wenn ich zuvor den Dienstältesten angesprochen hatte.


    Fontanes "Wanderungen" sind vor allem Streifzüge durch die Geschichte der Schlösser und Gutshöfe sowie Berichte über die Geschlechter, die sie bewohnten, keine Landschaftsschilderungen