Beiträge von Karamzin

    Zefira, vielen Dank für diese Initiative!


    Bei einer Leserunde zu Tolstojs "Auferstehung" wäre ich dabei. Ich würde zur Begleitung auch einige Hinweise aus der russischen Forschung beibringen können.


    Was den Terminvorschlag betrifft, will ich zwar die anderen Teilnehmer der Leserunde nicht zu sehr beeinflussen, kann aber sagen, dass mir ein sofortiger Beginn wegen Arbeitsbelastung eher weniger passen würde und ich nahezu den ganzen September über im Ausland und dort nur selten im Internet sein werde.

    Hier ist ja erfreulich viel los!:)


    JHNewman Vollständig war die DDR-Dostoevskij-Ausgabe also nicht, weil sie die Publizistik ausließ; "Die Dämonen" wurden nachgeschoben.


    Die Übersetzungen von Svetlana Geier sind in Nuancen "anders", ob sie "besser" sind als bisherige Übertragungen, dürfte Geschmackssache sein. Ich habe jedenfalls keine Sprachvergleiche angestellt.


    Die "Aufzeichnungen eines Jägers" Ivan Turgenevs werden ebenfalls von Vera Bischitzky

    übersetzt, es geht gut voran, und sie wird sicher bald fertig sein. Sie ist auch ausgebildete Anglistin und denkt immer sehr über verschiedene Übersetzungsvarianten nach.


    Bei einer Leserunde über "Die Auferstehung" Lev Tolstojs wäre ich ebenfalls gern dabei.

    Eine Frage zu Gogol hätte ich noch, gibt es da eine gute Werkausgabe?


    Grüße, Peter

    Zu DDR-Zeiten gab es zwar die eben erwähnte 13bändige Dostoevskij-Ausgabe sowie Turgenev- und Tolstoj-Werkausgaben, jedoch keine Gogol-Gesamtausgabe. Man hätte damals bei annäherndem Vollständigkeitsanspruch auch Werke aufnehmen müssen, die von den Entscheidungsträgern als "reaktionär" bewertet wurden oder bei denen die Religiosität und übrigens auch der russische Großmachtanspruch im Vordergrund standen. Aus morgigem Anlass des 5. Mai: Selbst die "Revelations" zur russischen Außenpolitik von Karl Marx waren wie die Artikel von Friedrich Engels zum Slawentum und Panslawismus verboten, eine Promotionsverteidigung zu diesem Thema fand unter Ausschluß der Öffentlichkeit statt. Im Westen veranstaltete Bernd Rabehl eine deutsche Ausgabe, der von den 68ern nach ganz rechts abdriftete.


    Mit dem Aufbau-Verlag und natürlich Volk und Welt für die Sowjetliteratur gab es immerhin eine infrastrukturelle Unterstützung, die natürlich nach 1990 wie das Verlagswesen insgesamt zerschlagen werden musste (dazu das Buch von Christoh Links)


    So gab es also nur Einzelausgaben, z.B. der "Petersburger Skizzen" in der schwarzen Serie von Reclam in Leipzig.

    Dieses Problem stellte sich übrigens auch bei F. M. Dostoevskij. Da man sich vorwiegend auf Belletristik konzentrierte und nicht dessen publizistischen Werke berücksichtigte, fiel das nur bei den "Dämonen" auf.


    Empfehlen würde ich die Neuübersetzung der "Toten Seelen" durch Vera Bischitzky, die auch eine neue Übersetzung von Gontscharows "Oblomow" vorgelegt hat.https://de.wikipedia.org/wiki/Vera_Bischitzky und, obwohl ich selbst nicht Literatur am Bildschirm lese, dann die digitale Ausgabe.


    Von meinem "Helden" Karamzin gibt es zwar eine 18bändige russische Werkausgabe, doch ist sie nicht zuverlässig und schlecht kommentiert.

    1. Weiße Nächte

    2. Schuld und Sühne

    3. Die Brüder Karamasow

    4. Der Idiot

    5. Der Jüngling

    Zauberhaft diese „Weißen Nächte“, die ich dann in voller Länge erleben durfte, als ich in Leningrad lebte.

    „Schuld und Sühne“ habe ich zum ersten Mal als Zwanzigjähriger gelesen, als ich selbst Fieber hatte. Der Held wird auch selbst von Fieberanfällen geschüttelt. Die Übersetzerin Svetlana Geier hat anstelle von „Schuld und Sühne“ mit der Übersetzung „Verbrechen und Strafe“, die „Prestuplenie i nakazanie“ auch näher kommt, die religiöse Terminologie in den Hintergrund treten lassen. Sie knüpft damit an das gerade auch in Russland unter Katharina der Großen populär gewordene Buch des Cesare Beccaria „Über Verbrechen und Strafen“ (1764) an, in dem der italienische Jurist die Todesstrafe und die Folter ablehnte; Dostoevskij dürfte vor allem an den Buchtitel gedacht haben..

    Aus „Die Brüder Karamasow“ habe ich die typischen Szenen aus Altrussland (Orgie auf dem Lande, gläubige Einsiedler) und die Gerichtsszenen in Erinnerung. Der „Großinquisitor“ gemahnte an Auswüchse im Realsozialismus.

    Dostoevskijs Roman „Die Dämonen“ wurde bei uns in der Literaturwissenschaft als Verunglimpfung von Revolutionären dargestellt, der „individuelle Terror“ eines Nečaev wie entsprechende Erscheinungen der damaligen Gegenwart (gewaltsame Ausflüsse bei manchen 68ern, RAF-Terrorismus, Rote Brigaden usw.) allerdings strikt abgelehnt, da sich „Revolutionäre“ ja in Massenorganisationen zu organisieren hatten. „Die Dämonen“ wurden deshalb auch zunächt nicht in die dreizehnbändige Dostoevskij-Werkausgabe im Aufbau-Verlag aufgenommen. Die Dostoevskij-Übersetzerin Margit Bräuer hat sich 2017 an diese Jahre erinnert in: Ingrid Kästner/Michael Schippan (Hg.): Deutsch-russische Zusammenarbeit wissenschaftlicher und kultureller Institutionen vom 18. zum 20. Jahrhundert (Europäische Wissenschaftsbeziehungen; 14). Aachen 2017.


    Schon damals beunruhigte, dass sich Gruppen einer Minderheit anmaßten, moralisch der Masse der Bevölkerung überlegen zu sein und in ihrem Namen „Schicksal zu spielen“.


    An dieser Stelle möchte ich die neue Biographie des Schweizer Autors empfehlen:

    Andreas Guski: Dostojewskij. Eine Biographie. Verlag C. H. Beck, München 2018, 460 S., 28,- Eu.

    Nachdem ich sie ausgelesen hatte, erschien gerade in der vorgestrigen Frankfurter Allgemeinen Zeitung, 2. Mai 2018, Nr. 101, S. 12, eine Rezension von Christiane Pöhlmann.

    Nun ärgere ich mich jedes Mal über mich, dass ich mich auch jedes Mal von dieser vergleichsweise teuren und durch ihr riesiges Format im Alltag schwer handhabbaren Zeitung ärgern lasse


    (wegen ihrer Verherrlichung von Finanzmagnaten mit ganzseitigen Annoncen, der notorischen Vernachlässigung der Interessen der Millionen Religionslosen im Land und dafür Bevorzugung endloser Bibel-, Kreuzesdebatten für die gebildete Mittelschicht, kein Mensch liest im Osten dieses riesengroße Blatt und der mit westlichen Vorurteilen aus dem Kalten Krieg belasteten Abneigung gegenüber Russland und seinen Bewohnern, allein die Journalistin Kerstin Holm bedient dieses Themenfeld mit Illusionen über große Opposition – Abschweifung weitgehend zu Ende, die in einer gleichfalls gelesenen Rezension der neuen Lawrence Sterne-Ausgabe als dessen Stilmittel hingestellt wird, aber ich bin ja nicht Sterne, mag diesen Humor eigentlich auch nicht so sehr, Abschweifung vom Thema ...)


    ja also in dieser Rezension wird darauf hingewiesen, dass Andreas Guski in den polarisierenden Auseinandersetzung über Dostoevskij seinen Kurs durchhält, dass er nicht in das nur Eingeweihten zugängliche literaturwissenschaftliche Kauderwelsch verfällt, seinen Helden in die Geschichte seiner Zeit stellt und auf die Etappen und Eigenart der Rezeption seiner Werke eingeht.

    Die Rezensentin, die mit der Überschrift „Schuld und Shitstorm“ internet-affine Leser bei Laune halten will, vermerkt, dass Guski nicht die Übersetzungen Svetlana Geiers zugrunde legt, und verweist m. E. zu Recht darauf, dass es bei der Darstellung seiner Auseinandersetzung mit Turgenjew und Tolstoj (die zu DDR-Zeiten weitgehend ausgespart wurden, wo alle drei Autoren in zahlreichen geschmackvollen Ausgaben verlegt wurden) hier nur um Charaktere und Honorare geht, die unterschiedlichen literarischen Konzepte der Schriftsteller aber zu kurz kommen.

    Noch etwas zur Migrationsproblematik, beileibe nicht alle Migranten sind ja Flüchtlinge.


    Die Publizistin Caroline Fetscher sucht den inzwischen wohl an die 90.000 Unterzeichnern der nur aus zwei Sätzen bestehenden "Gemeinsamen Deklaration 2018" vom 15. März (vier Tage vor der Threaderöffnung hier) zu begegnen, indem sie die öffentlich angegebenen Berufe der Unterzeichner auf Korn nimmt, zum Teil ironisch "ad hominem".

    https://www.tagesspiegel.de/po…nde-buerger/21151466.html

    Darunter sind neben Schriftstellern wie Tellkamp, dem Publizisten Broder und Thilo Sarrazin außerordentlich viele Professoren, Oberärzte, Schauspieler, Künstler aller Sparten, Historiker, Pädagogen zu finden, also Leute, die keinesfalls die diffamierende Bezeichnung "die Abgehängten" verdienen ("abgehängter" Schinken, Dauerwurst usw.), auch der Psychologe Hans-Joachim Maaz, der das Wort von einem "Gefühlsstau" in der östlichen Bevölkerung aufbrachte. Monika Maron gehörte nicht zu den Erstunterzeichnern, man kann vermuten, dass sie nicht so schnell bei Massenauftritten dabei sein will, vielleicht gibt es auch inhaltliche Differenzen. Das sind Menschen, die sich Sorgen vor allem bezüglich der einen Frage machen: wie dem gefühlten Verlust an Rechtstaatlichkeit begegnet werden kann. Die Deklaration wird in den Bundestag gelangen, wohin auch sonst am besten in einer Demokratie?


    Wenn ich Führungsoffiziere, Kapitäne zur See und leitende Richter unter den Unterzeichnenden sehe, dann nehme ich an, dass sie von Berufs wegen wissen, was im Land abgeht, und was sie tun. Natürlich können sich auch Neonazis und alle möglichen Finsterlinge unter die Unterzeichnenden gemischt haben, aber das ist immer möglich, damit muss man rechnen, wie im Fussballstation, wo auch Hooligans neben echten Fans auflaufen können.

    Auch ich einmal deutlich: Im Land muss ein Dialog beginnen, aber so, wie Frau Fetscher das macht, wird das nichts.


    "Die Liste der Namen ist ein kostbares Geschenk". Für wen?!!

    Wenn Frau Fetscher meint, dass es schon für Studienzwecke interessant sei, wer so alles unterzeichnet hat, dann will ich bloß hoffen, dass sie vielleicht zu jung ist, um zu ermessen, was das für Assoziationen auslösen kann: bis zur Zahl 2018 sind die Namen (1990 lernten wir erstmals den Begriff "Klarnamen" kennen) der Unterzeichnenden allen zugänglich (auch radikalen Schlägern und Denunzianten, Familienangehörige können einbezogen werden), wenn Frau Fetscher auch die Namen der übrigen zehntausenden Unterzeichner kennen sollte (woher dann aber?)


    dann erinnere ich mich eben doch, vor einigen Tagen noch einmal die erste regimekritische Publikation zur Hand genommen zu haben, die Anfang 1990 zensurfrei erscheinen konnte: "Ich liebe Euch doch alle". Lageberichte des MfS Januar 1989 - November 1989, herausgegeben von Stefan Wolle und Armin Mitter. Berlin 1990 (und diese beiden Herausgeber wurden bald darauf von Joachim Gauck gefeuert, weil sie Belastendes über Lothar de Maiziere gefunden zu haben glaubten). Die Dienste waren einerseits sehr gut namentlich informiert über all die Oppositionellen, zunächst vor allem aus Kirchengruppen. Aus zunächst einigen Dutzend Kritikern mit Konzentration auf Berlin, Leipzig und Dresden wurden dann im Herbst Hunderttausende und Millionen. Die Namen der ersten "Dissidenten" tauchten dann fast alle später wieder in der Politik auf, etliche wurden Parteigründer und Minister in der Regierung Lothar de Maizieres.

    "Vorkriegszeit" bei Monika Maron

    Schon ein Unterschied zur damaligen Situation wird sichtbar: zu den schärfsten Kritikern der Migrationspolitik der Regierung gehörten heute Leiter des Verfassungsschutzes und des Bundesnachrichtendienstes, die wissen mussten, wie sich die Lage seit September 2015 entwickelte. Und wenn sich führende Militärs und leitende Richter ihnen anschließen, dann bin ich einigermaßen beruhigt, dass hier wahrscheinlich nicht mehr ein straff zentralisierter Machtapparat sein Eigenleben entfalten und kritische Stimmen im Innern zum Schweigen bringen wird. Die DDR implodierte, ohne dass Blut floss, das ist doch auch eine zivilisatorische Leistung, die von Leipzig und Dresden ausging und wo gesehen wurde, dass auf der anderen Seite, der Partei, bei den Noch-Anhängern des Sozialismus, ja auch denkende Menschen vorhanden waren, die zunehmend zu kritischen Positionen gelangten und nicht auf das Volk geschossen wurde, wie in Peking oder Bukarest.

    Wenn behauptet wird, dass es vor allem um die Durchsetzung der Rechtstaatlichkeit oder die Wiederherstellung rechtstaatlicher Grundsätze geht, dann kann man dieses Anliegen zwar leugnen, es kann aber nicht zurückgewiesen werden, nur weil das von der CSU in Auftrag gegebene Gutachten Di Fabrios von einer Mehrheit an Juristen bestritten wird. Das muss alles auf den Tisch, die bisher nur moralisch begründete Politik muss auch nach rechtlichen Maßstäben diskutiert werden können.


    Zum Bericht @JHNewmans: ja ich habe auch eine Zeitlang in London gelebt und mich hat besonders beeindruckt diese Zurückhaltung, Unaufdringlichkeit ("distinguished") im Umgang der Engländer und der Vertreter vieler anderer Völker. In so einer riesigen Stadt haben sich praktikable Regeln des gesitteten Umgangs miteinander herausgebildet. In dieser Zeit haben sich keinerlei Szenen der Gewalt abgespielt, der Wirt schwingt zum Feierabend seine Kupferglocke, und alles verlässt in Minutenschnelle friedlich den Pub.

    In Berlin und Hamburg hingegen kommt es zu Eruptionen maßloser Gewalt und eines Hasses auf Staatsorgane und Andersdenkende, der fast mit Vergnügen verbunden ist.

    Es geht nicht um "Ausländerfeindlichkeit" an sich, sehr viele von uns haben täglich mit Ausländern zu tun, sind mit ihnen befreundet.

    Wenn hier niemand ausgegrenzt werden soll: der kollektivistisch ausgerichtete Islam, der von den Gläubigen vorbehaltlose Unterwerfung verlangt, während das heutige Christentum weitgehend das individualistische Prinzip vertritt und in seinen Geboten jeden einzelnen anspricht: "Du sollst" (wie heute in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" zu lesen war, deren pauschal antirussische, kenntnisfrei undifferenzierte, nur auf Putin konzentrierte Haltung sowie die weitgehende Mißachtung der Interessen der Religionsfreien mich ansonsten abstößt),

    dieser Islam sieht Ungläubige - zuerst in den eigenen Reihen, Sunniten und Schiiten wie bei uns in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges - Juden und Homosexuelle als minderwertig an und lädt ein zu deren Verfolgung.


    Noch einige Sätze, dann verabschiede ich mich wieder für einige Zeit:

    Man nenne auch nur ein europäisches Land, in dem das Vorgehen der deutschen Regierung 2015 vorbehaltlos begrüßt würde! "Wir" folgten den Geboten der Mitmenschlichkeit. Es wurden 2015 nicht nur die Busse mit einigen Tausenden Migranten aus Budapest durchgelassen, sondern die Grenze bleibt generell monatelang offen wie ein Scheunentor. "Wir" sind ja so moralisch gewesen, wie das auch in diesem Artikel von Caroline Fetscher zum Ausdruck kommt - Pech nur, dass das im übrigen Europa nicht entsprechend gewürdigt wird - dass "wir" es uns leisten können, sowohl Russland als auch Polen gleichzeitig moralisch zu verurteilen und zu bekämpfen, obwohl diese Mächte untereinander spinnefeind waren. Und "wir" vergessen, was den Völkern dieser Länder im 20. Jahrhundert angetan wurde (27 Mio. bzw. 6 Millionen Tote), die sich im Falle von Sanktionen und Drohungen von außen bloß wieder um die eigenen Führer scharen. "Wir" liefern Waffen nur an die Guten, Pech, wenn sich dann die Lage ändert und die Kurden damit getötet werden.

    Nein, "wir" sind weitgehend isoliert. Diese Selbstgerechtigkeit wird ihre Folgen haben.

    Besonderheiten 'weiblicher' Kommunikation


    Heute möchte ich einen Aspekt ansprechen, der in unserer Diskussion noch nicht so viel Beachtung gefunden hat. Monika Maron rückt als eine Autorin mit Mina Wolf eine ebenfalls weibliche Akteurin in den Mittelpunkt, die wiederum gleichfalls schreibt.


    Möglicherweise sind wiederum Klischees in die Welt gesetzt worden, wenn die beiden Pearce oder John Gray mit zahlreichen "Mars und Venus"-Büchern in den 1990er Jahren auf die Besonderheiten männlicher und weiblicher Kommunikation in Büchern aufmerksam machten, die in Millionenauflagen erschienen und an denen sie natürlich tüchtig verdienten. Ich kam aus einer Gesellschaft, in der 93 Prozent aller Frauen der entsprechenden Altersgruppen berufstätig waren, es den Status der "Hausfrau" so gut wie nicht gab (vielleicht einige Arztgattinnen, aber insgesamt klang "Hausfrau" damals wie "asozial" = nicht arbeitend) und in der zwar, wie überall, zwischen Männern und Frauen auch zwischendurch Spannungen entstehen konnten. Aber das Verhältnis zwischen den Geschlechtern war insgesamt unkompliziert. Mit diesem ganzen "Genderscheiss", wie es freundlich im Roman heisst, kann eine berufstätige Frau, wie ich sie kenne, die voll im Leben steht, nichts anfangen. Die maßlosen Übertreibungen und extremen Deutungen der wirklichen Verhältnisse (60 Geschlechter) dürften eine Angelegenheit innerhalb von bestimmten akademischen, nach außen hin weitgehend abgeschlossenen und durch "Netzwerke" durchaus wirksamen Universitätsschichten sein, aber die Wirklichkeit von 80/90 Prozent der Menschen weitgehend verfehlen.

    Neu war in derartiger Ratgeber-Literatur der Hinweis darauf, dass es Unterschiede in der Kommunikation zwischen Frau und Mann gäbe, deren man sich nicht bewusst war und die erheblich dazu beitragen können, dass unbewusst Konflikte entstehen können. Bei Gray sieht man dann die US-"Hausfrau", die ihren Mann erwartet, der von der anstrengenden Erwerbsarbeit nach Hause kommt, nichts anderes möchte, als seine Beine hochlegen und eine Sportübertragung sehen will, während sie den ganzen Tag über einen großen Vorrat an Ungesagtem angestaut hat, den sie loswerden möchte, aber er hört überhaupt nicht mehr richtig zu.

    In früheren Zeiten sei etwa das gemeinsame Wäschewaschen am Fluss eine Gelegenheit für die Frauen gewesen, sich untereinander auszutauschen. Es gibt das Bild eines Frauen-Kaffeekränzchens: jede redet drauflos, jede ist imstande, gleich verschiedene Gesprächsfäden aufzunehmen (was Männer wahrscheinlich tatsächlich nicht können), von außen hört sich das alles ziemlich laut und unsortiert an, aber offenbar befriedigt auch dieses Zusammensein, die Frauen sind wieder einmal etwas losgeworden.


    Dann kommen noch bei John Gray die berühmten Zahlen, wie viele Worte mehr eine Frau am Tag loszuwerden hat, als der eher wortärmere Mann, das alles braucht man nicht so bierernst zu nehmen, man kennt viel mehr verquatschte Männer, die nicht aufhören können. Klischee voll im Gange...


    Aber ein Körnchen Wahrheit ist dennoch dran: Männer könnten demzufolge lernen, zuzuhören, während die Frau beim Sprechen inzwischen schon sortiert und sich dabei über etwas klar wird. Der gute fachmännische Rat des Mannes ist in dem Moment vielleicht gar nicht gefragt, sondern nur seine Fähigkeit, einfach mal den Mund zu halten und vielleicht nur einige sie ermunternde Floskeln hervorzubringen.

    Allerdings können Hilfestellungen zum unterschiedlichen Kommunikationsverhalten (Gray will 25.000 Paare therapiert haben) unter Umständen manchen Konflikt entschärfen oder gar nicht erst aufkommen lassen. Ich weiß nicht, wie viele Männer so etwas lesen. Wir kannten keine Ratgeberliteratur zu solchen Themen, nur die Belletristik gab Hilfe in zwischenmenschlichen Lebenslagen (etwa Maxie Wander, Brigitte Reimann, Christa Wolf).

    Ich kann mir vorstellen, dass jetzt manche Leserin (oder auch Leser) dieser Zeilen schon unwillig wird: Was schreibt denn der für ein abgedroschenes Zeug? (Ihr könnt das auch gern hier schreiben, das würde ich nicht übelnehmen!)


    Und nun komme ich wieder zu Monika Maron und ihrer Mina. Diese ist eine alleinstehende frei schaffende Frau, ohne Mann und Kinder in der Nähe. Aus westlicher Sicht die "Single-Problematik". Mina will sich nicht von jemandem abhängig machen lassen. Ihr Alltag ist nicht durch feste Arbeitszeiten strukturiert. Schöpferische Arbeit am Schreibtisch, zu der sie in dieser Lebensphase verurteilt ist, verträgt keine Kontrolle, keine "Stechuhr" einer Behörde oder Institution, manche Menschen arbeiten eben lieber nachts (auch ohne Sängerin) und müssen dann am Tag dafür ein paar Stunden schlafen. Der tägliche Kontakt mit Arbeitskolleginnen entfällt für Mina. Für Millionen Frauen in der DDR war hingegen der alltägliche Kontakt mit Kolleginnen und mit Männern am Arbeitsplatz fester Lebensbestandteil. Durch die sogenannte "Wiedervereinigung" (es wurde ja nichts "wieder"vereinigt, was es zuvor zu Lebzeiten gegeben hätte) wurden Millionen von Frauen aus diesen gewohnten Verhältnissen herausgerissen und zum Teil wieder an den heimischen Herd verbannt.

    Es ist für mich faszinierend, in der Darstellung von Schriftstellerinnen zu lesen, wie Frauen ihre Art der Kommunikation aufbauen. Ich lasse mir nicht nehmen, dass sich diese von der Art der männlichen Kommunikation zum Teil beträchtlich unterscheiden kann. Ganz große Literatur braucht das ja gar nicht zu sein, hier fiel schon der Name Thomas Mann.

    Mina Wolf unterhält sich mit Friedrich, der schippert aber durch die Gewässer, nunmehr vor allem in Nordeuropa - das ist eine für sie fremde Welt, gibt ihr jetzt nichts. Rosa gegenüber kann sie ihre Gefühle und Ängste loswerden, sie haben beide Verluste erlitten. Aber bei der Beantwortung der Fragen, was denn nun hinter all dem Mina jetzt Bedrängenden sei, da kann der Erzählerin auch kein "Frauenkränzchen" (für die Männer "Stammtisch") helfen, die Nachrichten in den Medien wiederholen sich und schläfern ein...

    Minas Kommunikationsverhalten, für das sie in normalen Zeiten alle Voraussetzungen mitbringen würde, ist gestört. Sie würde ja gern ein "Netzwerk" bauen, wie das Frauen wahrscheinlich besser können als Männer, aber die Situation dafür ist in der in Parteien gespaltenen Straße nicht gegeben.

    Und in solch eine Situation gestörter individueller und kollektiver Kommunikation (gefühlte "Vorkriegszeit") erscheint dann eine einbeinige Krähe als einzige Partnerin für eine Unterhaltung über das "Große und Ganze".

    Hallo Volker,


    für meine Begriffe siehst Du das alles so wie ich. Die Vorsicht Monika Marons dürfte nicht nur typisch für sie selbst sein, sondern für viele Angehörige ihrer Generation. Sie hat ja sogar noch als Kind den Zusammenbruch der ersten Diktatur erlebt, ein "Ende mit Schrecken". Ich fahre heute erst einmal mit dem Zug (habe nie ein Auto gehabt, kein Handy) in die Stadt, wo die vielen Krähen nisten. Viele Grüße

    Hallo Volker,


    auch ich freue mich, dass Du jetzt bei dem Buch mit als aktiver Leser dabei bist. Ich hoffe sehr, dass es Deiner Frau wieder besser geht, können doch solche Komplikationen schmerzhaft und belastend sein.

    Ich sehe aus Deinen Überlegungen und dem Link, dass Dich das Buch ebenfalls auf aktuelle politische Probleme der Gegenwart stößt, in der ganzen Welt und auch in unserem Land. Um auf meinen Eingangstext zurückzukommen:
    ich wusste natürlich, wer Monika Maron war, hatte jedoch tatsächlich seit der Wendezeit weitgehend vermieden, Gegenwartsliteratur zur Kenntnis zu nehmen. Damit konnte ich auch nicht an verschiedenen Diskussionen dieses Forums teilnehmen. Um 2012 hatte ich einmal gefragt, ob es neuere Literatur gäbe, die Trost spenden würde und mir bisher entgangen wäre, und erhielt auch verschiedene Anworten. Im Hinterkopf hatte ich dabei die Wirkung, die die erste Lektüre des "Nachsommers" Adalbert Stifters in tiefsten DDR-Zeiten 1981 hinterließ, als ich dachte, nicht mehr im Leben selbst die Alpen sehen zu können, und den Roman daraufhin noch mehrfach las (Flucht aus trister Lebenswirklichkeit in eine Idylle, die es im wirklichen Lebens nicht gegeben hat oder nur für Betuchte, die sich einen solchen "Ausstieg" aus dem Heute leisten konnten). Hier im Forum habe ich dann die verschiedenen Leserunden, so die zu Goethes "Wilhelm Meisters Wanderjahren" in Erinnerung, das war die Welt um 1800, in der ich mich viel bewege. Jemand hatte mich zu Recht darauf hingewiesen, dass meine häufigen DDR-Erinnerungen nur den Fluss der Betrachtungen der klassischen literarischen Texte störten, hier nervten und besser unterlassen werden sollten.

    Monika Maron spendet nun nicht etwa Trost, sondern stößt einen wieder in die Gegenwart, allerdings enthält ihr kleiner Roman auch poetische Momente, das ist ganz andere Kost.

    Aber ich habe hier sowieso schon sehr viel Persönliches von mir gegeben, ich bin also jetzt gespannt, was Ihr, Volker, weiterhin JHNewman und andere gelesen habt und was Euch auffällt.

    JHNewman,


    habe besten Dank für Deine Betrachtungen, die ich mehrfach gelesen habe. Ich glaube alles gut verstanden zu haben, was Du geschrieben hast, und es hat mich auch berührt. Du schreibst, wie wichtig für Dich nähere Bezugspersonen waren und sind.

    In meiner Kindheit hatte ich erlebt, dass sich zur Goldenen Hochzeit meiner Großeltern väterlicherseits in einerm Dresdener Vorort noch eine große Gemeinschaft von Verwandten und Bekannten einfand, die einen ganzen Saal füllte. Schon meine Eltern hatten nach 1950 ihre Geburtsstädte verlassen. Nach einem halben Jahrhundert sind nur noch drei Personen übrig geblieben: meine Frau, mein Sohn und ich, die wir in Berlin, einer Stadt leben, wo wir keinerlei Wurzeln haben und wo es keine Verwandten gibt.

    Will damit anhand der Entwicklung meiner Familie sagen: Innerhalb eines halben Jahrhunderts ist diese Großfamilie komplett verschwunden. Als meine allein in Karl-Marx-Stadt lebende Großmutter als letzte Verwandte mütterlicherseits 1985 hochbetagt starb und entsprechend ihrem Willen auf einer Wiese des Friedhofs beigesetzt wurde, gab es dort in dieser Stadt buchstäblich niemanden mehr, der sich hätte an sie erinnern können.


    Es hat vielleicht im 20. Jahrhundert überdurchschnittlich viele Einzelkinder in unseren Familien gegeben. Die Mobilität im Laufe unseres Lebens hat es mit sich gebracht, dass nur noch mein Sohn in seiner Geburtsstadt lebt, aber auch von Ost nach West umgezogen ist, was auf Berlin bezogen, Welten bedeuten kann. In seiner Schulklasse in Ostberlin gab es vielleicht zwei oder drei Kinder, die die Christenlehre besuchten; in Westberlin fand er sich hingegen allein mit einem muslimischen Mädchen in einer Klasse von lauter Schülern aus christlichen Elternhäusern wieder.


    Um auf den Roman von Monika Maron zurückzukommen: es erstaunt uns alle drei, die wir "Munin oder Chaos im Kopf" gelesen haben, nicht im geringsten dieses Gefühl des Fremdseins, des Unbehaustseins in einer Stadt, in der man zwar durchaus eine Reihe von Jahren gelebt hat, aber siebenmal umgezogen ist. Dass die Bewohner der Straße, ja selbst eines Hauses, einander nicht kennen und kaum verstehen, sich vielleicht gerade einmal freundlich grüßen, ist für mich überhaupt nichts Ungewöhnliches, sondern der Normalfall. Die Situation des Ehepaars Herforth, mit dem Mina Wolf ins Gespräch kommt, ist der unsrigen völlig ähnlich und dadurch sehr verständlich.


    Freunde, die es aus verschiedenen Lebensperioden gegeben hat und noch gibt, leben verstreut in verschiedenen Gegenden unseres Landes und Europas.

    Ich kann mir vorstellen, dass ich am Schluss noch in einer ganz anderen Gegend meinen Lebensabend verbringen könnte, interessante Menschen, mit denen man sich austauschen kann, gibt es überall.

    Ja und was die Frage des Leidens im Alter und der eventuell notwendig werdenden Pflege oder eines Hospizes betrifft: da wird man sich einfach auf kompetente, zuvor völlig fremde Hilfskräfte einstellen und verlassen.

    Newmans Passage ueber die nicht zur Verfuegung stehende Macht ueber das nicht mehr als lebenswetrt empfundene Leben hat mich sehr nachdenklich gemacht. Karamzin hat mir "aus der Patsche geholfen": Selber darf man, andere duerfen nicht. Das gefaellt mir.

    Nicht nur die Christen, die meisten von uns finden sich in der feierlichen Osternacht wieder. Die orthodoxen Russen strahlen und beglückwünschen sich, wenn auch an einem anderen Wochenende, auch ein Mitteleuropäer fühlt sich von der Schilderung einer Osternacht bei Kerzenschein durch Lev Tolstoj in "Krieg und Frieden" ergriffen. "Christos voskres!" "Christ ist auferstanden!" Er ist wirklich auferstanden.


    Hier aber finden sich eher düstere Gedanken, aneinandergereiht, sie passen vielleicht eher zum christlichen Karfreitag.

    Denn das Ganze - Volker - kann mich dann allerdings selbst doch nicht befriedigen. Es kann wohl überhaupt kaum jemand zu einer gefestigten, in sich schlüssigen Meinung für jeden Fall gelangen, gesellschaftliche Übereinkünfte dürften erst recht sehr schwierig werden. Dieser Komplex der Verfügung über das menschliche Leben gehört gewiss zu den kompliziertesten und umstrittensten, die es überhaupt gibt. Mancher dürfte seine Ansicht im Laufe seines Lebens mehrfach ändern, das wäre auch normal.


    Der Verlust an Religion - JHNewman, Du hast wahrscheinlich in diesem Fall zuerst vor allem in gesamtgesellschaftlichen Maßstäben gedacht - wird ja von denen nicht empfunden, die selbst nicht, deren Familien nicht religiös waren. Aber die bedrängenden Fragen bleiben bestehen in dem einen wie in dem anderen Falle, des Glaubens wie des Unglaubens.

    Fortschritte (Palliativmedizin, lebensverlängernde Maßnahmen, die man früher nicht für möglich hielt) und Gefahren der Zeit nach der großen Macht der Religionen, können sie überhaupt jemals ausgeglichen werden?

    Am Schluss ist sowieso jeder allein auf seinem Weg. In dem Roman der christlichen Autorin Christa Johannsen aus Halberstadt "Leibniz" heisst es: "Ich aber gehe in die Nacht." Der Schriftsteller und Reichshistoriograph Karamzin schrieb in einem Brief, dass ihn bei dem Gedanken an seinen Tod ausschließlich der Gedanke an seine leidende Familie belaste, nicht der an sein eigenes Ableben. Seine Frau, Ekaterina Karamzina, fand die Kraft, mit den Kindern weiterzuleben und das Andenken an ihren Mann zu ehren, in ihrem Salon trafen sich die wichtigsten Vertreter des kulturellen Lebens in St. Petersburg, Puschkin (der sie platonisch liebte), Shukovskij, Lermontov und Gogol.


    Im "Spiegel" vom 14/2018, 31. 3. 2018, S. 40-43, gibt es einen Artikel von Cornelia Schmergal: "'Die spielen auf Zeit'. Beim Recht auf Sterbehilfe ist auf nichts mehr Verlass. Die Politik macht Todkranken das Lebensende schwer"

    War bei diesem Thema überhaupt jemals "auf etwas Verlass"?

    Möglicherweise wird das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe entscheiden, aber ist das das letzte Wort, kann es so etwas überhaupt geben?


    Dazu staccato-artig:

    - Man denkt in einer Zeit, in der man relativ gesund ist, daran, unter selbst als nicht mehr lebenswert empfundenen Umständen so nicht mehr weiterleben zu wollen: Abgabe der Kontrolle über Körperfunktionen an andere (ob Angehörige oder Fremde), da man Jahrzehnte mit Schamgefühlen gelebt hat ? (Borrasio: man muss eben lernen, sich helfen zu lassen, und wenn man es nicht mehr selbst kann, wird es sowieso Infusion, Katheder und Windel geben).

    - wo ist die Grenze für dauerhafte körperliche Einschränkungen (blind? weitgehend gelähmt?), mit denen man das Leben nicht mehr für lebenswert hält? ja es gibt den Fall, dass man selbst die eigene Diagnose "Demenz" oder "Alzheimer" kennt und sie anderen noch mitteilen kann, aber da gleitet man sicher schon hinein in eine Situation, selbst nichts mehr tun zu können, die einen bedrängende Situation auch nicht mehr deuten zu können;

    - ja, dann kann man aber die Selbsttötung schon nicht mehr ausführen und andere Menschen, zumeist medizinisches Personal, und Angehörige geraten in eine rechtliche Grauzone, die man ihnen auch nicht zumuten will und kann;

    - und dann wird gesagt, dass die Mediziner Maßnahmen nur ergreifen dürfen, das Leben zu retten und nicht, es durch aktiven Eingriff zu beenden - die von JHNewman erwähnte (Fremd)Verfügung über das menschliche Leben, wo beginnen die Möglichkeiten für "Unterlassen" und wo liegen ihre Grenzen; dazu gab es Aufsehen erregende Prozesse;

    warum gibt man doch schwer an Schmerzen leidenden Menschen keine ausreichenden Opiate, so dass sie unter Qualen starben (erlebt bei drei nächsten Familienangehörigen), das mit dem "Suchtpotential" von Morphium kann es in diesem Stadium nun wirklich nicht mehr sein;

    die wenigsten dürften das nötige Kleingeld haben, um am Schluss noch in die Schweiz fahren zu können;

    - ganz klar, dass kommerzielle Unternehmen, die das Leid der Betroffenen zur Gewinnmaximierung benutzen, belangt werden müssen; wo aber ist die Grenze zu ziehen zu Medizinern, die schließlich auch ihre Einnahmen haben müssen und nur in einigen Fällen sicher sein können, dass sie richtig handeln bzw. zur richtigen Zeit nicht handeln?

    - dann ist Palliativmedizin immer noch nicht flächendeckend verbreitet, wie ist es mit der Kostenfrage, kann dann wirklich jeder schmerzfrei und in Würde sterben?; und ist das dort gewährleistet, lauern da nicht auch wieder eine ganze "Industrie", ein großer Markt?

    - wie sieht es mit der individuellen Zuwendung aus, wenn man keine Verwandten oder Freunde mehr hat, wenn man nicht religiös ist, wird man dann nicht doch noch von Missionaren belästigt, weil die eventuell "in gutem Glauben" davon ausgehen, wie sie selber empfinden, was "normal" sein müsste, und wie die Mehrheit tickt, gibt es für das Sterben nichtreligiöser Menschen auch verbreitet entsprechende Rituale und Erleichterungen?

    - wie sieht es nun wirklich mit der "Selbstbestimmtheit" bei der Entscheidung über den eigenen Tod aus - Dir Volker, erscheint sie wahrscheinlich als eher einleuchtend als das religiöse "Der Wille des Herrn wird geschehen" - "Der Herr hat es (das Leben) gegeben, er hat es genommen", nichtreligiöse Menschen aber dabei (hat es gegeben) nur ihre Eltern, vor allem ihre Mutter, im Blick haben und keine Transzendenz benötigen,

    - wenn der Betreffende nicht uneingeschränkt entscheidungsfähig sein kann (ganz häufig Depression, psychische Krankheit, eben doch Einfluss von Schmerzen, die man bis dahin nicht in den Griff bekam; Patienten verlieren dann doch teilweise den Verstand und verändern ungewollt ihre Persönlichkeit; werden tyrannisch, aggressiv, ohne die Kontrolle mehr darüber zu haben?

    Wichtiges Motiv bei Monika Maron, dieser mögliche Kontrollverlust!

    - können die Mediziner, die am Schluss einzig noch die Macht über die Lebensverkürzung haben können (wenn man sich nicht schon für den selbstbestimmten Tod durch Verhungern und Verdursten entscheidet, aber wer vermag das vorauszusagen), wirklich in jedem Fall den letzten Willen in der Patientenverfügung achten, für voll nehmen und umsetzen, oder gehen sie dann doch aus Angst vor gerichtlichen Konsequenzen den für sie sicheren Weg - und der Wille des Patienten wird dann doch nicht umgesetzt?

    - "gierige Erben" können doch lauern, und der schwer kranke Patient kann zu dem Urteil gelangen, dass er anderen nur noch zur Last fällt; man weiss ja, dass die Angehörigen auch zu "funktionieren" haben und auch an sich selbst denken müssen, nicht ebenfalls zugrunde gehen sollten, wenn ihr Angehöriger sowieso schon verloren ist; bei Monika Maron der Spruch der Krähe: "Sterben lassen, was nicht leben kann";

    - dann hat man aber auch wieder die Erfahrung gemacht, dass zwar die Diagnose sehr hoffnungslos klang, sich dann aber doch noch erfüllte Gemeinsamkeit mit Angehörigen einstellte? dass ferner Krebspatienten, die mit einer sicheren Diagnose versehen sind (z. B. Bauchspeicheldrüsenkrebs) dennoch nur in selteneren Fällen Suizid begehen? Angst, den Mitmenschen dadurch noch mehr Leid zuzufügen?


    Alles so Fragen, die das mit der Selbstbestimmtheit über das eigene Leben auch wieder als fragwürdig erscheinen lassen. Allgemeine Rezepte kann es nicht geben. Religion kann nur dem etwas geben, der den Glauben dazu hat.


    Ich wünsche trotzdem eine gute Nacht. Feiert ein schönes Osterfest. Den Menschen mit Schmerzen wünsche ich Linderung, den Einsamen den Trost: Vielleicht hilft ja die klassische Literatur, sich auf diese großen Entscheidungen vorzubereiten.

    (klingt ja hier selbst schon fast wie ne Predigt ;))

    Hallo Volker,


    Monika Maron schreibt tatsächlich ausschließlich von einer Krähe, nicht von einem Raben, als den man Munin und Odin in der nordischen Mythologie ansah, und nennt sie an einer Stelle eine "Nebelkrähe", also eine schwarz-grau gefiederte Vertreterin dieser Art. Die Nebelkrähe ist in Berlin zu Hause, während in der niedersächsischen Lessingstadt massenhaft tiefschwarze Rabenkrähen sowie Saatkrähen nisten, in der ich mich häufig aufhalte.

    http://www.spiegel.de/wissensc…-der-voegel-a-976806.html


    Übrigens schreibt Monika Maron selbst, dass hinsichtlich des genetischen Erbgutes sich ein Schimpanse nur zu einem ganz geringen Prozentsatz von einer Maus unterscheidet. Das lässt einen Rückschluss auf ihre Weltsicht zu, die man als Pantheismus bezeichnen könnte, wenn ihr nicht doch als Nichtgläubiger der "Theismus" insgesamt abginge. Wenn sich also Schimpanse und Maus genetisch nur ganz geringfügig voneinander unterschieden, so wären die Unterschiede zwischen den Bewohnern der verschiedenen Straßenseiten und Haustypen auch nur als gering anzusehen. Das sind alles Vertreter der Gattung Mensch. So einfach wäre es dann eben nicht, auch Monika Maron selbst in ein "Lager" zu verfrachten, in ein rechtes oder (nicht mehr) ein linkes.

    Ohne jetzt in die Spielerei zu verfallen: Wenn man sich umdreht, wird dann nicht aus links rechts und aus rechts links? oder an Erich Maria Remarques Roman "Der schwarze Obelisk" denkt, wo sich die in der Psychiatrie gelandete Isabelle Gedanken darüber macht, ob die Spiegelbilder, wenn man sich umdreht, dann "einfach weg" seien - wo sind sie denn geblieben, die Spiegelbilder oder die Spiegel? (bei dem ebenfalls betrunkenen Ich-Erzähler verwirrt sich jetzt auch alles.)


    Monika Maron will sich nicht ohne weiteres in eine "linke" oder eine "rechte" Ecke stellen lassen, und es werden von mir mit Sympathie begleitete Debatten darüber geführt, ob dieses Links-Rechts-Schema überhaupt noch heutigen Gegebenheiten entsprechen dürfte, da es mitunter leicht erscheinen mag, anderen Leuten so einfach ein AFD- oder Pegida-Schildchen an die Bluse zu heften, man selbst ist dann fein heraus, man ist ja auf der Seite der Guten, und braucht das Gespräch nicht mehr weiter zu führen. Gewaltbereitschaft gibt es auf der 'rechten' und der 'linken' Seite, Antisemitismus und Menschenverachtung auch, dann kann man diese Erscheinungen auch so beschreiben, braucht das aber nicht mehr unbedingt mit "Links" oder "Rechts" zu tun, weil dann Willkür walten kann. So jedenfalls dürfte es Monika Maron sehen:

    http://www.deutschlandfunk.de/…ml?dram:article_id=413037

    Auseinandersetzungen werden wohl eher als zwischen "Linken" und "Rechten" (man müsste sich dann ja über deren Definition einig werden, was kaum noch gelingen dürfte) zwischen jenen geführt, die durch ihre Arbeits- und Lebensverhältnisse nicht besonders mobil sein können, die gezwungen sind, in einer bestimmten Lebensumwelt zu verharren, dort ihren Unterhalt zu verdienen, die gewohnt sind, die Sprache der Einheimischen zu sprechen und diese Landschaft dann auch lieben und sie nicht etwa durch Windräder verziert sehen wollen, die auf ihre engere Lebensumwelt stolz sind und sie nicht missen wollen - während sich andere auf der halben Welt zu Hause fühlen, die die Ländergrenzen am liebsten komplett abschaffen würden, ins Flugzeug steigen, im Internet chatten, und Konversation auf Englisch oder was sie dafür halten, führen, während DDR-Bürger wegen der Mauer für gewöhnlich vor 1990 kaum lebende Amerikaner, Engländer oder Franzosen zu sehen bekamen, bei denen sie ihre im Sprachlabor und kollektiv mit der ganzen Schulklasse vor dem Fernseher ("English for you" mit der lispelnden Diana Loeser) erworbenen Sprachkenntnisse jemals im mündlichen Gespräch hätten anwenden können. Im Spanischunterricht erfuhr man eine Menge über die Zuckerrohrernte im sozialistischen Kuba, aber nichts über das viel weiter entfernt erscheinende Spanien, im Englischunterricht viel mehr darüber, wie der "Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe" (RGW) in Moskau vom "Morning Star", dem Zentralorgan der Kommunistischen Partei Großbritanniens, beurteilt wurde, als davon, wie es in Liverpool aussah, wo die heimlich gehörten Beatles herkamen. Aber das ist auch alles wieder nur sehr schematisch; das sind Zuspitzungen, Extreme, selbstverständlich gibt es außerordentlich häufig Mischformen (bin vielleicht selbst eine, wandere am ,liebsten in heimatlichen Gefilden und schreibe mich doch mit meinen russischen Freunden im Internet).


    Monika Maron hat bereits 2016 in ihrem schmalen Buch "Krähengeflüster", der auf den Roman in vielem vorbereitete, ihr besonderes Verhältnis zu diesen Vögeln beschrieben. Auch die Krähe gilt seit langem als Symbolisierung der Klugheit.

    Eher harmlos im Vergleich zu den im Roman geschilderten Auseinandersetzungen sind die Streits in der gelehrten und laienhaften Welt der Ornithologen und Hobby-Ornithologen, an denen ich mich als im Monat April durch das Gekrächz der Hunderten von Krähen jeden Morgen gegen fünf Uhr geweckter Laie virtuell beteiligt habe, ob Nebelkrähe und Rabenkrähe bloße Varianten der selbst in "Wikipedia" als "Aaskrähe" bezeichneten (diskriminierten!) Rabenvögel darstellten. Ja es gibt richtige Streits um "Saatkrähen", "Rabenkrähen" und "Nebelkrähen".


    Als die Belästigung durch die massenhaft nistenden Krähen in dieser zauberhaften niedersächsischen Stadt zu stark wurde, entfernte man vor einigen Jahren auf der einen Seite eines etwa drei Meter breiten Kanals, für den die städtische Verwaltung zuständig ist, die Nester der Krähen auf den Bäumen, worauf die klugen Tiere über die wenigen Meter auf die andere Seite des Kanals überwechselten, die hingegen vom für das Flüßchen Oker zuständigen Wasserbauamt verwaltet wurde, wo sie dann ungestört blieben und ihre Jungen aufziehen konnten. Die Stadt wurde deswegen noch nicht in "Krähwinkel" umbenannt, während die Bezeichnung "Lessingstadt" unterdessen nicht darüber hinwegtäuschen kann, dass der klassische Literat in manchen Kreisen weniger bekannt ist als der in der gleichen Stadt produzierte "Jägermeister" - von diesem klebrigen süßen, braunen Zeug werden ganze Tanklastzüge nach Russland und China verfrachtet. So etwas geschieht in Zeiten der Globalisierung mit den Krähen und mit dem Kräuterlikör.



    Ein richtiger, größerer Rabe ist bei uns hingegen der "Kolkrabe", dessen charakteristischer Ruf in der Nähe von Bad Harzburg bei der idyllischen Waldgaststätte "Rabenklippe" zu vernehmen ist, wo auch Luchse zu besichtigen sind.

    Was die Raben betrifft, so gaben sie Anlass zu der Sage vom "Raben im Schloss zu Merseburg", der ein Schmuckstück stahl und zum Tod eines zu Unrecht des Diebstahls beschuldigten Dieners führte. Daraufhin wurde in der Bischofsstadt Merseburg bis in die jüngste Zeit zur Erinnerung ein Käfig aufgestellt, in dem ein Rabe gehalten werden sollte; da es aber in dieser sachsen-anhaltischen Gegend keine Kolkraben mehr gibt, musste eine Krähe dafür herhalten.

    http://www.merseburg.de/de/merseburger-rabensage.html


    Gute Nacht, morgen früh beginnen die Krähen wieder zu krächzen.

    Die Religion bietet immerhin eine Grundeinsicht an - und die gilt m. E. sogar dann, wenn man die Religion als solche für ein Konstrukt des Menschen hält: das ist die Einsicht, dass Leben letztlich unverfügbar ist und sogar gewissermaßen ein Geheimnis bleibt. Diese Grundeinsicht bewahrt davor, allzu forsch an manche Fragen heranzugehen. Und sie gilt ebenso in beide Richtungen: sie wehrt einem Machbarkeitswahn, was die Schaffung und Formung des Lebens angeht, wie sie umgekehrt auch davor bewahrt, sich eine Verfügungsgewalt über Leben anzumaßen, das vermeintlich unwert oder nicht mehr lebenswert ist. Und sie gilt auch einer irre gewordenen Apparatemedizin gegenüber: denn wenn Leben unverfügbar ist, dann ist es auch nicht ewig künstlicher verlängerbar.

    Das sehe ich alles ebenfalls so, wobei ich aber auch hier unterscheiden möchte zwischen der "Verfügbarkeit" anderer über das eigene Leben oder der selbstgewählten Verfügbarkeit über das eigene Leben. Das sollte die eigene Entscheidung bleiben, wie auch nach meiner Erfahrung in der DDR jeder Frau die Entscheidung über die Geburt ihres Kindes selbst überlassen bleiben sollte, wie es Holger Biege sang:


    "Wie viel Kinder hat die Erde

    wie viel Eltern haben Sorgen

    nicht alltäglich ist das täglich Brot

    Kinder bleiben ungeboren

    Frauen haben sich geschworen

    selber zu entscheiden, ohne Not."


    http://www.holger-biege.de/son…agte-mal-ein-dichter.html

    Man kann einsehen, dass etliches ein "Geheimnis" bleiben wird, das man mit den uns zur Verfügung stehenden Mitteln nicht mehr ergründen wird. Das wird dann so stehen bleiben müssen, andere nach uns mögen mit der Lösung dieser Rätsel weiterkommen. Da sollte man bescheiden bleiben.

    Es ist allerdings das eine, wenn man sich eingesteht, diese "weißen Flecken" zu Lebzeiten nicht mehr ausmalen zu können - oder man begreift etliches auch schlicht nicht mehr, wie ich mangels Vorbildung Erscheinungen im Bereich der physikalischen Welt und des Kosmos -

    oder aber die Welt mit Figuren der Phantasie bevölkert (Engel usw.) und eine Schöpferfigur als real existierend an den Anfang setzt, die von den meisten Menschen mit menschlichen Zügen ausgestattet wird, die geahnt wird, an die man glaubt, die sich aber nicht nachweisen lässt, so jedenfalls, wie ich mir vorstelle, dass es Kreationisten in den USA tun.


    Mir geht es dabei beileibe nicht um die Verherrlichung der exakten Wissenschaften. Das Wesen und die Möglichkeiten der Menschen zu erforschen, wäre eine beständige, nie abgeschlossene Aufgabe. Und Naturwissenschaftler allein können auch nicht darstellen, wie die empirisch nachweisbaren Abermillionen neuronaler Verknüpfungen in den Gehirnen sich in Gestalt von Gedanken, Ideen, Gefühlen, Träumen, Bildern wiederfinden, die dann von anderen Menschen beschrieben werden, Wissenschaftlern wie Künstlern und jedem von uns.


    Wenn man das Leben in seiner ganzen Vielgestaltigkeit als "Geheimnis" setzt, das man nie bis ins letzte zu Lebzeiten erfassen wird, oder es, wie Volker angedeutet hat, als ein großes "Wunder" bestaunt und sich daran erfreut, wäre ich ja einverstanden.

    Stattdessen nehme ich wahr, dass es im Zuge neuerer Entwicklungen zu einer Verunsicherung kommt im Hinblick darauf, was und wer der Mensch denn nun sei. Und diese manifestiert sich an den Randzonen des Lebens: die Frage von vorgeburtlicher Diagnostik und daraus folgenden Schwangerschaftsabbrüchen, die Frage von Plan- und Gestaltbarkeit des menschlichen Lebens (genetisches Design), die Frage von Euthanasie und 'selbstgewähltem Sterben', die Frage von Eingriffen in menschliches genetisches Material, Klonen, Vermischung von menschlichem und tierischem genetischen Material, überhaupt die ganze Frage der Ernährung: darf man Tiere essen? Und wenn nein, warum nicht?

    .....


    Eine dieser "Randzonen" ist mit einem Ausspruch Munins verbunden, der sicher zu den problematischsten des ganzen Buches gehört:


    "Sterben lassen, was nicht leben kann. So jedenfalls machen wir es." (S. 114)


    Er widerspricht jedem ärztlichen Ethos, wonach Hilfe bis zum "Geht nicht mehr" zu leisten ist.

    Die Passage davor ruft die Erinnerung an eine der dunkelsten Perioden hervor, als "das Schwache und Verrückte ausgemerzt, liebe, blöde Menschen umgebracht" (S. 111) wurden und dieses mit dem Wort "Euthanasie" euphemistisch verbrämte Verbrechen unter Umständen in einer Zeit gar nicht weiter aufgefallen wäre (es wurde ja auch von den Nazis vertuscht), wenn nicht wenig später und zugleich auch sechs Millionen Juden ermordet worden wären. Betrachtungen im Sinne einer "Eugenik" hat es im 20. Jahrhundert auch in anderen Ländern gegeben.

    Heutige Diskussionen über Geburt und "selbstgewähltes Sterben" werden unweigerlich durch diese Verbrechen belastet, die von deutschem Boden ausgingen. Und doch müssen sie geführt werden, und die Debatten im Bundestag zur "Sterbehilfe" waren ernsthaft und mit Verantwortungsgefühl geführt worden.

    Was Gesetz geworden ist, wird nicht jeden befriedigen und kann immer wieder zu Konflikten führen.


    "Sterben lassen, was nicht leben kann" kann man einerseits als Gemeinplatz abtun, denn der Tod wird sich in jedem Fall durchsetzen. Andererseits wird sich immer wieder die Frage auftun, "wie man lebt", ob so ein Leben aus der Sicht des Betroffenen selbst noch lebenswert ist. Hier kann unter Umständen kein Gesetzgeber mehr mit eindeutigen Regelungen kommen, und die Religion hilft da auch nicht weiter.

    Ganz grob gesprochen kann man die klassischen monotheistischen Religionen dadurch charakterisieren, dass in ihnen Gott (Jahwe, Gott, Allah) den Menschen in einer personalen Form gegenübertritt. In dem Gegenüber zwischen Gott und Mensch erfährt der Mensch, wer er ist, was seine Möglichkeiten und Grenzen sind, was er eben auch nicht ist usw. Das ist ein Grundzug der monotheistischen Religionen. Wie der Mensch als Individuum sich selbst wahrnimmt und erkennt erst durch die Begegnung und Abgrenzung zu anderen Individuen, so erkennt er sich selbst als Mensch eben erst in der Begegnung mit und Abgrenzung von Gott.

    Ich versuche, mich hier hineinzuversetzen. In allen drei monotheistischen Religionen gibt es kollektive Formen, in einen Kontakt mit Gott zu treten, gemeinsame Gottesdienste und Andachten. In meiner in Russland verbrachten Zeit habe ich den orthodoxen Gottesdienst kennengelernt, unter anderem eine überaus eindrucksvolle Osternacht in Anwesenheit des Patriarchen, mit Gesängen und Verehrung der Heiligenbilder, die sich doch merklich von der bei uns gewöhnlichen Form der christlichen Abendmahlsfeiern unterscheidet.


    Hier aber bei Mina handelt es sich um eine ausgeprägte individuelle Begegnung, in diesem Fall kurioserweise mit einer Krähe, die sich als Gott ausgibt. Damit ist das gesamtgesellschaftliche Problem einer zunehmenden Individualisierung berührt. Jeder schafft sich eine kleine individuelle Welt, in einer "Filterblase" wird sie unter Umständen mit Gleichgesinnten abgeglichen, mit anderen Gemeinschaften kann man aber kaum noch kommunizieren, ohne dass Chaos entsteht.


    Mina Wolf, nervös und feinfühlig, spürt ja diesen Zug der Zeit und entwickelt eine ausgewählte Vermeidungshaltung gegenüber kollektiven Begegnungen. Sie will sich ihre Gesprächspartner aussuchen und versteht sich bis zu einem gewissen Punkt auch mit Friedrich und Rosa. Mehr ist aber nicht drin, und ich denke, dass das auch typisch für unsere Zeit ist: über die dringendsten Probleme glaubt man kaum noch mit einem anderen Menschen sprechen zu können, ohne dass es zu Verletzungen und Chaos kommt. Die Beichte gab es ja auch noch als Erbe aus katholischer Zeit im Protestantismus, wie etwa der lutherische "Beichtstuhlstreit" in Berlin um 1690 zeigt. Das Bedürfnis, etwas Bedrängendes loszuwerden ("Sünde"), und das Bestreben der Kirchen, die Gedankenwelt ihrer Gemeinden zu kontrollieren, trafen aufeinander. Und noch zu den scharfen Rissen in dieser Zeit: die schärfsten Auseinandersetzungen in Berlin fanden ja gerade zwischen Lutheranern und Reformierten, Angehörigen zweier protestantischer Konfessionen statt, und nicht zwischen Evangelischen und Katholiken. Gerade, wenn man sich sehr ähnlich ist, zofft man sich eher (heute z.B. die "Linken" untereinander, während man mitunter mit echten, ehrlichen Konservativen durchaus aufmerksam und achtungsvoll umgehen kann). Paul Gerhardt, der so schöne und stimmungsvolle Lieder geschaffen hat, die Gemeinsamkeit stiften können, hat in den konfessionellen Auseinandersetzungen einen erbitterten Eiferer abgegeben. Aber wohin schweife ich denn ab?


    Um wieder in den Roman zu gehen:


    "Du willst die Kontrolle behalten" (S. 160), sagte die Krähe zu Mina. Das ist es: Die einsame Frau fürchtet den Kontrollverlust. Und doch tritt er ein: eine Krähe (ihr Unterbewusstsein) gewinnt unter dem Einfluss entsprechender Substanzen zunehmend die Kontrolle über sie.

    Vielen Dank!, schoen dass die Sache weitergeht. Hoffentlich schreibt auch Newmann wieder. Es ist ein Gewinn, bei zwei so beschlagenen Leuten mitzulesen. Schoen ist auch, dass Newmann glaeugbiger Christ und Karamzin - wie ich - nichtglaeubig ist. Trotzdem - oder gerade deshalb - ist die WElt fuer mich voller Wunder, die ja schon damit anfangen, dass Etwas ist und nicht Nichts. Zu meiner Freude sehe ich gerade eben die Meldung, dass Newmann auch geschrieben hat. Na, schnell mal gucken.

    Hallo Volker,


    "Wunder" ist das Stichwort. Mina Wolf bekennt, nachdem die Rede auf Munins Ururtante gekommen war, die noch zweihundert Jahre vor der Zeit der Annette von Droste-Hülshoff, also zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges, gelebt und von der die Schriftstellerin doch gewusst habe:

    "Aber sie hat es gewusst, sagte ich, es gibt Geheimnisse. Und Wunder."

    Darauf Munin: "Was sind Wunder?"

    "Wunder sind absolut unerklärbare Geschehnisse."

    "So etwas kennen wir nicht, weil wir keine erklärbaren Geschehnisse kennen. Es ist wie es ist. Wunder sind für Menschen, sagte Munin." (S. 158)


    Das ist so eine Attacke auf den Anspruch des Menschen, Geschehnisse erklären, Ursache und Wirkung feststellen zu wollen.

    Nach einer Pause Mina Wolf:

    "Gut, sagte ich, Wunder sind für Menschen, das verstehe ich. Aber es gibt die Imagination, die Phantasie und ein Wissen, das die Zeit überdauert." (S. 159)


    Außer dem rationalen Denken sind dem Menschen auch Einfühlungsvermögen und Phantasie gegeben. Eine Historikerin, die wie Mina die Aufgabe zu bewältigen versucht, sich in Ereignisse vergangener Zeiten hineinzuversetzen, muss sich bemühen, die nüchternen, in Papierform überlieferten Quellen zum Sprechen zu bringen. Als gelernte Journalistin gelingt ihr das auch dann gut, wenn ihr die Poesie zu Hilfe kommen kann, wie das Gedicht der Droste-Hülshoff, für deren Bericht über zweihundert Jahre zurückliegende Ereignisse sie auch über Einbildungskraft verfügen musste.

    Wir kennen nicht das Ergebnis der Bemühungen Minas, sondern wissen nur, dass es in der westfälischen Kleinstadt auf Ablehnung stieß. Ich würde hier instinktive Abwehr eines sorgenvollen "Raunens" vermuten, aber wie gesagt, wir wissen es nicht.

    "So fängt es immer an, ihr seid für Frieden einfach nicht begabt", sagte Munin (S. 110),


    nachdem sie zu verstehen gegeben hat, dass sie auch Gedanken lesen kann. Das ist in der Literatur nichts Neues. In Michail Bulgakows "Der Meister und Margarita" kommt auch eine Figur vor, die den gedachten Gedanken eines anderen laut zu Ende führt.


    Wenn man das einmal im wirklichen Leben ausprobiert und damit einen Volltreffer gelandet, den Satz eines anderen zu Ende geführt hat (ist mir schon mehrfach geschehen), denkt man an die Romanliteratur und weiß zugleich, dass es keine "Telepathie" ist, sondern die "Schwingungen" zweier Gehirne einander berühren.

    Wenn dann noch Gin Tonic und ganze Flaschen Rotwein im Spiel sind, kann so etwas ohne weiteres passieren.


    "Für Frieden einfach nicht begabt" - das weist also auf einen Grundzug in der Menschheitsgeschichte hin: es hat immer wieder Kriege gegeben und immer wieder Friedensschlüsse, wie den von JHNewman analysierten Westfälischen Frieden, der durchaus Langzeitwirkungen im Heiligen Römischen Reich hatte, wenn auch mit dem spanisch-französischen Krieg der 1650er Jahre, dem Nordischen Krieg um 1655, dem "Reunionskrieg" des Sonnenkönigs, dem Pfälzischen Erbfolgekrieg, infolge dessen Heidelberg, Speyer und Mannheim in Flammen aufgingen, gleich wieder schwere Kampfhandlungen in Europa aufflackerten.


    Für Krieg und Frieden gleichermaßen begabt? Friedensperioden waren kurzzeitig. Ein Krieg kann auch in Friedenszeiten mit anderen Mitteln weitergeführt werden, wenn man den Menschen einredet, dass die Bewohner eines anderen Landes ihre Feinde seien, wenn man nur in einer anderen Macht den Ursprung des Bösen sieht (sich selbst als "die Guten") und sie mit Wirtschaftssanktionen überzieht, die immer nur die einfachen Menschen und die eigene Wirtschaft treffen, während die Reichen ihre Schlupflöcher fanden und finden.

    Die Krähe beginnt erst auf S. 89 zu sprechen, kurz nachdem die Sätze gefallen waren, die Leser provoziert und verärgert haben, der von den schwarzhaarigen Kindern auf dem Spielplatz, die alle erwachsen würden und selbst wieder Kinder hätten, und der:


    „War es nicht so, dass die hunderte Millionen Söhne uns längst den Krieg erklärt hatten, und wir glaubten immer noch, sie ließen sich beschwichtigen oder wir könnten sie besiegen?“ (S. 88)


    (um auf die islamistische Gefahr, die real ist, zu verweisen, darf man da in einem Roman maßlos übertreiben? darf ein anderer Schriftsteller eine ebenso fiktive Zahl hinwerfen, wie hier die "Ich-Erzählerin" Mina Wolf die "hunderten Millionen", die "95 Prozent" (Tellkamp), die man aus dem Kontext herauslöst und über die man sich empört, während andere diese Zahl sogleich mit Verweis auf tatsächliche Bewilligungen von Asylanträgen zu rechtfertigen versuchen? Angesichts der Spaltung im Land, die jetzt auch Frau Merkel anerkennt, ist es nahezu unvermeidlich, dass solche hingeworfenen Zahlen sofort extrem unterschiedliche Standpunkte herausfordern, gleich ob die "Provokation" wohldurchdacht war oder im Eifer des Gefechts aus einer emotionalen Aufwallung heraus gebracht wurde).


    und die Ich-Erzählerin Mina zu weinen und zu jammern begann: „O Gott, mein Gott“,

    (ob die Stieftochter des sozialistischen Innenministers der DDR wirklich zu beten gelernt hat oder nur ihre Romangestalt mit dieser Fähigkeit ausstattete?)

    fing Munin nach einem krächzenden Gelächter an:


    „Welchen Gott meinst du denn überhaupt?“ (S. 89)


    Eben darauf wollte ich in meiner Vorrede hinaus: Woran glauben denn überhaupt die Gläubigen, wenn sie ihren Gott anrufen?


    „Ich glaube überhaupt nicht an Gott, sagte ich“, antwortete die Erzählerin Mina. Dass mit "o Gott" wäre also nur so eine Redensart, wie sie nahezu alle gebrauchen, auch die Nichtgläubigen, ohne weiter darüber nachzudenken, dass sie einen "Gott" anrufen, was über Jahrhunderte hinweg durchaus ernst genommen worden war,


    wie auch das "Fluchen", das einst eine magische Beschwörungsformel bedeutete und heute zur Alltagserfahrung gehört, , wenn es nicht gerade an konkrete Personen gerichtet ist, das für einen Augenblick erleichtert, und kaum noch von irgend jemandem mit Religion in Verbindung gebracht wird.


    Die Krähe erwiderte: „Dachte ich mir … so seid ihr. Ihr versteht euch selbst nicht, darum landet ihr immer im gleichen Schlamassel, und dann heult ihr.“ … „Erst erfindet ihr euch einen Gott, dann glaubt ihr nicht an ihn, und wenn es schlimm kommt, schreit ihr wieder nach ihm. Und obendrein halten ihr euch für vernünftig.“ (S. 89)


    Der Gott der Menschen ist, der Krähe zufolge, von Menschen selbst gemacht.

    Wieder eine lange Vorrede zum Religionsthema, und dann kommen Stellen aus dem Roman.



    Dass das Religionsthema nicht Deine „Baustelle“ ist, kann ich schon verstehen, dazu gibt es für Dich sicher tiefer gehende Lektüre, auch in Romanform.


    Den Konfessionslosen bringt allerdings die Krähe Munin schon an manchen Stellen zum Schmunzeln.


    Es ist doch für Nichtgläubige in manchem ein Rätsel geblieben: was glauben die Religiösen, hierzulande vor allem die Christen, denn wirklich? und welche Auswirkungen hat das dann für uns, die wir nicht zu dieser Menschengruppierung gehören? Und unsere Kinder wegen der Mehrheitsverhältnisse mancherorts mit praktizierter Religionsausübung, Gebeten usw. konfrontiert werden und sich als Nichtkonfessionelle in einer Minderheitenposition wiederfinden, wie umgekehrt vor 1990 weiland im Osten die christlichen Kinder? Schwarzgrau gefiederte Nebelkrähen gibt es nur östlich der Elbe.

    Dass ein Gott als Person wirklich allein oder mit Gefolge auf einer Wolke sitzt und auf uns herabschaut, wie das auf Heiligenbildern zu sehen ist, dürften wirklich nur noch die wenigsten glauben. Dass er als eine Person jedem einzelnen, Millionen von Menschen jeweils ins Herz schaut und speziell für jeden einzelnen da sein soll, ist ebenso wenig zu begreifen, man muss daran glauben.


    Dass sich Menschen in einer angestammten Religionsgemeinschaft wohlfühlen, kann ich mir ohne weiteres vorstellen. Dass viele ein unbestimmbares „Da muss es doch noch etwas außer unserer erfahrbaren Welt geben“, irgendein Prinzip, das in die Weltläufte eingreift, habe ich ebenso oft gehört wie die Bemerkung, dass es heutzutage wahrscheinlich schon ebenso viele Gottesvorstellungen gibt wie Gläubige.


    Dass bei vielen schließlich eine Art "Pantheismus" herauskommt - Gott ist in uns, ist in allem, in jedem Lebewesen, Gott und die Welt, die Natur sind eins - lässt verständlich werden, dass sich Munin auch mit vollem Recht als Gott begreifen lassen will.


    Das ist dann allerdings wirklich Glaube als Privatsache, die jedem überlassen bleiben sollte, dazu brauchten wir im Osten, falls noch getauft, auch keine Kirchensteuer zu bezahlen (meine Familie ist in dritter Generation nichtkonfessionell; schönen Gruss an Seehofer, Dobrindt usw. mit ihrer christlich-jüdischen Wertegemeinschaft).


    Die alten Attribute für einen Gott – allwissend (alles vorausschauend), allmächtig und vor allem allgütig! - dürften sich mit Blick auf Auschwitz, Srebrenica und Aleppo erledigt haben, die er dann zugelassen hätte, das wäre ja schon fast in früheren Vorstellungen "Gotteslästerung". Im 17. und 18. Jahrhundert ließ man sich vielleicht angesichts des Übels in der Welt noch damit abspeisen, dass Gott mit dem Übel den Glauben der Menschen prüfen will (was wiederum den Teufel überflüssig machte), heute geht das nicht mehr. Dieser Gott wäre aber nach den Greueln des 20. Jahrhunderts der übelste menschenverachtende Zyniker, wo gab. Also weg mit den menschengemachten Attributen.

    Die „Theodizee“-Problematik stellt sich für Nichtgläubige ebenso wenig wie die „Leib-Seele-Problematik“. Und mit all diesen Einlassungen dürfte ich heutigen Gläubigen auch hoffentlich nicht zu nahe treten? wenn ja, kann das ja geschrieben werden.


    Heutigen Christen die Kreuzzüge und die Inquisition um die Ohren hauen zu wollen, ist in meinen Augen für Konfessionslose total unhistorisch und völlig unangebracht, der Katholik Arnold Angenendt hat in meinen Augen zur Inquisition genug Zutreffendes aus den Quellen zutage gefördert. Ein Atom U-Boot „Corpus Christi“ zu nennen, wie in den USA im Kalten Krieg geschehen, geht ebenso wenig, wie ein Segnen von Waffen gegen die Kommunisten oder das Einüben von Kindern im Waffengebrauch für den Krieg gegen den "imperialistischen Klassengegner" bei Letztgenannten.

    Den Atheisten den Klosterschüler Stalin (der in einer Generation in der DDR viel eher als Hitler eine unbekannte "Unperson" war, über den im Unterricht zu meiner Zeit nichts gebracht wurde) oder Pol Pot vorzuwerfen, ist ebenso unangebracht. Ungeheure Verbrecher gab und gibt es unter Gläubigen und Ungläubigen.


    Nichtgläubigen „fehlt nichts“ im Leben, und sie müssen für nichts gewonnen werden, sie denken nicht nur an das Materielle im Leben und haben (zumeist) ebenso ihre eigenen begründeten Moralvorstellungen, wie die Gläubigen.

    Sozialleistungen und Hilfe für Alte und Kranke werden prozentual am meisten überwiegend aus allgemeinen Steuermitteln finanziert, nicht aus der Kirchensteuer, mit der vor allem der eigene Apparat am Laufen gehalten wird.

    Die Überdimensionierung von Veranstaltungen des Luther-Jahres 2017, die auch Nichtgläubige mitfinanzierten, ging nicht nur Konfessionslosen auf den Zeiger, sondern auch Kirchenmännern, wie dem von mir sehr geschätzten Friedrich Schorlemmer. Für die Rekonstruktion von Kirchenbauten und gefährdeten christlichen Kunstwerken würde ich immer auch aufkommen wollen.

    Mann, bin ich hier noch bei Literaturbetrachtung oder auch schon am hemmungslosen Ausposaunen von Weltsicht?

    (Politik, Religion und Kindererziehung nicht am Mittagstisch oder am Stammtisch, aber wie ist es in einem "Klassikerforum"?)


    Deshalb kommt jetzt natürlich Munin, denn die Religionsfrage ist dann doch zentral in dem Roman.