Beiträge von Karamzin

    Ich lese ja gerade der Stechlin. Vor dem Sturm steht ebenfalls auf meiner Liste. Ich werde sie zeitnah lesen und schauen ob mir diese Parallelen ebenfalls auffallen.

    Vom "Stechlin" war ich nach erstmaligem Lesen als Studienabsolvent 1978 geradezu begeistert, von dieser Gelassenheit, Weisheit und Güte des alten Fontane.


    "Das ist Wasser auf die Mühlen der Sozialdemokratie" wurde später bei uns zur familiären Redewendung, und wenn man die Geschehnisse um die Wahlen in Neuglobsow und den Feilenhauer Torgelow liest, versteht man sogar auch manche personelle Sorgen der heutigen Sozialdemokratrie, wenn sie sich auch in Österreich anders darstellen mögen.

    Melusine war eventuell neben dem alten Stechlin eine Lieblingsfigur Fontanes, sie spricht gegen Ende des Romans prophetische Worte. Es folgte jedoch ein Jahrhundert mit Scheusslichkeiten, wie man sie bei sich zivilisiert wähnenden Völkern nie für möglich gehalten hätte, mit dutzenden Millionen unschuldiger Opfer.


    Ganz in der Nähe des Stechlinsees war das Atomkraftwerk Rheinsberg errichtet worden. Als ich 1984 im Krankenhaus lag, war mein Bettnachbar ein Atomkraftwerksbauer, der mir auf meine Bedenken hin versicherte, dass diese Anlagen in Rheinsberg und Lubmin an der Ostsee sowjetischer Bauart völlig sicher seien, denn die Graphitstäbe würden den Schmelzprozess im Innern sofort beenden (zwei Jahre vor Tschernobyl). Nun, ich bin in der Klinik meine Rückenschmerzen nicht losgeworden, aber auf Tschernobyl folgte Fukushima. Was habe ich dort gelesen? Wilhelm von Humboldt: Briefe an eine Freundin (posthum 1847)

    Jetzt liegt der Stechlin-See wieder still, die Natur hat die gesamte Gegend zurückerobert. Gar nicht weit entfernt (etwa 8 Kilometer zu Fuss) ist mitten im Wald der Schulzenhof gelegen, wo das Ehepaar Eva und Erwin Strittmatter mit Pferden gelebt hatte.

    In Kapitel 2 von "Vor dem Sturm" (Hohen-Vietz) nur das in seiner Naivität anrührende und mich mit der Mark Brandenburg damals versöhnt habende barocke Gedicht:


    "Sie sieht nun tausend Lichter;

    Der Engel Angesichter

    Ihr treu zu Diensten stehn;

    Sie schwingt die Siegesfahne

    Auf güldnem Himmelsplane

    Und kann auf Sternen gehn."


    Das passt doch eher in das barocke Österreich der Zeit Maria Theresias, mit dem Du Dich beschäftigt hast? :)als in den herben protestantischen Norden.

    Ach, die neuen Leiden hatte ich auch, fällt mir gerade ein.

    Gefiel mir überhaupt nicht. Ich habe so einen flapsig-larmoyanten Erzählton in Erinnerung, der mich genervt hat. Aber vielleicht tu ich dem Buch Unrecht, es ist so lange her.

    Edit, da hab ich wieder mal ein Beispiel für mein Mülleimergedächtnis. Es ist mehr als vierzig Jahre her, aber ich erinnere mich noch wortwörtlich daran, wie Edgar auf dem Klo das Werther-Büchlein fand. "Und kein Papier, Leute. Ich fummelte wie ein Irrer in dem ganzen Klo rum." Das müsste ein halbwegs wörtliches Zitat sein. Seit vierzig Jahren auf Halde in meinem Kopp ... :rolleyes:

    Hallo Zefira


    Ulrich Plenzdorfs "Neue Leiden des jungen W." hatten 1973 so etwas wie eine Ventilfunktion in der DDR. Ich habe auch noch die sicher durchaus witzige Formulierung von den "Händelsohn Bacholdys" in Erinnerung, deren Musik Edgar Wibeau ablehnte, während ich zu dieser Zeit am liebsten Bach, Händel und Gluck hörte und Goethes Vorlage allemal gegenüber Plenzdorf bevorzugte.

    Plenzdorf war 1974 auch eines der Wahlthemen der Abiturprüfung, ich wählte aber das Moment des Zauderns in Schillers "Wallenstein".


    Den meisten Altersgenossen gefiel das neue Buch von Plenzdorf, und als es in ein Theaterstück umgewandelt wurde, war der Saal der Erfurter Bühne nahezu vollständig besetzt. Von der Schule ausgehende Theaterbesuche, auch im benachbarten Weimar, kamen zum Glück häufig vor - Shakespeare, Goethe, Schiller, Kleist wurden gegeben.

    Die Reaktionen der Schüler fielen mitunter für die Darsteller überraschend aus: Bei Plenzdorf wurden die mitspielende Band sowie die Geste beklatscht, dass Edgar Wibeau mit einem Handkantenschlag einem Sofakissen die spießertypischen Zipfel bescherte.

    In Goethe "Faust I" wurden im Staatstheater Weimar zwei Bemerkungen mit minutenlangem (!) Beifall bedacht, woran im 19. Jahrhundert niemand gedacht hätte:

    Mephistopheles: "Ihr Mann ist tot und läßt Sie grüßen" und

    Gretchen: "Es faßt mich kalt am Schopfe: meine Mutter sitzt auf einem Stein und wackelt mit dem Kopfe."


    Einmal ging nach irgendeinem Produktionsstück, bei dem Leute mit Bauarbeiterhelm um einen Tisch saßen und unentwegt über den sozialistischen Wettbewerb diskutierten, auf einmal der Vorhang zu, eine Schauspielerin kam heraus und rief zornig: "Das Bühnenkollektiv hat beschlossen, vor so einem undisziplinierten Publikum nicht mehr weiterzuspielen." Aus der Menge der Schüler: "Seid doch froh, dass endlich Schluss ist! Geht auch nach Hause!"


    Was die Gedichte betrifft, so haben es mir viele Poeten angetan, Goethe vor allem mit seinen Altersgedichten ("Elegie von Marienbad" 1823, schon in der Jugendzeit), aber auch so manche religiösen Dichtungen (obwohl ich selbst religionslos bin)..


    Mein Gedächtnis erhalte ich immer wieder frisch durch ein Tagebuch, das ich seit einem halben Jahrhundert führe, die Bände füllen anderthalb Meter im Bücherregal, und mitunter staune ich, wie oft ich mich fälschlicherweise nur auf mein Gedächtnis verlassen habe. Dazu empfehlenswert: Johannes Fried: Der Schleier der Erinnerung. München 2004.

    Volker ich stimme ganz mit Dir überein, wobei auch ich 'Vor dem Sturm' noch höher schätze als den Stechlin. Bemerkenswert sind die Parallelen besonders auch deshalb, weil das eine Buch den Beginn, das andere das Ende von Fontanes literarischem Schaffen markiert. Da schließt sich ein Kreis.


    Nach wie vor ist mir unverständlich, warum man die Effi als Schullektüre den anderen Romane vorzieht. Ich finde Fontane in den anderen Romanen meist stärker.

    "Vor dem Sturm" und "Schach von Wuthenow" erfassen eine ganz bestimmte kurze Epoche vor und nach 1806, genau bestimmbare Örtlichkeiten und bieten eine Mischung von fiktiven und historischen Persönlichkeiten (Friedrich Wilhelm III., der rührend unbeholfen nur in Infinitiven sprechen kann, Königin Luise in Paretz, Prinz Louis Ferdinand in Charlottenburg, Verleger Sander usw.).

    Man denke nur an "Sala Tarone" in Berlin Nähe Gendarmenmarkt, die Dorfkirche von Tempelhof im "Schach" oder die Oderbruchs-Landschaften bei Frankfurt in "Vor dem Sturm". Es bedarf schon eines großen Einfühlungsvermögens und mannigfacher Kenntnisse wohl auch über diese konkrete Periode. Auch Theodor Storm mit seinem in beiden deutschen Staaten wohl unverwüstlichem "Schimmelreiter" liefert Landschaftsgemälde aus der Gegend um Husum.

    Weshalb die "Effi" in der DDR ausgewählt wurde, hatte ich schon geschrieben: Sozialkritik, in der alten Bundesrepublik könnte es nach 1968 ähnlich gewesen sein. Obwohl man die Schüler insgesamt nicht unterschätzen sollte, könnten aber andere Werke Fontanes, auch vom Zeitvolumen gegenüber Gegenwartsstoffen her, die Mehrzahl der Schüler eher erschöpfen und überfordern. Hier hat sicher der Zeitgeschmack der Generationen, die vor fünfzig Jahren im Schulwesen aktiv wurden, eine Rolle gespielt.


    Die hier auifgeführten Werke der Klassik um 1800 mit Goethe, Schiller und Hölderlin, konnten eigentlich nur noch von älteren Studienräten alter Schule vermittelt werden, während das Bildungsbürgertum insgesamt verschwand, gen Westen oder ausstarb, und die Jüngeren etwa mit den zahlreichen Bezügen im "Faust" nichts mehr anfangen konnten. Enthusiasten der ersten Stunde nach 1945 schätzten die russische Literatur, während die englischsprachige Gegenwartsliteratur nur in Bruchstücken verlegt und wahrgenommen wurde. Im Verlag "Volk und Welt" bildeten sich in den 1980er Jahren lange Schlangen, um sehr seltene Titel zu erlangen, zu denen sogar die Sherlock Holmes-Geschichten Doyles oder die Krimis von Chandler gehörten, die es in den Buchläden nicht zu kaufen gab. Als ich auf diese Weise zum Beispiel John Updikes "Ehepaare" erstanden hatte, wusste ich mit diesem ewigen Fremdgehen und Partnertausch nicht das Geringste anzufangen und verschenkte das Buch weiter.


    Meinem Sohn (31) gefällt das Gesamtwerk Fontanes überaus, für den allerdings DDR-Vergangenheit, NS-Diktatur und Kaiserreich gleich weit zeitlich sehr entfernt sind (während mich die im Sozialismus durchlebten 35 Jahre noch sehr beschäftigen, so dass ich immer wieder darauf zurückkomme), Hermann Kants "Aula" wäre für ihn völlig sinnlose Lektüre,


    und meiner Frau ebenfalls wie mir Fontanes "Cecile" (ihr wegen der Harz-Landschaften), hier machen sich aber sicher der Familieneinfluss insgesamt und der Umstand bemerkbar, dass wir seit Jahrzehnten in Berlin und Brandenburg leben und auf diese Weise auch dem hektischen, verrückten, ungesunden Alltag der Innenstadt wenigstens zeitweise entfliehen können.


    Wir drei, Du, Volker und auch Zefira stammen aus Generationen, die sich in die Werke Fontanes gut hineinversetzen können und ihn schätzen. Für mich lebt das alles, was bei ihm dargestellt wird, viel mehr als etwa amerikanische Gegenwart, für deren Erschließen mir völlig der Nerv fehlt.

    In Auswahl:


    Theodor Storm: Der Schimmelreiter (die offizielle Deutung um 1970: Hauke Haien muss untergehen, weil er nicht auf das Kollektiv hörte, das prinzipiell weiser ist als der Einzelne. Meine Gegendarstellung, dass man sich auch einmal gegen die Mehrheit stellen muss, wenn man etwas durch Vernunftgründe als richtig erkannt hat, wurde von der Deutschlehrerin immerhin nicht verdammt.)


    Anna Seghers: Das siebte Kreuz


    Bruno Apitz: Nackt unter Wölfen (der jüdische Widerstand und Kollaboration der Kommunisten kommen nicht vor)


    Bertolt Brecht: Das Leben des Galilei


    Maxim Gorki: Die Mutter (hat mir Gorki verleidet)


    Willi Bredel: Verwandte und Bekannte (Trilogie; obwohl das Leben der Arbeiterklasse realistisch dargestellt werden sollte, empfand ich das Ganze als langweilig)


    Eduard Claudius: Menschen an unserer Seite (Hochofenarbeiter übertreffen sich selber im sozialistischen Wettbewerb; allerdings erfuhr man, wie fürchterlich primitiv und armselig es für die arbeitenden Menschen um 1950 zuging)


    Hermann Kant: Die Aula


    Meine Sternstunden waren die Klassiklesungen, der Deutschlehrer, ein alter promovierter Studienrat, der dann in den Westen ging, ein Unikum:

    Goethe: Faust I

    Deutschlehrer betritt den Raum, mit einem Taschentuch die Türklinke erfassend, weil daran Bakterien haften, und immer zu mir: "Hängen Sie das Marx-Bild gerade!" (das natürlich immer schief hing). Erste Frage: "Wie hieß der Gasthof, in dem Herder und Goethe zum ersten Mal in Straßburg zusammentrafen?" (Antwort: "Zum Geist"). Nächste Stunde: "Warum heisst es: 'Die Sonne tönt nach alter Weise'? Die Beantwortung dieser Frage forderte, ungeachtet des strengen Lehrplanes, eine ganze Stunde.


    Theodor Fontane: Effi Briest (Vertreter des "Vierten Standes" sozusagen als Widerstand leistetende Arbeiterklasse; das verhinderte jedoch nicht, dass mir schon bald "Der Stechlin" und "Cecile" zur Lieblingslektüre wurden und ich Fontane mit Ivan Turgenev verglich, etwa "Ein Adelsnest".


    Es wurde noch viel auswendig gelernt


    Friedrich Schiller: Wallenstein-Trilogie

    Abiturfrage: Warum stellt Schiller Wallenstein als "Zauderer" dar?


    Insgesamt gesehen, wurde meine Leidenschaft für klassische Literatur nicht wesentlich behindert, ich las dafür auf einer Bank am Waldesrand weiter. Es blieb die Abneigung gegenüber "vorgeschriebenen" Deutungen, die dann abgefragt werden mussten, wobei Spielräume je nach Persönlichkeit der Lehrer vorhanden waren. Die meisten in der Schulklasse behielten ihre Abneigung gegenüber Pflichtlektüre, die sie auch auf die nächste Generation übertrugen; wobei mein Sohn allerdings, trotz der Pflichtlektüre, ebenfalls seine Leidenschaft für Literatur und Philologie entdeckte.

    Hallo Benji,


    ich fürchte, es ist nicht ganz einfach, Orchestermusik von Gluck zu empfehlen, die vom Stil her der Deiner Lieblingskomponisten vergleichbar ist. Er wurde durch seine Opern bekannt, vor allem "Orpheus und Eurydike", "Iphigenie auf Tauris", "Iphigenie in Aulis" und "Alceste". Da das Pariser Publikum Balletteinlagen zu sehen wünschte, rückte Gluck auch Orchestereinlagen ein, von denen der "Reigen seliger Geister" und der "Tanz der Furien" in "Orpheus und Eurydike" die Bekanntesten sind.


    (Bei meiner Hochzeit hatten wir damals eine relativ unbekannte französischsprachige Choraufnahme eines der "Opferlieder" von Gluck auf Tonband aufgenommen, jedoch nicht daran gedacht, das Stück vorher einmal probeweise im Standesamt abzuspielen. Die Folge war, dass die Standesbeamtin in Tränen ausbrach, die Handlung kurz unterbrach und sich entschuldigte, so eine schöne Musik noch nie gehört zu haben. Die tschechische Schallplatte aus dem Jahr 1973, die diese Musik des damals zu meinem Lieblingskomponisten neben G. F. Händel avancierten Gluck enthielt, wird heute noch in hohen Ehren gehalten.)

    Meine Antwort dürfte sich dann doch merklich von anderen unterscheiden: Ich gehe vom Autor aus, von dem ich annehme, dass er mir in dem Moment , da ich zu dem Buch greife, auch etwas Wichtiges geben kann. Die Biographie kenne ich zumeist schon, beginne aber beim Lesen, sie mir noch einmal unter bestimmten Aspekten zu erschließen. Hilfreich sind kenntnisreiche Kommentare, wie das hier auch bei einigen Leserunden der Fall war (Wieland, Goethe, Immermann, Fontane). Die Leserunde zu "Wilhelm Meisters Wanderjahren" 2014 war in dieser Hinsicht für mich sehr lehrreich, nachdem die Erstlektüre nahezu fünfunddreißig Jahre zurücklag.

    Ich bin allerdings nur Liebhaber der klassischen Periode, beileibe kein Literaturwissenschaftler, finde mich in den zumeist aus Amerika kommenden "Turns" und "Theorien" nicht zurecht, mit denen sich Jüngere befassen mögen, sie geben mir nichts.

    Die Diskussionen um Monika Maron seit März sind da eher ein "Ausreißer".

    Lev Tolstoj „Die Auferstehung“


    Das russische Wort Vozroždenie für „Auferstehung“ kommt aus dem religösen Wortschatz. Es meint auch „Wiedergeburt“, „Wiederbelebung“, Erneuerung“.

    Vozroždenie ist auch die russische Bezeichnung für die europäische Renaissance als geistig-kulturelle Bewegung des 15.-16. Jahrhunderts.

    Prosveščenie – das russische Wort für die Aufklärung des 18. Jahrhundert, kommt ebenfalls aus dem religiösen Bereich. Die „Licht“-Metaphorik, die auch in den westeuropäischen Bezeichnungen für „Aufklärung“ (enlightenment, les lumiéres) enthalten ist, meint im russischen Mittelalter Taufe im Sinne von „Erleuchtung“, religiöse Unterweisung, später auch „Bildung und Zivilisierung“ allgemein, so dass das entsprechende Ministerium "Ministerstvo narodnogo prosveshchenija" (Ministerium für Volksaufklärung = Volksbildung) heißt.


    Nachdem Lev Tolstoj um 1890 den Plan zu seinem Roman gefasst hatte, benötigte er bis zu seiner Fertigstellung sechs Redaktionen. Etwa die Hälfte des Texts wurde aus dem Manuskript wiede herausgestrichen.


    Da er im Unterschied zu F. M. Dostoevskij die Zustände in sibirischen Gefängnissen und Strafkolonien nicht aus eigener Anschauung kannte, konsultierte Tolstoj mehrere zeitgenössische Werke zu diesem Thema. Dazu zählte auch das damals Aufsehen erregende Buch des amerikanischen Journalisten George F. Kennan, das in Deutsch wieder aufgelegt wurde. Ich habe hier die Ausgabe:


    George Kennan: „… und der Zar ist weit“. Sibirien 1885. Mit einem Nachwort von Helmut Graßhoff. 3. Auflage, Berlin: Ruetten & Loening, 1981.

    "Nicht diesen Frühlingsmorgen hielten die Menschen für helig und wichtig, nicht diese Schönheit der Gotteswelt, die zum Segen aller prangte (...), sondern heilig und wichtig war ihnen nur das, was se sich ausgedacht hatten, um übereinander zu herrschen."

    Das ist ein Satz, der heute noch Gültigkeit hat, vielleicht mehr als je zuvor, wo es um großangelegte Zerstörung der Schöpfung geht.

    Schön auch, wie dieser Beginn schon auf das Thema Auferstehung verweist.

    Ich bin vorgedrungen bis Kapitel 8, wobei ich meine beiden Übersetzungen immer wieder vergleiche. Sie unterscheiden sich nur in Kleinigkeiten. Interessant ist, dass in der einen vom "gelben Schein" der Prostituierten die Rede ist (fand ich so auch bei Dostojewski), in der anderen vom "roten Schein". Weiß jemand, woran das liegen könnte?

    Tolstois Schilderung der Richter und Geschworenen klingt in ihrem Sarkasmus erstaunlich modern.

    Die russische Ärztin und Publizistin Elizaveta Sergeevna Drenteln machte in ihrem Buch "O Prostitucii s tochki zrenija dinamiki zhizni" (Über die Prostitution vom Gesichtspunkt der Dynamik des Lebens aus), Moskau 1908, auf S. 22 deutlich, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse dazu beitragen würden, dass einmal "gefallene Mädchen" keinerlei moralische oder materielle Unterstützung erhielten und möglichst bald das "zhjoltyj bilet" erhielten - es ist also eindeutig ein "gelber Schein". Was da mit der einen Übersetzung passiert ist, weiß ich nicht.

    Die Prostitutierten wurden in Russland am Ende des 19. Jahrhunderts in drei Klassen eingeteilt: 1. die in "öffentlichen Häusern" lebenden (beschönigend genannt: "Doma terpimosti" - Häuser der Duldsamkeit, die von Männern der mittleren Schichten aufgesucht wurden); 2. die auf eigene Verantwortung praktizierenden "Einzelgängerinnen", die dann nicht so gut kontrolliert werden konnten, und 3. die "brodjachie zhenshchiny" (umherziehenden Frauen) ohne festen Wohnsitz, für die der Titel eines populären historischen Romans bei uns den Namen "Wanderhure" eingebürgert hat.


    An der Spitze der Prostitution gab es durchaus Wohlhabende (heute vielleicht: "Escort Girls"), die sich ihr Geld an der Spitze der Gesellschaft bei Aristokraten verdienten und für die sich im 19. Jahrhundert der auch von Alexander Puschkin für eine Erzählung gebrauchte Begriff der "Kameliendame" einbürgerte. Die zahlenmäßig stärkste Schicht war die "mittlere Klasse". Diejenigen Prostituierten, die sich bei der Polizei medizinisch untersuchen ließen, erhielten dann eben diese "gelben Papiere"; andere, die sich unerkannt prostituierten, liefen verstärkt Gefahr, sich mit gefährlichen Krankheiten (Syphilis) anzustecken. L. N. Tolstoj verfolgte wachsam diese Debatten.


    Vgl. A. A. Il'juchov. Prostitucija v Rossii s XVII veka do 1917 goda (Die Prostitution in Russland vom 17. Jahrhundert bis zum Jahr 1917). Moskva 2008, 558 Seiten, hier S. 9, 12.


    Diese sehr informative Studie hält vom Titel her allerdings nicht ganz, was sie verspricht, über Prostitution im 17. und 18. Jahrhundert wird so gut wie nichts berichtet, über das 19. Jahrhundert, die Zeit Tolstojs und Dostoevskijs, hingegen sehr viel.


    Ich werde, wie wir das bei anderen Leserunden auch gehandhabt haben, noch einen Thread mit Lesematerial zum Roman "Die Auferstehung" eröffnen, um Eure sich entwickelnde Diskussion nicht zu stören.


    Bei diesen Übersetzungen aus dem Russischen kann man aber auch sehen, dass sich in Verlagen, wie "Volk und Welt" in der Berliner Glinka-Strasse, kritische Geister einfanden, die "durch die Hintertür" der Sowjetliteratur subversives Gedankengut einschmuggelten. Ich nenne hier mal nur den bekanntesten Übersetzer und Literaturwissenschaftler, Ralf Schröder, der Repressalien ausgesetzt war. Andere dachten ebenso, agierten jedoch sehr vorsichtig.


    https://de.wikipedia.org/wiki/Ralf_Schr%C3%B6der


    Die Gogol- und Gontscharow-Übersetzerin Vera Bischitzky wurde ebenfalls verhaftet und aus der DDR ausgebürgert, wie Jahre zuvor Wolf Biermann.


    Schließlich bietet die Lektüre der von Dir erwähnten "Reiterarmee" von Isaak Babel auch einen offiziell zwar zugelassenen (und zensierten), jedoch höchst beunruhigenden Einblick in die Zeit des Bürgerkrieges 1918-1922, als ja nicht nur die "Roten" die Guten und die "Weißen" die Bösen waren, wie die offizielle Geschichtsschreibung suggerierte. Unter beiden Seiten litten im besonderen Maße die Juden (der jüdische Schriftsteller Babel fiel selbst schließlich Stalins Repressalien zum Opfer), beide Seiten, wie die heute in Putins Reich heute so hochgeschätzten patriotischen Kosaken, plünderten die bäuerliche und städtische Bevölkerung aus, und die Rote Armee unter Tuchachevskij wurde 1920 von den Polen Pilsudskis entscheidend zurückgeschlagen, der Export der Revolution nach Westens mithin gestoppt.


    PS: Ich bekenne, wie auch andere Vertreter der etwas älteren Generationen ( Volker), immer wieder mit der Zitierfunktion zu kämpfen. Manchmal klappt es, mitunter aber auch wieder nicht, daher die Löschung obigen Beitrags. Andere bewegen sich durchweg mit Leichtigkeit durch Internet-Forennach dem Motto - was man einmal erlernt hat, vergisst man nie wieder - aber ich werde immer ein blutiger technischer Laie aus dem Zeitalter des Papierformats bleiben, dem man etwas erklärt, was er sofort wieder vergisst, der ein Blatt Papier sucht, um aufzuschreiben, was man im Internet zu beachten hat, um dann genau dieses Blatt gründlich zu verschusseln. Wie funktioniert jetzt die Kleinschreibung dieses desparaten, nicht zum Thema gehörigen Absatzes (juhu, sogar gefunden! und wo waren noch einmal die Smileys? :)Ach, so gleich hier unten:||

    Wobei hier noch zu berücksichtigen wäre, dass Tolstoj die offizielle russisch-orthodoxe, in diesen Jahren vor der Jahrhundertwende besonders auf Staatstreue fixierte und vom Zarenstaat unterstützte Kirche ins Visier nimmt. Das Patriarchenamt war seit Peter dem Großen 1721 abgeschafft worden, mit dem Allerheiligsten Synod war bis 1918 ein kollektives Leitungsorgan für Kirchenangelegenheiten zuständig, das wie eine Staatsbehörde funktionierte - Katharina die Große leistete sich sogar den 'launigen', die Bischöfe jedoch erschreckenden Einfall, mit dem Kavalleriebrigadier Petr Chebyshev einen bekennenden Atheisten zum Aufseher über den Synod (Oberprokuror) zu ernennen.


    Seit der Mitte des 17. Jahrhunderts, seit der Zeit des Patriarchen Nikon, Oberhaupt der Kirche unter dem Vater Peters des Großen, Aleksej Michajlovich (1629-1676, reg. seit 1645), hatte es in Russland - ebenso wie in Mitteleuropa seit dem 16. Jahrhundert (Luther, Calvin, die Täufer und viele andere kleinere Religionsgemeinschaften) - Abspaltungen von der Staatskirche gegeben, durch die versucht wurde, zu den unverfälschten Werten des Urchristentums, wie man es sich mit allgemeiner Gleichheit und Friedfertigkeit vorstellte - durch Absonderung und Askese zurückzukehren. Es entstand die Bewegung der "Altgläubigen", das 'staroverie', in der sich im 18. Jahrhundert neben Bauern auch recht erfolgreiche Kaufleute einfanden. Sie bildeten in abgelegenen Gegenden größere Siedlungskomplexe (am Vyg im hohen Norden, um Belovesh in der Nähe der großen Urwälder an der unbestimmten ukrainischen Grenze zu Polen), wurden aber auch in Moskau im 19. Jahrhundert höchst erfolgreich wirtschaftlich aktiv (russische abgewandelte Variante der vom Calvinismus ausgehenden These von Max Weber vom "Protestantismus und dem Geist des Kapitalismus" ?!)


    Der Bezug zu Tolstojs Roman stellt sich ein, wenn man in Betracht zieht, dass der Schriftsteller zur Entstehungszeit seines letzten großen Romans die Aussiedelung der religiösen Gemeinschaft der "Duchoborcy" (Geistkämpfer), die es seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gab, auch finanziell zu unterstützten suchte, die nach der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht 1874 in Russland und der für sie durch Bedrängnisse unhaltbar gewordenen Situation, ähnlich den seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Südrussland ansässigen Mennoniten und den ursprünglich Gemeineigentum aufweisenden "Hutterern", nur noch in der Auswanderung nach Amerika ihren Weg sahen. Die "Duchoborcy" traten für die Freiheit des Gewissens ein und näherten sich damit auf religiöser Grundlage schon "demokratischen Bestrebungen" des europäischen Westens. In Argentinien gibt es heute noch russische religiöse Sondergemeinschaften, die von dieser Auswanderungswelle herrührten.



    Das heisst, es geht erst einmal gar nicht um die christliche Religion "an sich", Tolstoj und Dostoevskij waren tief gläubige Menschen, sondern um Alternativen, um einen notwendigerweise utopische Züge tragenden Gegenentwurf zum Leben unter den Bedingungen der aufs engste mit dem Staat verbundenen offiziellen Kirche

    So eine Liste kann vielleicht recht nützlich zu sein, um sich auf einen Blick kurz darüber zu orientieren, was in der Gegenwart für wichtig gehalten wird. Dann sucht man nach Ländern und Sprachen ab, aus denen schließlich übersetzt werden musste. Hier wird klar, dass, je näher man zur Gegenwart kommt, die Literatur aus englisch- und französischsprachigen Ländern, natürlich hierzulande neben der dominierenden deutschsprachigen Literatur, überwiegt, aber wie sieht es beispielsweise mit der Literatur unserer östlichen Nachbarländer aus, der tschechischen (Hasek, Kohout), der polnischen (Mickiewicz), ist die russische und sowjetische ausreichend repräsentiert?


    Die Verfasser von Bestsellerlisten verorten sich so eher als Westeuropäer (bzw. transantlantisch Interessierte), mit gelegentlichen Ausflügen in andere Kontinente. Wie sieht es mit den Genres aus, je näher man der Gegenwart kommt, herrschen Romane und Erzählungen vor, die Bedeutung der Dramatik nimmt ab, die der Lyrik lässt sich auf diese Weise kaum noch erfassen - da werden eben keine verkaufsträchtigen Titel mehr verzeichnet.

    Da mich bisher Gegenwartsliteratur kaum interessiert hat (das ist ein "Klassikerforum", ;)und zur Gegenwartsliteratur gibt es sicher noch andere Foren) ich lange nach einem Buch suchen musste, in dem ich meine Bedürfnisse, die mich bedrängenden Themen wiederfand - d. h. die Neugierde auf Neues ist bei mir im Alter (wahrscheinlich: leider, müsste man sagen) überdurchschnittlich schwach ausgeprägt - gelangte ich gerade in jüngster Zeit zu der beunruhigenden Beobachtung, dass hier manipuliert wird: In der "Spiegel"-Bestsellerliste, Sparte Belletristik, taucht monatelang Monika Marons "Munin oder Chaos im Kopf" nicht auf, und das kann doch nicht nur an den Verkaufszahlen liegen. Über dieses Buch wird gefühlter maßen viel mehr diskutiert als über dort aufgeführte andere.

    Das heisst: je näher man der Gegenwart kommt, desto differenzierter sind die Erwartungshaltungen. Den "Nachsommer", von dem oben die Rede war, habe ich schon zu DDR-Zeiten siebenmal gelesen, um der realsozialistischen Gegenwart zu entfliehen und in eine mit ungewöhnlicher Sprachgewalt gemalte Welt einzutauchen, in der sich die Menschen noch überkorrekt zueinander verhielten und in den Alpen auf die Berge kraxelten, die ich, so dachte ich, sowieso nicht mehr zu sehen bekommen würde. Schon Arno Schmidt vermisste damals ein Eingehen Stifters auf Gegenwartsprobleme - Antworten auf diese suchte man indes in anderer Literatur (Maxie Wander, Christa Wolf, Brigitte Reimann). Einige Leserinnen hier im Thread suchen Entspannung, Unterhaltung und lebhafte Handlungen - mir alles verständlich, das wird immer subjektiv und unterschiedlich entsprechend den verschiedenen Lesebedürfnissen bleiben, die Verfallsdaten nahen aber auch immer schneller - man wird immer wieder zu diesem Schluss kommen.

    Ich sollte diesen Thread meiden. Ein weiteres Buch dass ich demnächst lesen sollte. Der radetzkymarsch steht schon lange ungelesen in meinem Regal. Mit einigen anderen Romanen die es in einem Schuber gab.

    Hallo Jaqui, wenn Du den Thread meiden würdest, weil der Roman von Monika Maron sehr schnell zu Betrachtungen über aktuelle politische Erscheinungen anregt, die von der Literatur wegführen könnten, würde ich dies sogar sehr gut verstehen können. Das wirst Du am besten wissen und selbst entscheiden. Ich empfinde allerdings die Atmosphäre hier als angenehm, um einmal auch Sorgen über aktuelle Entwicklungen loswerden zu können, ohne befürchten zu müssen, unsachlicher Polemik ausgesetzt zu sein.

    Hallo, Zefira, danke, wenn Du einen Thread unter "Leserunden" über Tolstojs "Auferstehung" eröffnen würdest! Ich könnte dann etwas dazu im Lauf der Zeit beisteuern, lege der Lektüre eine ältere DDR-Ausgabe zugrunde.

    Hallo Jaqui, wir sind uns in anderen Leserunden begegnet, in denen es um klassische Literatur des 19. Jahrhunderts ging. Da würde ich es auch begrüßen, wenn Du dann nach der Lektüre Deine Eindrücke von diesem Buch der Gegenwartsliteratur mitteilen würdest.

    Volker, ich bin übrigens kein ausgebildeter Literaturwissenschaftler und finde mich in deren Debatten oft nicht zurecht, die in einem eigentümlichen Jargon geführt werden. Die von Dir angeführte Berufsbezeichnung für JHNewman würde es eher treffen.

    Dass sich unser Gespräch über den „Munin“-Roman Monika Marons auf die verschiedenen Gegenwartsthemen ausgeweitet hat, wird sicher auch verständlich angesichts des Umstands, dass zeitgleich die Debatte um Tellkamps Dresdner emotionalen Ausbruch und die von Vera Lengsfeld gestartete „Gemeinsame Erklärung 2018“ die Gemüter zu erregen begannen.


    Nicht überall, mancherorts in unserem Land ahnt man gar nicht, was da so Aufregendes sein soll, mitunter nur im Internet, das sowieso manchem nach wie vor gar nicht zugänglich ist. Auch das wäre völlig verständlich, in manchen Gegenden und manchen Kreisen gibt es gar keine Debatten um das, was Monika Maron so bewegt.


    Wir haben uns, glaube ich, wie auch Volker mehrfach hervorhob, trotz unterschiedlicher Ansichten in Einzelfragen darum bemüht, die Positionen des anderen zu verstehen und die Diskussionspartner nicht in eine bestimmte Ecke zu manövrieren, wie es gegenwärtig häufig geschieht. Mir ist bewusst, dass man sich in bestimmten, von anderen weitgehend abgeschlossenen Diskussionszusammenhängen bewegen kann („Filterblasen“), die Gesellschaft ist tatsächlich in verschiedener Hinsicht gespalten wie kaum zuvor. Die Debatten um 1968 beispielsweise berühren mich als ehemaligen Ostbürger nur wenig, weil sich für uns mit diesem Jahre vor allem der „Prager Frühling“ verband, weniger die emanzipatorischen Ansätze, Befreiungsversuche, die elitäre Abgeschlossenheit bestimmter Zirkel und ihr gewaltsames Gehabe gegenüber friedlichen Bürgern im Westen, die einfach ihrer Arbeit nachgingen und als „faschistisch“ denunziert wurden.


    Wenn ich auch immer wieder in der jetzigen Zeit an die Ereignisse von 1989 erinnert wurde (mit Einsichtnahme in Stasi-Akten usw.), ich sage offen:


    ich weiß es nicht, wie es bei uns im Land jetzt weitergehen soll und ob die von Angela Merkel geprägte (hätte ich jemals gedacht, dass eine Ostfrau so mir nichts dir nichts mehrere in der Politik gestandene, ausgebuffte Mannsbilder wegputzt und in die Wüste schicken würde!) „Normalität“ so weiter gehen wird.

    Ich verstehe jeden, der sich angesichts dieser Wirklichkeit auch gern einmal – zumindest zeitweise - in die Privatsphäre, in die Lektüre guter Bücher und wirkliche Ornithologie zurückziehen will, um die Grenzen seiner Einflussnahme auf die Parteiendemokratie wissend.

    Monika Maron hat also am 11. April, vor bald einem Monat, der „Berliner Zeitung“ ein Interview gewidmet. Sie setzte das Gespräch mit der ihr vertrauten Journalistin Cornelia Geißler fort.


    https://www.berliner-zeitung.d…6104?view=fragmentPreview

    Die „Berliner Zeitung“ gab es schon zu DDR-Zeiten. Nach 1990 musste sie sich, in Konkurrenz zum „Berliner Tagesspiegel" und zur „Morgenpost“ sowie zur anfangs so unkonventionellen „taz“ in der Hauptstadt behaupten und auch das Westberliner Publikum ansprechen. Immerhin können auch in der Gegenwart auf einer Seite Beiträge erscheinen, in denen einerseits warnend auf die Folgen der unkontrollierten Einwanderung hingewiesen, andererseits, völlig entgegengesetzt, hinter jedem Busch ein Rechtsradikaler vermutet wird.

    Es kam also zu einer Begegnung der Journalistin Geißler mit Monika Maron. Durch die Fensterscheiben äugten zwei Krähen herein, die gibt es also wirklich. Das Bild von der „Kassandra“ in unserem Eingangsbeitrag findet sich auch wieder.

    Es geht zu Anfang um „Abschiebung“ von Menschen, die hier nicht bleiben können. Die Ereignisse von Ellwangen der letzten Tage zeigten das Dilemma des Rechtsstaats.

    In dem Interview ist von diesem Mißtrauen die Rede, das die Diskussionen so unergiebig werden läßt.

    Ich will ausdrücklich sagen, daß die Diskussionen mit JHNewman hier im Forum gerade eben keinerlei Mißtrauen aufkommen ließen, weil er die Karten offen auf den Tisch legt. Und das wird gewiß so weiter gehen.

    Monika Maron findet Höcke und den inzwischen abservierten Poggenburg von der AFD furchtbar.

    Dann kommt man auf die Haltung zum Islam zu sprechen, ein Thema, das Monika Maron seit geraumer Zeit umtreibt.

    Hier schaue ich vor allem auf die Partei Die Linke: Auf der einen Seite ist man bestrebt, alles auf die soziale Frage und die Ungerechtigkeiten im kapitalistischen System zurückzuführen (Katja Kipping z. B.). Die Folgen einer radikalisierten Ideologie des militanten Islamismus und ihre Wirkungen auf unsere Bevölkerung werden demgegenüber m. E. völlig vernachlässigt. Nicht alles, was von dieser Region des Nahen Ostens ausgeht, ist mehr auf den europäischen Kolonialismus zurückzuführen oder nur mittelbar.

    Sodann gibt Monika Maron wieder, was auch ich hier mehrfach festgehalten habe: man verspürte nach 1990 eine Re-Christianisierung an Orten, wo das Christentum schon aufgehört hatte, einen nennenswerten Einfluss zu nehmen. In der Debatte um Söders Kreuzes-Verordnung geht es in maßgeblichen Presseorganen vorwiegend darum, wie die maßgeblichen Vertreter der großen christlichen Konfessionen, ob Bedford-Strohm oder Bischof Marx, dazu stehen.


    Nie interessiert in diesen Presseorganen, dass sich Millionen von Deutschen eben nicht dem so genannten „christlichen Abendland“ zugehörig fühlen.

    Einig werden wir uns hier allerdings wahrscheinlich alle auf den „Verfassungspatriotismus“ im Sinne von Habermas: mit dem „Grundgesetz“ haben wir wirklich eine feine Sache zu spüren bekommen, von einigen - aus verschiedener Sicht - nach annähernd 70 Jahren - verbesserungswürdigen Passagen abgesehen.

    Das Türkenthema kam seit der ersten Belagerung Wiens durch die Osmanen 1529 und den Reaktionen Luthers und Müntzers, die jeweils in deren Erscheinen eine Strafe Gottes oder ein Zeichen der Endzeit sahen, immer wieder wellenartig hoch. Zur Zeit des Ausbruchs des Dreißigjährigen Krieges scheint es vor allem um Reaktionen auf die Kriege der ersten beiden Jahrzehnte des 17. Jh. mit den Osmanen in Siebenbürgen und den Fürsten Bethlen Gabor zu gehen, die dem Habsburger Reich benachbart waren. Hinzu kamen die spürbaren Klimaveränderungen, der berühmte Komet, die die Menschen verunsicherten.

    Als die katholischen Spanier in Böhmen einfielen, um die Bewegung der protestantischen Insurgenten niederzuschlagen, war in Flugschriften um 1619 von den "spanischen Türken" die Rede.

    Wäre ein Kompromiss denkbar: wir beginnen dennoch zeitnah, noch im Mai und Juni ?


    denn mir leuchtet dann auch wieder ein, dass jetzt mit dem Interesse zuerst an Dostoevskij und dann auch an Tolstoj erst einmal ein gewisser Elan entfacht ist. Und dann sehen wir weiter? Wir hatten Leserunden, die sich über Monate erstreckten. Und jeder kann sich dann, so wie er will und wie ihm danach ist, in die Diskussion einschalten?


    wenn es Zefira oder jemand anderes wünscht, könnte man beginnen, ich würde in den kommenden Wochen ebenfalls versuchen, an einem oder mehreren Diskussionsbeiträgen als Grundlage zu basteln.

    Ich kann gar nicht sagen, ob mir nun "Krieg und Frieden" oder "Anna Karenina" besser oder schlechter gefällt: in diesen beiden Romanen eröffnen sich unterschiedliche Welten. In "Anna Karenina" der energische Wille einer Frau, die sich mit einem Leben auf einem Landgut begnügen muss, jedoch nicht aus dieser engen Welt mit ihren Rollenvorstellungen ausbrechen kann. "Anna Karenina" bietet subtile psychologische Studien und Einfühlsamkeit in die Gefühlswelt der adligen russischen Frau jener Jahrzehnte.

    "Krieg und Frieden" ist ein epochales "Geschichtsgemälde". Mit dem Philosophen Vladimir Kantor (*1945), von dem zwei Werke auch in Deutsch erschienen sind,

    http://www.ku.de/forschungsein…kantor-willkuer-freiheit/

    habe ich zu Beginn dieses Jahrtausends begonnen (im Rahmen einer "Sommerschule" in St. Petersburg), in diesem in meiner Jugendzeit recht unkritisch verschlungenen Werk auch bedenkliche Seiten zu entdecken.

    Es ist gegen die Rationalität der "europäischen Aufklärung" gerichtet. Das unbestimmte Gefühl des einfachen analphabetischen Bauern mit seiner religiösen Verehrung des Zaren wird über die europäische Vernunft gestellt. Die "Deutschen" erscheinen als 'Dummköpfe', die die "russische Seele" nicht zu erfassen vermochten, am Vorabend der Schlacht von Borodino reiten Clausewitz und Wolzogen vorbei, die angeblich nichts von Russland und seiner Seele verstanden hätten.

    Natürlich geselltensich vor Austerlitz Dezember 1805 zur russischen Verwegenheit und Planlosigkeit auch österreichische Pedanterie (General Weyreuther), die Napoleon mühelos mit kühlem Kalkül zu überwinden vermochte. Der Reformer Michail Speranskij, ein Popensohn, der Russland zu einem Rechtsstaat umgestalten wollte und um ein Jahrhundert seinen Zeitgenossen voraus war - Napoleon gab Zar Alexander I. 1808 in Erfurt zu verstehen, dass dieser mit dem Nichtadligen Speranskij den klügsten Mann in seinem Reiche besitze - erscheint bei Tolstoj als Karikatur eines kalten Bürokraten und Emporkömmlings, eine krasse Verzeichnung! Tolstoj wollte ursprünglich Karamzin, den bedeutendsten russischen "Europäer" und Schriftsteller seiner Zeit, in die Romanhandlung einbeziehen, ließ es aber sein, weil dessen historische Gestalt seine Voreingenommenheit beeinträchtigt hätte.


    Bei Tolstoj kommt immer wieder die Verachtung des Adligen gegenüber bürgerlichen Aufsteigern zum Durchbruch. Napoleon ist ebenfalls ein Zerrbild:

    Natürlich verstört, auch aus heutiger Sicht, dass mit dem Einmarsch der "Großen Armee" und ihrem Untergang 1812 mehr als eine halbe Million Mittel- und Westeuropäer ihr Leben verloren, doch auch das russische Volk verlor eine Million Menschen an Opfern, nicht zuletzt wegen der Kriegführung des Höflings Kutuzov, der in dieser kritischen Situation 1812 gleichzeitig Armeeabteilungen zur Niederschlagung der Aufstände leibeigener Bauern abkommandierte. Dennoch ist mit der widerspruchsvollen Napoleon-Figur, die im nachhinein Balzac, Stendhal, Manzoni, Hegel, Goethe, Heine, Grabbe und viele viele andere begeisterte, auch der Aufbruch Europas in die Neuzeit verbunden, mit dem Code Napoleon, der Emanzipation der Juden, der Bauernbefreiung und vielem anderen.

    Tolstoj eint - bei allen Unterschieden - mit Dostoevskij das Mitleid mit den einfachen Menschen, Duldsamkeit und allverzeihende Liebe erscheinen als Ausweg.