Beiträge von Karamzin

    D'Aprile war zuvor vor allem auch in der Aufklärungsforschung tätig. Ich habe mir vorgenommen, diese Biographie zu lesen.


    Zuvor war es die von einer Germanistin verfasste Biographie:


    Regina Dieterle: Theodor Fontane. Biografie. Carl Hanser Verlag, München 2018. 832 S.


    Wenn ich sie hier durchaus empfehle, dann in dem Bewusstsein, dass jeder etwas anderes bei Fontane suchen mag. Man ist es schon gewohnt, dass die Verlage bei runden Jubiläen so richtig aufdrehen. Während das Lutherjahr 2017 durch die schon 2012 erschienene Biographie von Heinz Schilling bestens bedient worden war, ließ mich das Marx-Jahr 2018 weitgehend kalt, weil die Beschäftigung mit diesem Mann schon Jahrzehnte zuvor lange und intensiv betrieben worden war und jetzt nur für mich Nuancen wahrzunehmen waren.


    Für das Fontane-Jahr nehme ich mir vor, zum ersten Mal seit 1995 wieder "Vor dem Sturm" zu lesen, da freue ich mich schon darauf. Zu "Stine" und "L'Adultera" gab es in diesem Forum vor Jahren Leserunden, aber das werde ich wohl jetzt allein betreiben, weil es bei diesem umfangreichen Roman nicht gelingen dürfte, irgendwie synchrones Lesen mit anderen hineinzubekommen, was bei einem relativ kurzen Werk wie der "Stine" möglich war, und ich eher gewohnt bin, allein zu lesen.

    Ich entsinne mich, Huxley im Jahr 1988 in einer in Leipzig erschienenen Reclam-Ausgabe, also vor mehr als dreißig Jahren, in Südthüringen gelesen zu haben. Ich kannte zu jener Zeit keinen BRD-Bürger persönlich und sah in der Woche kein Westfernsehen, weil ich gar keinen Fernseher hatte. Doch lebte ich viele Monate in der Sowjetunion, in der einst Samjatin gewirkt hatte, und dort begannen jetzt "Perestrojka" und "Glasnost". Aldous Huxley schien also in der DDR eher ungefährlich zu sein, er wurde zum Lesen zugelassen, da seine "schöne neue Welt" scheinbar eine Kritik an Auswüchsen des 'gegnerischen Westens' enthielt. Außerdem war die Zensur 1988 schon keineswegs ein Monolith mehr, sondern bereits in zahlreichen Verlagen durchsetzt von Reformern und Anhängern der Perestrojka, was die "kehrenden Besen" der Jahre 1990-1993 nicht mehr wahrhaben wollten, die alle damaligen Reformansätze undifferenziert auf den Müllhaufen der Geschichte befördern wollten.


    Orwells "1984" hingegen war in der DDR verboten, aus gutem Grund natürlich, denn es griff wie kaum ein anderes Buch jener Art die Grundlagen der Gesellschaftsordnung an, und dafür hatte die Parteiführung ein untrügliches Gespür. Elemente der "Brave New World" gab es durchaus in der Realität, die uns umgab. Das 'Soma' gab es, und die schönen einlullenden Lieder der Partei und der Freien Deutschen Jugend (..."rums und bums und Ford und Spaß, Mädchen Jungs aus einem Glas" habe ich heute noch im Gedächtnis abgespeichert), von denen ich eines in einem Beitrag für eine 2019 erscheinende Festschrift zum Jubiläum meiner damaligen Schule wörtlich wiedergebe: "Das Wunderland" von Johannes R. Becher, dem "größten Dichter des deutschen Volkes", wie es damals hieß, das der Schulchor zu singen hatte, das schon damals hymnisch-entrückt klang und in dem allerdings für einige Zeit noch der Begriff "Deutschland" verwendet werden durfte, als schon unsere Nationalhymne nicht mehr gesungen werden durfte.


    Die Lektüre eines solchen Buches war nicht nur Zeitvertreib oder Analyse eines literarischen Werkes aus sicherem räumlichen Abstand heraus. Gleichzeitig las ich 1988 von Landolf Scherzer "Der Erste", eine Gegenwarts-Reportage über den Ersten Sekretär der Partei im Kreis Bad Salzungen in Südthüringen, der sich den Allerwertesten aufriß und sich den Herzinfarkt holte, um ein normales Leben in seinem Kreis noch aufrecht zu erhalten, der aber angesichts der nicht aufzubrechenden Strukturen in der Endzeit des realsozialistischen Systems ununterbrochen an seine Grenzen stieß - der eine Teil der Bevölkerung folgte ihm noch, überzeugt, zweifelnd oder schon verzweifelt, andere hatten sich bereits aus dem System verabschiedet.


    Belletristik hatte in der DDR zu jener Zeit eine andere Funktion als heute. Dieses kaum vereinbare Gemisch meiner Lektüre von Huxley, dessen tiefe Traurigkeit, etwa mit der Selbstmordszene, ansteckend wirkte (ob der Autor selbst schmunzelte, sei dahingestellt), und des Buches von Landolf Scherzer wirkte auf mich ein halbes Jahr vor den Ereignissen auf dem Platz des himmlischen Friedens in Peking (die durchaus bei uns Realität werden konnten), vor dem letzten Parteitag der USAP in Ungarn, auf dem die Teilnehmer nicht mehr die Internationale sangen, sondern ihre traditionsreiche Nationalhymne, vor dem Sieg des Runden Tisches im benachbarten Polen und vor all den Ereignissen ein Jahr später im Anschluss an die Montagsdemonstrationen in Leipzig, von denen ich die zweite selbst erlebte ...

    In der zweiten Jahreshälfte 1988 erfasste eine große Angst Teile der Gesellschaft, die bisher gewohnt war, dass das Kollektiv und nicht der Einzelne im Mittelpunkt stand, weil man zwar wusste, dass sich unbedingt sehr bald etwas ändern müsse, aber nicht im geringsten ahnen konnte, was da geschehen könnte.

    Mit diesem längeren Erguß hier, in dem ich nicht auf Einzelheiten des Romans, seiner Figuren und seiner Gestaltungsweise eingegangen bin - dazu müsste ich tatsächlich das Buch wieder in die Hand nehmen -, wollte ich nur darauf aufmerksam machen, dass solch ein Roman durchaus als Text zum Verständnis der realen Umwelt, nicht nur einer literarischen Fiktion, gelesen werden konnte. Und wenn ich heute Huxley wieder zur Hand nehmen würde, stellte ich fest: Ihr wisst gar nicht, in welcher Geschwindigkeit Ihr Euch damaligen Verhältnissen mit dem Versuch einer Durchsetzung monolithischer Macht und Deutungspoheit nähert, dieweilen ein großer Teil der Bevölkerung durch populäre, in den Massenmedien dargebotene Formate in den Bann geschlagen wird. Aber es gibt das Internet, von dem niemand etwas ahnen konnte, niemand hatte 1988 einen privaten Computer, und jetzt schreibe ich etwas in diesem Medium, während damals mit der Schreibmaschine verfasste Texte in mehrfacher Ausfertigung notdürftig durch "Tipp-Ex" korrigiert und mit Schere und Leim einer druckfertigen Fassung zugeführt wurden.

    Das war nun eine Lesung zu einem historischen Thema, nicht aus dem Bereich der Belletristik. Doch wurde hier in verschiedenen Diskussionssträngen auch auf solche Bücher eingegangen.


    Sergej Slutsch/Carola Tischler (Hrsg.): Deutschland und die Sowjetunion 1933-1941. Bd. 2: 1935 – April 1937.



    De Gruyter, 2018.


    Am 29. November 2018 wurde in einem voll besetzten Saal im Ministerium für auswärtige Angelegenheiten der BRD in Berlin, das im östlichen Teil Berlins in den letzten Jahren ein prunkvoll-protziges Innere erhalten hatte,

    der zweite Band der Dokumentenreihe „Deutschland und die Sowjetunion 1933-1941“ vorgestellt, der auf mehr als 1300 Seiten etwa 600 Dokumente über den Zeitraum 1935 bis April 1937, die meisten von ihnen erstmals präsentiert. Träger des Projekts von deutscher Seite ist die Behörde der Ministerin M. Grütters.


    Die gespannte Zeitlage wurde darin erkennbar, dass keine hochrangigen russischen Diplomaten eingeladen worden waren. Und auf der anderen Seite ist der Zugang zu etlichen russischen Archivalien noch/wieder versperrt.

    Im Publikum saßen viele, die noch die Erforschung der deutsch-sowjetischen Beziehungen in den Jahrzehnten vor dem Mauerfall 1989 miterlebt hatten.

    Es moderierten der Historiker Andreas Wirsching vom Institut für Zeitgeschichte und der auch aus Talkshows bekannte, an der Humboldt-Universität zeitweise von bestimmten Gruppierungen heftig angefeindete Russland-Historiker Jörg Baberowski, der sich u. a. mit stalinistischem Terror beschäftigt hat.

    Die Herausgeber des Bandes, der russische Archivkenner Sergej Slutsch und die Historikerin Carola Tischler, stellten den von ihnen mit Hilfe des unermüdlichen Sachkenners Lothar Kölm gestalteten Band als ein Gemeinschaftswerk vor, diskutierten zu viert auf dem Podium und stellten sich den Fragen aus dem Publikum.


    Die Frage nach der Aktualität knisterte im Raum. Wieder beeinflussen ideologische Gründe die Beziehungen der Länder.

    Zur Vorgeschichte:

    1922 waren die beiden „Parias“ in Europa, das Deutschland der Weimarer Republik, dem die stark belastenden Bedingungen des Vertrages von Versailles auferlegt worden waren, und die Sowjetunion, die im Verdacht stand, die Weltrevolution exportieren zu wollen, einander näher gekommen und schlossen den Rapallo-Vertrag ab.

    Auch nach 1933, der Machtübertragung an Hitler und die Nationalsozialisten, wurden trotz aller ideologischen Feindseligkeit die wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen beiden Ländern und die Zusammenarbeit zwischen Wehrmacht und Roter Armee fortgesetzt, war man in beiden Ländern bestrebt, jenseits ideologischer Barrieren eine pragmatische Politik zu betreiben.

    Die Annäherung an die Westmächte, die in der Sowjetunion, die erst 1934 dem Völkerbund beigetreten war und 1935 als Volksfrontpolitik erschien (mit Heinrich Mann, Lion Feuchtwanger u.a., Pariser Letitia-Kreis), wurde vor allem von dem sowjetischen Volkskommissar Maxim Litwinow vorangetrieben. Doch hatte immer Stalin im Hintergrund das Sagen, eine eigenständige Politik solcher sowjetischer Diplomaten war undenkbar. Stalin und seine engsten Mitarbeiter lasen "Mein Kampf" und machten Randbemerkungen.


    Aus dem Publikum wurde angemerkt, dass man doch hätte erkennen können, worauf Hitlers annexionistische Pläne und die Absicht der Judenvernichtung hinausliefen - für meine Begriffe wird hier allerdings zu sehr aus der Kenntnis des später Geschehenen geurteilt. Vor 1939 hätten sich noch andere Konstellationen ergeben können, das Kommende war nicht zwingend vorherbestimmt.


    Im deutschen auswärtigen Dienst waren Diplomaten wie Rudolf Nadolny (1873-1953) tätig, die in traditioneller Weise ihren Geschäften nachgehen wollten, ohne sich von der nationalsozialistischen Ideologie treiben zu lassen. Botschafter von der Schulenburg, später Opfer des 20. Juli 1944, hatte zu dieser Zeit Hitlers Vorstellungen gefolgsam umzusetzen, wie er wirklich dachte, lassen die Dokumente jener Zeit nicht erkennen.


    Noch war in diesem Zeitraum nicht absehbar, dass der deutsche Nationalsozialismus Verderben über die Völker Europas und weitere Erdteile bringen würde. Doch die Unruhe in Europa nahm zu. Hitlerdeutschland griff an der Seite des spanischen Diktators Franco in den spanischen Bürgerkrieg ein.

    Volkskommissar Maxim Litwinow, jüdischer Herkunft, sollte für Stalin dann nicht mehr tragbar sein, als es 1939 an die Herstellung einer Übereinkunft mit Hitler gehen sollte, und er ersetzte ihn durch den treuen Gefolgsmann Molotow. Litwinow starb noch eines natürlichen Todes, doch die meisten Akteure auf sowjetischer Seite wurden wenige Jahre später umgebracht. Das tödliche Ringen im „Weltanschauungskrieg“ nach dem 22. Juni 1941 sollte seinen Lauf nehmen, wir aber können auf den nächsten und letzten Band warten, den sich mit seinen knapp unter 200 Euro allerdings auch kaum ein Sterblicher wird leisten können.

    Hallo Volker,


    Dein etwas missglückter Einkaufsversuch weist darauf an, dass wir in unseren Landen beträchtliche Mentalitätsunterschiede haben. Einem Nord- oder Mitteldeutschen wird es nur schwer fallen oder nicht gelingen, das im Süden alltägliche "Grüß Gott" über die Lippen zu bringen.


    1992 saß ich mit meiner Frau in einem Regionalzug von der Höhe des Schwarzwaldes hinab nach Freiburg. Hinter uns drei einheimische Frauen. Eine versetzte in ihrem Badener Dialekt: "Jetzt kommen die ganzen Neger, Zigeuner und Ostdeutschen zu uns!" Mit letzteren waren wohl wir Bewohner der ehemaligen DDR gemeint. Wir waren ganz still geworden. So wurden wir als die Ortsfremden wohl eingeordnet.



    Dann fiel mir noch die folgende literaturkritische Betrachtung über die Nostalgie in die Hände. An Nostalgie finde ich an sich nicht Schlimmes. Wir Älteren werden oft sagen, dass wir bessere Zeiten erlebt haben.


    Hier scheint mir einiges in diesen Betrachtungen durcheinander zu gehen. Das Buch von Strauss möchte ich weder lesen, noch dürfte es die Befindlichkeiten von Monika Maron treffen, die man meines Erachtens mit den 1968ern und den nachfolgenden Irritationen der westdeutschen intellektuellen Eliten nun wirklich nicht in Verbindung bringen kann.


    https://literaturkritik.de/str…-vergangenheit,24721.html


    Hier scheint mir etliches durcheinander zu gehen und in einen großen Topf geworfen zu werden. Monika Maron machte im März auf Krisenerscheinungen im Land aufmerksam, die erst jetzt im Juni und Juli dieses Jahres deutlich geworden sind. Man kann von denen, die seit langem gewarnt haben, nicht ein geschlossenes Programm zur Behebung der Krise an der Spitze des Staatswesens verlangen, die jetzt wohl dem letzten sichtbar geworden ist. Wenn der Vergleich zu 1989 immer wieder angestellt werden wird, können diejenigen nichts dafür und nichts daran ändern, die nichts in der inszenierten Öffentlichkeit zu sagen haben.


    Wir waren heute in der Komischen Oper Berlin in der Aufführung von Georg Friedrich Händels "Semele" (1744). Das Publikation feierte die Künstler mit stehenden Ovationen. Hier in einer anderen Aufnahme die vielleicht bekannteste Arie aus der "Semele": "Where'er you walk".

    Gerade in diesen Tagen:

    ...

    Wer sich vermessen überhebt, wird wegen seines Hochmuts gestürzt und in Staub verwandelt.

    Am 6. Juni ist Professor Franz Wuketits (1955-2018) verstorben. Er war Autor zahlreicher Buchpublikationen, in denen er vor allem als Biologe die Grundlagen der modernen Evolutionstheorie darlegte und gegen Kreationisten aller Schattierungen verteidigte.


    https://www.giordano-bruno-sti…e/beirat/wuketits-franz-m


    Auf Schloss Schney bei Lichtenfels in Franken, wo er Stammgast der Freien Akademie e.V. war, konnte man seine schwungvollen Vorträge erleben.

    benji gibt genug im Internet. Reich-Ranicki hat einen Kanon. Dennis Scheck auch und wenn du nur Kanon und Literatur bei Google eingibst kommen etliche Listen.

    Vor einem Monat hatten wir hier eine Diskussion über die Zusammenstellung von Bestsellerlisten. Ich hatte die Vermutung geäußert, dass in einem bestimmten Fall manipuliert worden ist. Jetzt erschien ein zu diesem Thema passendes Buch von Jörg Magenau (*1961), der mir zuerst als Autor der Christa Wolf-Biographie bekannt geworden war, in den letzten Jahren auch eine Biographie Walsers sowie ein Buch über die Freundschaft Helmut Schmidts und Siegfried Lenzens vorgelegt hatte.


    https://www.hsozkult.de/public…eview/id/rezbuecher-29413


    Durch den "Spiegel" etwa wurden entsprechende Listen sehr stark beeinflusst. Meine Beobachtung zum Verschweigen des Buches von Monika Maron "Munin oder Chaos im Kopf" in Bestsellerlisten scheint in diesen Zusammenhang zu passen. Obwohl es breit diskutiert wird, taucht es dort nicht auf.

    Schoen dass Du wieder geschrieben hast, finsbury .Ich bin noch nicht viel weiter. Habe wieder mit meinen Bronchien und Lunge zu tun, weshalb ich auch am Dienstag zur Kur nach Bad Reichenhall fahre. Meine Frau hat so lange auf mich eingeredet, bis ich die Kur beantragt habe. Sie wurde auch sofort bewilligt. Leider kann ich das tablet nicht mitnehmen. Es ist die Hauptverbindung meiner Faru zum Rest der Welt. Mit dem PC will und kann sie folglich nicht. Guck mal, nun habe ich die Festungstid bestimmt schon zweimal gelesen. Aber an das, was Du schreibst, kann ich mich nicht mehr erinnern. Uebrigens lese ich jetzt die alten Schwarten mit Mundschutz, weil ich festgestellt habe, dass ich Asthma von den Dingern bekomme. SEHR schade. Wenn Du das liest, denkst Du bestimmt: Ach Gott, der arme alte Kerl ist ja ein Wrack. Wenn Du mich aber sehen und erleben wuerdest, wuerdest Du denken: Der macht ja noch einen ganz munteren und fidelen Eindruck. Und so ist es in der Tat.

    Hallo Volker, wenn ich auch nicht hier in der Reuter-Debatte mithalten kann, weil ich zur Zeit weder diesen Roman erfassen noch mich in der plattdeutsch-norddeutschen Welt zurecht finden kann, wünsche ich Dir doch sehr eine heilsame Wirkung Deiner Kur, auf dass Du noch viel munterer und fideler wieder zurückkommst! Meine Frau hat seit langem mit Asthma zu kämpfen, ich weiß, was das bedeuten kann.

    Alles Gute für Dich in Bad Reichenhall!:)

    Noch einmal zu den Bildern, den Illustrationen Leonid Pasternaks: Wenn man Google anwirft und Tolstoj "Die Auferstehung" eingibt, bekommt man tatsächlich einige dieser zeitgenössischen Illustrationen zu sehen.


    Kapitel 28

    Die moralische Wandlung Nechljudows geht allerdings recht schnell voran. Es ist eine "Reinigung" von dem "Schmutz", den er auch im Luxus der adeligen Standesgenossen erblickt. Er hatte schon einige Übung darin, seine "Seele" zu reinigen. Da war die Rechenschaftslegung in Tagebuchform, wie sie auch im deutschen Sprachraum bei den Pietisten üblich war. Da war die Flucht in den Kriegsdienst. Und jetzt sollte die Wandlung dauerhaft werden.

    Dieses Bild von der "Reinigung", es dürfte ein beträchtliches Maß orthodoxer "Reinigungsvorstellungen" im Spiel sein, die orthodoxe Kirche kennt ebenfalls das Fegefeuer. Der alltägliche "Schmutz" in Russland umgibt den Autor wie sein Geschöpf, den Fürsten Nechljudow.



    Aufmerken lässt die Bemerkung: "Der Gott, der in ihm war ..." Das heisst, Gott senkt sich in die Seele des Menschen, er ist nicht mehr oder nicht nur die übermenschliche Vaterfigur im Himmel mit Menschenantlitz, der allwissende, allmächtige, gütige, liebende oder strafende Gott, sondern Tolstojs Gott hat sich auch in einem einzelnen Menschen niedergelassen.

    In diesem Kapitel dürfte viel Autobiographisches enthalten sein. Tolstoj schildert sozusagen im Zeitraffer seinen eigenen Wandlungsprozeß, der sich über einen viel längeren Zeitraum hinweg vollzog.


    Die innere Wandlung betraf - und das dürfte jetzt in dieser Rigorosität eine Tolstojsche Besonderheit sein - auch das Verhältnis zum eigenen Landbesitz, dem Erbe der Mutter Nechljudovs. Um sich von dem schmutzigen, sündhaften Leben zu befreien, sollen die Bauern auch das Land übertragen bekommen.

    ---> bevor Boris Jelzin 1993 das Gesetz über das Eigentum erließ, gab es in Russland wie in der Sowjetunion keinen römisch-rechtlichen Eigentumsbegriff. Das Land gehörte dem Zaren, der es den Adligen lediglich übertrug und es jederzeit wieder durch Konfiskation entziehen konnte, es gehörte dem Staat, und man braucht sich überhaupt nicht zu wundern, dass in der Sowjetperiode die Einwohner nie ein im westlichen Sinne "richtiges" Eigentumsverständnis entwickelten: Alles gehörte offiziell allen (Volkseigentum) und allen gehörte nichts, und man brauchte sich um die Pflege und die Mehrung dieses Eigentums nicht zu sorgen.

    Es gibt eine Linie von Litauen im Norden, der einstigen polnisch-litauischen Adelsrepublik (1569 bis 1795), mitten durch die Ukraine eine Grenze - westlich von ihr wurde das römische Recht rezipiert, und es fand Eingang in die staatliche Gesetzgebung, östlich davon, im russischen Zarenreich, rezipierte man das römische weltliche Recht lediglich an der 1755 gegründeten Moskauer Universität, aber es ging nicht in die offizielle Gesetzgebung ein.



    Wein und Branntwein


    Noch etwas aus dem Alltagsleben: "Vino" heisst im Russischen sowohl "Wein" als auch "Schnaps", "vinokurenie" war Schnapsbrennerei, von der der Staat damals wie heute (und auch bei uns) kräftig profitierte, einer der bedeutendsten Posten in der russischen Wirtschaft. Im Gefängnis nun sehnt sich die Maslowa nach einem "Schnaps". Im Bordell jedoch lernte sie "Wein" in großen Mengen zu trinken.


    Ich will der Übersetzerin jetzt nicht zu nahe treten. Es gab ja auch für das Volk billigen "Wein", das war aber ein elendes Gesöff aus Essig und Kreide oder was weiß ich nicht noch. Auf jeden Fall gab es für das Volk keinen edlen Traubenwein, der war den Adligen und reichen Kaufleuten vorbehalten. Ob die Maslowa auch schon früher lediglich Schnaps in sich hineingeschüttet hat, um das Gefühl zu betäuben, und nicht "Wein", wie Barbara Conrad übersetzt ?

    Ich entsinne mich jedenfalls, dass ich das erste Mal, als ich für längere Zeit in Moskau leben sollte, unerwartet "Portwejn" in die Hand bekam. "Schmeckt irgendwie süß, das Zeug", dachte ich und erinnerte mich an Ungarn und dort speziell den Tokajer, der so edel war, dass ihn August der Starke für Zar Peter den Großen aus Ungarn als besonderes Getränk bezog, das die Eigenschaft hatte, den aufbrausenden Herrscher rasch zu besänftigen. Jedenfalls war ich nach vier Gläsern arglos getrunkenen "Portweins" so breit, dass ich mich am nächsten Tag nur noch an den Beginn erinnerte, ihn im Volkspark von Sokolniki erstmals probiert zu haben.


    "Aufhören!", mag mancher Leser jetzt unmutig anmerken, anstelle von "Seelenwandlungen" schreibt der jetzt bloß vom Branntwein! Was das andere "Laster" anbetrifft: man rauchte in Tolstoj Roman sowohl in den Oberschichten als auch im Volk damals wie heute Zigaretten (ich bin heute froh, dass ich nicht damit angefangen hatte, schmeckte mir irgendwie nicht). Bei seinem Zeitgenossen Fontane stecken sich die Herren in den Berliner Salons schwere Zigarren an

    https://www.smb.museum/ausstellungen/detail/wanderlust.html


    Das Wandern bedeutet, sich freiwillig zu Fuß fortzubewegen, ohne damit einem bestimmten Geschäft nachgehen zu wollen. Die unmittelbaren persönlichen Eindrücke von Natur und Landschaften stehen dabei im Vordergrund. Mitunter hat man nun die Muße, ins innere Ich zu schauen. Wenn man den riesigen Himmel über sich wölben sieht oder auf einem Berg steht und die Aussicht genießt, wird einem die Begrenztheit des eigenen Horizonts deutlich.


    Es gibt verbissene Einzelgänger, die sich am liebsten allein fortbewegen. Das war ich seit früher Jugendzeit und bin es auch heute noch geblieben, wenn mir auch die Begleitung durch liebe Nächste inzwischen recht ist.

    Es gibt Leute, die sich am liebsten in Familienverbänden oder mit einer Gruppe bewegen, wobei Bollerwagen, Flaschen und Picknickkörbe mitgeführt werden.


    Bei manchen geht in freier Natur die körperliche Ausarbeitung eher in Sport über, sie wollen (die Ärmsten :-)) bestimmte Ziele mit einer bestimmten Geschwindigkeit erreichen und entwickeln einen diesbezüglichen Ehrgeiz. Das ist aber dann schon kein beschauliches Wandern mehr, auch nicht der Alpinismus mit Seil und Haken. Nicht mehr mein Ding, ich habe seit der Kindheit ein gestörtes Schwindelgefühl und kann mich nicht mal lange auf einer Leiter stehend halten.


    Der Verlust der Gehfähigkeit oder des Augenlichts wären für einen Liebhaber des Wanderns sehr schlimme Ereignisse.


    Das Wandern wurde in der Bildenden Kunst eigentlich erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zum Thema, für das Rousseau mit seinem "Emile", seiner "Neuen Heloise" und den "Betrachtungen eines einsamen Spaziergängers" einen gewichtigen Anstoß gab, ein unbeirrbarer Einzelgänger.

    Als sich Karl Philipp Moritz 1782 zu Fuß aus London fortbewegte, wurde er nicht nur von Gentlemen und Vergnügungsreisenden verlacht, sondern auch von Handwerkern und Bauern. Wirte wollten ihn nicht in den Gaststuben empfangen, weil man in ihm einen Bettler sah, so unsinnig erschien es, dass jemand ohne eine konkrete Verrichtung so einfach loslief. Nikolaj Karamzin unterhielt sich 1789 in Berlin mit Moritz und lief selbst im Tiergarten und dann auf dem Weg in die Schweiz immer wieder zu Fuß. Er machte dabei die Bekanntschaft des Kopenhagener Apothekers Gottfried Becker (1767-1845), der selbst zum Inhaber der Hofapotheke werden sollte, und große Teile seines Weges mit einem Knotenstock und in Begleitung eines Hundes zu Fuß zurücklegte.

    Bekanntester Fußreisender wurde schließlich Johann Gottfried Seume (1763-1810), der sich spezielle Stiefel fertigen ließ, die heute wohl niemand mehr anziehen würde, der zwar auf seinen Wanderungen nach Syrakus 1802 tatsächlich beachtliche tausende Kilometer zurücklegte, bei seiner Reise nach Russland 1805 aber beträchtlich "schummelte".


    Johann Wolfgang Goethe war ein großer Fußwanderer vor dem Herrn und verfasste die "Betrachtungen im Sinne der Wanderer", sein "Wanderers Sturmlied" ist so schön verrückt, dass man ihm abnehmen kann, dass er auch umnachtet seine Touren unternahm.


    Über das Wandern in der Literatur und in der Bildenden Kunst könnte man noch seitenlang berichten, von Caspar David Friedrich bis Auguste Renoir, von Adalbert Stifters Bergwanderern bis Reinhold Messner

    - von dem noch eine Geschichte: er war wirklich auf allen Achttausenden des Himalaya und in der Wüste Gobi, ein besonderes Erlebnis jedoch war für ihn das Besteigen des Brockens im Hochharz, wo er dem "Brocken-Benno" begegnete, der jetzt 85 Jahre alt ist und jeden Tag, bei jedem Wetter auf den 1141 Meter hohen Brocken steigt. Der Harz für den Südtiroler Messner ein einzigartiges Naturerlebnis


    Die Ausstellung in Berlin ist noch bis zum September zu sehen.

    Der Ostergottesdienst war für Nechljudow "eine der lichtesten und stärksten Erinnerungen".



    Auch für mich war er außerordentlich eindrucksvoll. An die Moskauer Staatliche Lomonossow-Universität waren 1980 Einladungskarten des Patriarchen von Russland ausgegangen, den nächtlichen Ostergottesdienst im Novodevichij-Kloster besuchen zu können, rote Kärtchen mit goldener Umrahmung, wie ich eine heute noch aufbewahre. Auf dem Friedhof, der die Klosterkirche umgab, waren überall Kerzen auf die Gräber gestellt. Mönche in schwarzen Kutten mit Sprechfunkgerät (!) patrouillierten auf dem Friedhof, auf dem nur wenige Frauen vorbeihuschten, die Miliz hatte außen alles abgeriegelt.

    Ein Universitätsbeauftragter spähte, ob er irgendwo einen Studenten erblicken konnte, dem es dann schlecht ergangen wäre, er fand aber keinen, ein Flachmann mit Pflaumenschnaps erleichterte ihm die Aufgabe. Am Ende der Brezhnew-Zeit (siehe dazu die vorzügliche Biographie von Susanne Schattenberg 2018) war der Staat daran interessiert, allmählich sein Verhältnis zur orthodoxen Kirchenführung zu normalisieren, denn nach außen hin hatte die Sowjetunion durch den Einmarsch in Afghanistan im Dezember 1979 stark an Ansehen eingebüßt, und es erschien ratsam, sich wieder einen Rückhalt in der Kirche zu suchen. Ein Höhepunkt dieser Normalisierung war 1988 die Feier der 1000jährigen Christianisierung des Alten Russlands. Doch Staat und Kirche blieben streng getrennte Bereiche.

    Als es Mitternacht wurde, schickte man mich zu den Vertretern der italienischen Botschaft, da es Gäste aus sozialistischen Ländern nicht gab. Die Kirche war strahlend hell erleuchtet durch Tausende von Kerzen. Gesänge erschallten, die ich heute noch nach fast vierzig Jahren im Ohr habe. Kirchenfahnen wurden in einer Prozession herumgetragen. Das Ganze dauerte mehrere Stunden.


    Und nun wieder zu Tolstoj. Die Handlung muss vor 1877/78 spielen, denn da wurde der Krieg Russlands mit dem Osmanischen Reich ausgefochten, an dem Fürst Nechljudow teilnehmen sollte. Und dieser nächtliche Ostergottesdienst wurde in der Provinz, in der Nähe von Adelsgütern, abgehalten. Weshalb beeindruckte dieser Gottesdienst Nechljudow noch, von seiner zu jener Zeit aufrichtigen Liebe zu Katjuscha abgesehen? Es kam zu einer, wenn auch nur kurzzeitigen Begegnung der Versöhnung zwischen den Angehörigen verschiedener sozialer Schichten, vom Adligen bis zum Bettler, nachdem die Stände und auch Frauen und Männer kurz zuvor streng voneinander geschieden in der Kirche gestanden hatten (Sitzbänke gibt es nicht in der orthodoxen Kirche). Dem Adligen und Reichen konnte das Gefühl gegeben werden, mit den Ärmeren doch einer gemeinsamen Volksgemeinschaft anzugehören. 1833 hatte der Bildungsminister Sergej Uvarov die Formel von der Dreieinigkeit "Zarentum - Kirche - Volkstum" regierungsoffiziell werden lassen, die im Grunde genommen bis in die heutige Regierungsdoktrin Vladimir Putins nachwirkt. Und dieses "vereinte Russland" konnte gemeinsam gegen äußere Feinde stehen: den "Westen" mit seiner Dekadenz, dem kapitalistischen Gewinnstreben der Großindustrie und dem Sittenverfall, für den Dostoevskij symbolisch der anlässlich der Weltausstellung errichtete Kristallpalast in London stehen sollte, mit seinem Vortrupp, den katholischen Polen, die vor der Befreiung durch Minin und Pozharskij 1612 jahrelang Moskau (mit Unterbrechungen) besetzt hielten, und 1812 fochten wieder zehntausende Polen im Heer Napoleons mit, der Russland angriff - "Krieg und Frieden" Tolstoj ist voll von großrussischer Verachtung für die Polen, die sich in Begeisterung für Napoleon als Erste in die Fluten des Neman stürzten, um vor seinen Augen zu ertrinken. Wenn wir uns heute wundern, warum das kleinere Polen für das riesige euro-asiatische Russland ein Trauma darstellt, dann wohl wegen dieser Demütigung durch die zweimaligen Besetzung Moskaus.


    Ich bewahre auch heute noch ein kleines rotes, bunt bemaltes hölzernes Ei auf, dass mir in Moskau in der Osternacht geschenkt worden war. Wenn nun zur damaligen Zeit auch selbst Parteimitglieder noch heimlich unter dem Kragen ein Heiligenbild oder Kreuz auf der Brust trugen, so bedeutete das nicht ein Symbol für ihre Frömmigkeit. Es war eine Art "Rückversicherung" und ein Andenken an das Familienmitglied, das einst dieses Symbol als Zeichen der Liebe schenkte.

    Nach 1989/90 war ich schon skeptisch in Bezug auf Verlautbarungen, wonach die Mehrheit der Russen eine Rückkehr zum orthodoxen Glauben vollzogen hätte. Nach mehr als 70 Jahren, nach der Stalin-Ära mit ihren Morden an zehntausenden Priestern und Gläubigen, der Enteignungen und Verwüstungen von Kirchen und Klöstern, schien dies kaum mehr möglich zu sein.

    Eine russische Freundin erklärte mir einen Zusammenhang, für mich doch etwas überraschend, so: "Für uns Frauen bedeutet das, wenn sich ein Mann plötzlich entschlossen hat, fromm zu werden, tagelang in der Kirche zu stehen und Ikonen zu küssen, dass er für die Familie, für seine Frau und seine Kinder jetzt verloren ist. Die haben nichts mehr von ihm. Er ist ein nutzloses Mitglied der Gesellschaft geworden. Kirche ist doch nur etwas für alte Frauen in Schwarz geblieben"

    Bei der Freundin klang hier noch das sozialistische Arbeitsethos aus vergangenen Zeiten an, das auch bei uns in der DDR verbreitet war. Der entscheidende Unterschied bestand für mich jedoch darin, dass wir als Religionslose zur gleichen Zeit bemerkten, wie jetzt die christlichen Gläubigen mit ihrer Bibelkenntnis (die es in Russland nicht gibt) und mit ihrer protestantischen Innerlichkeit entscheidend dazu beigetragen hatten, dass der Staat mit all seinen Waffen lautlos zusammenbrach, und jetzt versuchten, wieder ihren Einfluss in der Gesellschaft herzustellen. Im katholischen Eichsfeld hingegen, an der Grenze zum evangelischen Göttinger Land, in den saubersten Dörfern des Landes, hatten immer seit langem Bürgermeister, Dorfpolizist und katholischer Pfarrer einvernehmlich für Ordnung und Sauberkeit gesorgt.:)

    Lev Nikolaevič Tolstoj „Die Auferstehung“


    Bei den Teilnehmern der Leserunde sind die Kenntnisse über die Hintergründe und Zusammenhänge sicher unterschiedlich. Die Ausgabe in der Übersetzung von Barbara Conrad von 2016 hat mir zusätzliche Informationen beschert. Es mag auch Leser geben, die die biographischen und rezeptionsgeschichtlichen Zusammenhänge für nicht so wichtig halten, die sich in die Lektüre stürzen und ihren unmittelbaren Eindrücken vertrauen, was ja eine völlig gleichberechtigte Herangehensweise ist. Ich brauche da überhaupt nicht von mir auszugehen. Deshalb bringe ich hier von Zeit zu Zeit immer mal Stücke als ein buntes

    Kaleidoskop

    Und es kann diskutiert werden, wenn manches vertieft werden sollte.


    Tolstoj meinte, dass man verschiedene Leute eines Schlags beobachten sollte, um einen bestimmten Typ eines Menschen zu schaffen.


    „Wenn ich direkt nach der Natur irgendeinen Menschen abmalen sollte,“ meinte Tolstoj, „kommt dabei überhaupt nichts Typisches heraus – es ergbit sich irgendetwas Einheitliches, Ausschließliches und Unin teressantes.“

    L.N. Tolstoj: Vollständige Werkausgabe. Bd. 33. S. 315-316. Zitiert in:

    Kontstantin Lomunov: Nad stranicam „Voskresenija“. Istorija sozdanija romana L. N. Tolstogo. Problemy, obrazy, charaktery. Pervye otkliki [Auf den Seiten der “Auferstehung”. Die Geschichte der Entstehung des Romans L. N. Tolstojs. Probleme, Bilder, Charaktere. Erster Widerhall]. Moskva 1979, S. 352.


    Die Handschrift von „Krieg und Frieden“ umfasst 5202 Blätter, die der „Anna Karenina“ 2651 Blätter, die der „Auferstehung“ hingegen 7044 Blatt. Der endgültige Text des Romans „Krieg und Frieden 1460 Seiten, „Anna Karenina“ 857 Seiten und „Die Auferstehung“ ursprünglich 443 Seiten (Lomunov, S. 7).


    Die Korrekturen des Romans konnten erheblich sein. Sie sind an den Rändern in einer gestochenen deutlichen, auch heute lesbaren, zusammenhängenden, leicht nach rechts geneigten Schrift ohne Pausen zwischen den Buchstaben verfasst, während etwa Balzac seine Korrekturbögen zu „Tapeten" zusammenklebte und die Setzer derart zur Verzweiflung brachte, dass sie in den Streik zu treten drohten, wenn sie weiter Werke Balzacs setzen müssten.


    Relativ früh befand sich der Buchillustrator Leonid Pasternak in Tolstojs Nähe und beobachtete die Entstehung des Werks.

    https://de.wikipedia.org/wiki/Leonid_Ossipowitsch_Pasternak


    So gibt es beispielsweise eine Skizze, ein aufgestützter Kopf, direkt auf einer Korrekturseite des Romans, die offenbar einen nachdenklich gewordenen Nechljudow darstellen soll.

    Die fertigen Illustrationen (1898-1899) geben Katjuscha in einem wärmenden Mantel und zwei Wächter mit Gewehren und Pelmützen mit dem Doppeladler wieder, die sie abführen. Der eine, ein verbissener russischer Kopf, steckt gerade den Überstellungsbefehl in den Ärmel, unbeweglich steht ein Kalmyke daneben.

    Ein anderes Bild: Ein dicker Anwalt mit aufgesetztem Monokel, Orden am Revers und Aktenmappe schreitet stolz im Korridor des Gerichtssaales umher. Ein Gerichtsdiener verbeugt sich still vor ihm.

    Schließlich wendet sich der sichtlich angeheiterte Kutscher zu Fürst Nechljudow um, der in der Kutsche sitzt.

    Nach dem Urteillspruch steht die Maslova noch aufrecht und unbeweglich da, während die Personen den Gerichtssaal verlassen, hinter ihr ein Gendarm mit gezücktem Säbel, der sie am Rücken angreift und zu halten sucht.


    Tolstoj lieferte auch selbst Skizzen zu seinem Roman, zum Beispiel vom Innenhof eines Gefängnisses mit einer Gruppe dreier Männer, auf der linken Bildhälfte schwebt eine Frauengestalt wie ein Engel.





    Kurz bevor der Schluss des Romans erschien, schloss die Bevölkerung in de Öffentlichkeit Wetten ab, ob Nechljudow und Katjuscha am Ende heiraten würden. Die Herausgabe des Romans in Fortsetzungen war vollends zu einer öffentlichen Angelegenheit geworden. Man könnte das mit dem Erscheinen der „Nouvelle Heloïse“ 1762 vergleichen, der Autor Jean-Jacques Rousseau hielt sich verborgen.

    Tolstoj selbst plante nach 1900 hingegen, den Roman fortzusetzen. Das bäuerliche christliche Leben Nechljudows sollte dargestellt werden.

    Thomas Mann schrieb im Exil 1940 in einem Aufsatz:

    „Die rein erzählerische Macht seines Werkes ist ohnegleichen, jede Berührung damit auch dort, wo er Kunst gar nicht mehr wollte, sie schmähte und verschmähte und nur gewohnheitsmäßig sich ihrer zur Erteilung moralischer Lehren bediente ….“.

    Zefira. Einverstanden! Ich habe hier wahrscheinlich keine Ahnung und plappere nach, was manche Medien so behaupten.


    (ein Fall aber, der eines meiner engsten Familienangehörigen betraf, ein Raubüberfall durch drei Banditen mit gefährlicher Körperverletzung und Langzeitfolgen vor einigen Jahren 2014, gelangte erst gar nicht erst vor Gericht, die Ermittlungen durch die Polizei wurden höchst oberflächlich geführt, die Täter nie gefasst, meine dreiköpfige Familie ist bis heute traumatisiert - aber das gehört, streng genommen, nicht hierher zum Thema und kann vielleicht nur erklären, dass ich bereit war, jetzt hier derartige Vorurteile zu bedienen, wie auch der Glaube an den Rechtsstaat durch Betrügereien durch als seriös angepriesene Geldinstitute im Westen arg belastet wurde.)


    Wie sagte die früh verstorbene Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley: "Wir glaubten Gerechtigkeit zu bekommen und bekamen den Rechtsstaat."

    Volker, Friedrich II. und sein zeitweiliger Schützling Voltaire (ein Millionär), mit dem er sich zwar zeitweise überwarf, den er aber immer als europäische Berühmtheit zu berücksichtigen hatte und der alles Geschwätz auch sofort in den Salons weiter verbreitete - dieses Gespann von dichtendem Herrscher und die Aufklärung beherrschendem Dichter war vor allem der Ansicht, dass das Volk durch die Religion im Zaum gehalten werden müsse. Persönlich war Friedrich wohl eher Deist (ursprünglicher Anstoß durch den großen Uhrmacher, die Welt läuft weiter ohne ihn) und mit einem gewissen Fatalismus ausgestattet, der in Stunden des Unglücks fast abergläubische Züge annahm.


    Der Glaube Hitlers an die Vorsehung trug wohl auch religiöse Züge, jedoch nicht im Sinne des traditionellen Christentums. Ich hatte einmal begonnen, mir die kommentierte wissenschaftliche Neuausgabe von "Mein Kampf" von 2016 anzusehen und es dann sein gelassen. Das war mir zu viel krudes, verworrenes Zeug, und wirklich gründlich gelesen wurde das in der Zeit des Nationalsozialismus ja auch nicht massenhaft. Möge sich damit auseinandersetzen, dass es ein eigenartiges Stück "Literatur" mit Konstruktion der eigenen Biographie, Entrückung und Selbstverklärung gewesen sein soll, beschäftigen soll sich damit, wer will und kann, wie etwa der Literaturprofessor Albrecht Koschorke in Konstanz.


    Ganz stark waren zu DDR-Zeiten die aus der Religion kommenden Züge mit Fahnenweihen, Gelöbnissen, der Verehrung von Märtyrern, wie des "Roten Trompeters" Fritz Weineck mit einem Klagelied (ein Frevel wäre gewesen, jetzt wegen der Ähnlichkeit der Formen der Verehrung an Horst Wessel zu denken). Die Fackelzüge (Prozessionen) der Freien Deutschen Jugend Unter den Linden in Berlin wirkten auf mich als Jugendlichen außerordentlich gespenstisch, und nicht nur mir kamen Erinnerungen an eine unheilvolle Vergangenheit auf, die eigentlich nur wenige Jahre zurücklag. Noch mehr erinnerten selbst erlebte Feierlichkeiten in der Sowjetunion, Begräbnisse und Fahnenweihen, an die religiöse Verehrung, wobei in Russland traditionell die Bilder (Ikonen) und Kirchenfahnen immer eine große Rolle gespielt hatten.


    Monika Maron, das sollte man im Auge behalten, hat ihre Jugend im Dunstkreis der höchsten Funktionärselite der DDR verbracht, in dem ihr Stiefvater Karl Maron eventuell nicht einmal der Schlimmste gewesen ist. Wie etliche Kinder hoher Funktionäre hat sie sich dann schroff vom System abgewandt. Ist doch verständlich: man sieht all diese Größen, die die öffentliche Meinung völlig zu beherrschen suchten, sozusagen in Unterhosen zu Hause.

    Wen man nach Jahren wieder die umfangreichen Gerichtsszenen in Tolstojs "Auferstehung" liest, fällt einem der maßgebliche deutschsprachige Titel zu dieser Thematik ein. Der jetzt in Berlin tätige Osteuropa-Historiker Jörg Barberowski, der in den zurückliegenden Jahren wie kaum ein anderer als Kritiker der Politik Angela Merkels in die Schlagzeilen geraten ist und auch etliche Talkshow-Runden bestritten hat (für die, die einen Fernseher nutzen),

    hatte 1996 seine Dissertation über das russische Gerichtswesen nach den Reformen Zar Alexanders II. im Druck erscheinen lassen. Wenn man sich noch einmal die damalige Rezension vor Augen führt, bekommt man einen Eindruck von der Bedeutung dieses Themas. Im 19. Jahrhundert spürte man im Zarenreich einen großen Nachholebedarf bei der Herstellung rechtstaatlicher Verhältnisse.

    http://www.faz.net/aktuell/feu…d-das-recht-11316697.html


    Hier kam eine alter Umstand ins Spiel, der schon bei den Reformen Peters I., Katharinas II. oder Alexanders I. einen Rolle gespielt hatte, die alle durchaus fortschrittliche Züge aufwiesen: man kann durch Nutzung ausländischer Vorbilder neue Institutionen und Formen der Rechtsprechung, wie die in Europa durchaus umstrittenen Geschworenengerichte schaffen. Filmliebhaber erinnern sich an die zahllosen Gerichtsfilme aus den USA, die die Beeinflussung der Geschworenen zum Inhalt haben. Ob die nun der Weisheit letzter Schluss sein sollen., weil man auf die Lebenserfahrung mündiger Bürger setzt (obwohl man weiß, wie die Geschworenen mitunter manipuliert werden) oder man auf Einzelentscheidungen eines Richters setzt, der unter Umständen nicht seine Tagesform erreicht haben kann - auf jeden Fall ist Tolstojs Roman auch Anlass dafür, über Sinn und Unsinn dieser Formen der Rechtspflege nachzudenken.


    Aber dann kam wieder ein großes Hemmnis ins Spiel: hatte man in Russland überhaupt die Leute, die die Funktionen in diesen neu geschaffenen Institutionen ausfüllen konnten? In einem Land, das noch bis 1861 Leibeigenschaft kannte, wo das Analphabetentum so weit verbreitet war, dass man staunt, dass Katjuscha lesen konnte? Es nimmt überhaupt nicht wunder, dass aktive oder gediente Offiziere so eine große Rolle spielen, weil die Garderegimenter immerhin einen Hort der Bildung darstellten und es in Russland bis zum 19. Jahrhundert gar keine Schicht von Berufsbeamten mit Universitätsausbildung gegeben hatte. Seit Peter I. wurden Gardeoffiziere zur Erfüllung von Aufgaben im zivilen Bereich abkommandiert, für die es etwa gleichzeitig in Preußen schon Berufsbeamte gab, die in Halle, Königsberg oder Duisburg die Rechte studiert hatten, obwohl man die "Streusandbüchse Europas" (Friedrich II.) immer als das klassische Land des Militärs ansah - das war in Wirklichkeit das zarische Russland.


    Ich musste beim Lesen an die Gerichtsszenen in Bernhard Schlinks "Der Vorleser" denken, der ja auch verfilmt worden ist (wie die Filme auch das Bildlichmachen der Romanszenen durchaus beeinflussen können). Obwohl der Fall hier völlig anders gelagert ist und die Angeklagte eine wirkliche Täterin war, ist so ein Gerichtssaal dennoch auch Schauplatz von Tricks der Juristen, die Folgen zuungunsten der Angeklagten haben. Und die Angeklagte ist Analphabetin in einem entwickelten Industrieland!


    Bei uns in der DDR waren der Staat und die Justiz das "Machtinstrument der herrschenden Klasse", man hat nach 1990 nachlesen können, wie sehr durch Druck der Partei das Recht gebeugt wurde, so dass so manche Szene im autokratischen Russland nahezu modern anmutet. Auf der anderen Seite kam der 17 Millionen-Staat mit etwa 400 Rechtsanwälten aus. Heutzutage fallen Scharen von Rechtsanwälten (sollte es hier welche geben, einmal weghören) über arglose Bürger her und plündern sie mit ihren Abmahnbescheiden und ihren Spitzfindigkeiten aus. Dieses System kann ja auch nicht das Gelbe vom Ei sein. Kaum ist jetzt die EU-Verordnung über die Datenverfügung in Kraft, spitzen schon tausende hungriger Anwälte ihre Federn, um über Firmen herzuziehen, die wissentlich oder unwissentlich gegen irgendeinen Paragraphen verstoßen oder eine falsche Formulierung verwendet haben.

    Bedenklich ist, dass das Privateigentum oft viel wichtiger war und ist, als Gesundheit und Unversehrtheit von Menschen, das konnten wir seit der "Wende" inzwischen auch studieren.


    Bei Katjuscha, der Hauptangeklagten, ging es immerhin um den Vorwurf eines versuchten Mordes mit Todesausgang, der den Beteiligten einiges abverlangte, und bei aller Schilderung eigennütziger Interessen der Richter, Ankläger und Geschworenen erstaunt immerhin doch auch, dass hier um 1890 eine Gründlichkeit bei der Beweisaufnahme an den Tag gelegt wurde, die es unter Umständen in unseren Tagen nicht mehr gibt, da etliche Gerichte hoffnungslos überlastet sind.

    Volker, ich schaffe es wahrscheinlich wieder nicht, es kurz zu machen:;) Die Krähe plustert sich auf: "Ich bin Gott!" Nach den herkömmlichen Gottesvorstellungen, die es bis zum 21. Jahrhundert gab, hätte das für Erregung gesorgt, denn man stellte sich zumeist Gott wirklich als eine Person, als strengen Übervater in Menschengestalt vor, wie er auf zahlreichen bildlichen Darstellungen zu sehen ist. Das wäre Gotteslästerung gewesen, wie kann man so etwas sagen!


    Wenn aber - und Spinoza, Hume, Kant bereiteten das im 17. und 18. Jh. schon vor - von der Gottesvorstellung nur noch bleibt, dass es eine große, nicht materielle ideelle Erscheinung ist, die sich in der Unendlichkeit auflöst, wie das der Buchautor Detel hier beschreibt, dann kann man auch Gott in Gestalt einer "Krähe" durchgehen lassen, die dann, wie schon JHNewman festgestellt hatte, nur ein Phantasieprodukt, eine Traumgestalt der Mina selbst ist, ihre eigenen eher unbewussten Gedanken und Gefühle treten ihr, auch unter dem Einfluss diverser Getränke, in dieser Gestalt gegenüber.


    Dass das Ganze für mich schon beim ersten Lesen ein ziemlicher Witz ist, kommt vielleicht daher, dass ich mich den lieben langen Tag lang mehrere Stunden im 18. Jahrhundert bewege, wo wirklich noch Gotteslästerung mit schweren Strafen bedacht werden konnte und es nur ganz wenige wirkliche "Atheisten" gegeben hat.

    In Polen wurde z. B. 1689 ein einziger Gottesleugner hingerichtet, das hatte für ungeheures Aufsehen gesorgt, das Land galt im übrigen eine lange Zeit als eines der tolerantesten in Europa, bevor sich der strenge Katholizismus endgültig durchgesetzt hatte. In Frankreich gab es im 18. Jahrhundert eigentlich anfangs nur den "Atheismus" des Landpfarrers Jean Meslier (1664-1729) in dessen Testament, der die drei Grundfesten Frankreichs anrührte: christlichen Glauben und katholische Kirche, die absolute Macht des Königs sowie das private Eigentum an Grund und Boden. Der geistvolle La Mettrie in Potsdam mit seinem "Menschen als Maschine" war dann eher ein Arzt und "Salon-Atheist", unter den Aristokraten gab es entsprechend viele Zyniker unter den Gottesleugnern (Musterbeispiel: Marquis de Sade), die dann annahmen, dass alle Scheußlichkeiten erlaubt seien, wenn es keinen Gott gäbe und somit den Atheismus bei manchen in den Verruf brachten, dass dieser so mit das Schlimmste ist, was es gibt..


    Die als "Atheisten" und "Freygeister" Geschmähten hatten in der Mehrzahl der Fälle nur einzelne Glaubenssätze der Kirche angezweifelt, wurden aber von dieser mit diesem Schimpfnamen belegt, wie zu jener Zeit "Spinozist, Deist, Antitrinitarier, später "Demagoge" (nach der Ermordung A. Kotzebues durch Sand 1819), "Kommunist" und heute geht es nicht unter "Nazi" ab, um jemanden schlimmstmöglich anzuprangern. Dabei habe ich oben, im März geschrieben, dass es gar nicht geht, heutigen Christen die Inquisition und die Kreuzzüge um die Ohren zu hauen (und "uns", im Gegenzug Stalin und Pol Pot), das wäre zutiefst unhistorisch und man belöffelt unnötig Leute, mit denen man unter Umständen viel besser ins Gespräch kommen kann, als mit Angehörigen des eigenen "Lagers", der "Filterblase"..


    Und nun wollte ich mich einmal vorsichtig an das herantasten, was Christen heutzutage wirklich glauben, von den einstigen Vorstellungen vom strafenden, allwissenden, liebenden Gott ist ja nicht mehr viel übrig geblieben. Und das meine ich wirklich ernst, denn ich möchte die Menschen verstehen, mit denen ich mich austausche. Wenn sich darüber niemand in der Öffentlichkeit äußern möchte, weil das seine eigene persönliche, intime Angelegenheit sei, über die niemand etwas zu erfahren braucht, so sei das natürlich akzeptiert, das ist ja wirklich schon individuelle Sache, im Protestantismus mit seiner Innerlichkeit sowieso ...,


    nur habe ich oben eben umständlich dargelegt, dass uns Nichtgläubigen auch heute noch die Kirchen ziemlich mit ihren ideellen (wir haben/sind die Moral! und leider noch oft: Ihr habt nicht unsere überlegene, durch Jesus Christus gepredigte Moral und denkt nur an das Materielle im Leben) und finanziellen Zumutungen bedrängen können, dass man von etlichen Gläubigen, mit guter Absicht freilich, hören kann, dass einem ohne Glaube etwas fehle, dass wir beide, wie schon gesagt, in den USA, wo man so fromm ist und auf Schulhöfen die Leute umschießt, einen im öffentlichen Dienst schweren Stand hätte. Ja in süddeutschen Zeitungen wird der laizistische Staat in Frankreich kritisiert, weil er angeblich die Rolle der Religion nicht ausreichend respektiere, und da geht es ja auch um die christliche Religion, weniger um den Islam - hier kann zumindest ein Bundeskanzler oder Minister darauf verzichten, "So wahr mir Gott helfe" in der Eidesformel zu verwenden, aber die DDR hat ja mit Merkel und Gauck zwei musterhafte Christen in die höchsten Staatsränge gebracht.


    Ich vermute einmal, dass das Christsein in den meisten Fällen die Absicht ist, dem Mitmenschen etwas Gutes anzutun, Nächstenhilfe zu leisten, ohne dass man sich zu sehr Gedanken darüber macht, ob Gott nun ein nichtmaterielles Überprinzip ist oder ob man religiös sein kann ohne jegliche Gottes-Vorstellung, wie das Wolfgang Detel demonstriert.



    Ist nun doch wieder ein längerer Aufsatz geworden. ?(


    Und nun noch etwas ganz Pöhses, Du Schlimmer: wie kannst Du so etwas nur sagen: Ich danke wirklich Gott, dass ich nicht mehr verpflichtet werde, jedes neue Werk von Margot Käsmann lesen zu müssen, wie einst die Werke Lenins 8)(Engels konnte man ja lesen, der war witzig! von Marx verstand man hingegen oft nur wenig, und wer sagt, dass er Kapital Band II gelesen und verstanden hätte, kriegt von mir roten Adlerorden aus Brandenburg, den hat Engels selbst nicht verstanden und der Autor kratzte sich am Bart!)

    Über Pfingsten war ich bei meinem allein in einem kleinen Ort lebenden 89jährigen Vater, der mir gegenüber bekannte, vor mehr als 70 Jahren, gleich nach dem Krieg, von dem Roman "Die Auferstehung" zutiefst beeindruckt gewesen zu sein, was bis heute noch nachwirke.


    Bei mir ist erst die Hälfte an Jahren seit der Erstlektüre vergangen, etwa 35 Jahre, und ich habe jetzt nicht mehr die alte Ausgabe aus DDR-Zeiten zur Hand genommen, sondern die neue Übersetzung von Barbara Conrad im Carl Hanser Verlag, München 2016, die eine präzise Einführung in die Entstehungsgeschichte des Werks sowie ausführliche Kommentare bietet.


    Inzwischen bin ich bei der erneuten Lektüre des Romans etwa so weit gekommen, wie Zefira, und bin ebenso wie Du froh, ihn wieder zur Hand genommen zu haben.

    Allerdings stellte sich ein neuer Eindruck ein, den ich damals nicht hatte: Tolstoj erklärt in den meisten Fällen explizit, warum seine Figuren so handeln, und deckt ihre wahren Motive auf, von denen die Umwelt nichts wissen kann. Der Jurist will möglichst bald mit einer Frau zusammenkommen, mit der er fremdgeht, und drängt deshalb auf die Beschleunigung des Prozesses. Ich erinnere mich an Balzac, der ebenfalls die ganzen schmutzigen, oft banalen oder sogar lächerlichen Hintergründe offenlegt. Aber Balzac schätzte das Gelächter, Tolstoj hingegen lässt einen heiligen Ernst, Ergriffenheit und Empörung erkennen.

    Das aber bedeutet, dass ich inzwischen viel Literatur konsumiert habe, die eher mit einer verdeckten Schreibweise verfasst wurde und in der Vieles, besonders auch hinsichtlich der Motive für das Handeln der Personen, nicht benannt wurde oder in der Schwebe blieb.


    Dafür stellten sich gleich zu Beginn viele kleine Beobachtungen ein, die ich erst jetzt zu schätzen glaube.


    1. die Passanten verhalten sich völlig unterschiedlich zu der vorbeigeführten Gefangenen: die einen sehen in ihr eine wohl zu Recht bestrafte Gesetzesbrecherin. Das heisst, um 1890 war offenbar das herrschende Rechtsempfinden auch bis in die einfache Bevölkerung durchgedrungen und verinnerlicht worden, Straßenjungen glauben zu wissen, dass jetzt eine "Übeltäterin" abgeführt wurde. Hingegen gibt ein anderer Mann mitleidig eine Kopeke und bekreuzigt sich innig. Das ist das auch aus anderen Romanen Tolstojs bekannte, mit der Religion aufs engste verbundene unendliche Mitleid der einfachen Menschen mit der gequälten Kreatur. Ich überlegte, wie heute darauf reagiert würde, wenn jemand aus dem örtlichen Knast durch die Kleinstadt geführt wird. Wahrscheinlich überwiegt die Meinung, dass er schon zu Recht eingesperrt worden ist, und eine Amtsperson, die auf dem Rücken der Uniform das Wort JUSTIZ mit weißer Schrift aufweist, würde vollsten Respekt genießen: hier herrscht nicht Willkür, sondern Achtung vor dem Gesetz.


    2. manche Mütter nähren bei Tolstoj ihre Kinder erst gar nicht und lassen sie umkommen, weil sie sowieso nicht in der Lage sind, sie aufzuziehen. Zu dieser Zeit höre ich gerade eine Radiosendung, in der es um eine Gesprächsrunde von Müttern geht, die ihre Kinder nicht so lieben können, wie sie es sich ursprünglich vorgestellt hatten. Das irritiert sie zutiefst, denn alle anderen Mütter scheinen überaus glücklich über die Geburt ihres Nachwuchses zu sein. Ob hier eine Depression nach der Geburt vorliegt, die auch hormonell begründet ist, oder was auch immer, ich bin da Laie - jedenfalls zeigen diese Beobachtungen aus einem Zeitraum von mehr als hundert Jahren, dass die Mutterliebe eben nicht zwangsläufig sozusagen angeboren sein muss, sondern es Umstände geben kann, unter denen Frauen ganz anders reagieren können, als es die "Natur" von ihnen angeblich verlangt. Selbst so etwas völlig natürlich Erscheinendes wie die Mutterliebe zu ihrem eigenen Kind, wird von gesellschaftlichen Umständen und den vorherrschenden Meinungen mitgeprägt. Ja und dass Mütter in einer völlig fremden Umgebung viele Kinder zur Welt bringen, von ihren Männern nahezu ununterbrochen geschwängert werden, obwohl sie nicht wissen, was aus ihnen werden würde, während sich das die einheimische Bevölkerung in der Regel sehr genau überlegt, ist eine Beobachtung der unmittelbaren Gegenwart, die ich nicht weiter auszumalen brauche und die auch nicht in eine bestimmte Ecke führen sollte ....


    3. Katjuscha sitzt bei den adeligen Damen und liest ihnen etwas vor. Das aber ist tatsächlich noch nicht typisch gewesen für die Alphabetisierung jener Zeit. Um 1797 betrug die Analphabetenrate in Russland etwa 97 Prozent, wie Boris Mironov berechnet hat. Ein Jahrhundert später liest eine Magd adeligen Damen etwas vor. Im 18. Jahrhundert gab es indes noch zahlreiche analphabetische Adelige und übrigens auch orthodoxe Geistliche: die hatten ihre Gebetsformeln auswendig gelernt, konnten aber weder die - zumeist noch nicht in der Breite vorhandene - Bibel, die ja für den russischen Gottesdienst gar nicht nötig ist, noch sonst irgendein Buch lesen.


    4. Fürst Nechljudow ist Gardeleutnant außer Dienst, das ist noch etwas anderes als ein Leutnant in der Landarmee. Zar Peter I. hatte in einer Zeit, als der Dienst in der Armee für alle Adligen lebenslänglich war, 1722 die sogenannte Rangtabelle nach schwedischem Vorbild eingeführt. Die Ränge in der Armee und in der Flotte wurden zu den Rängen im Staatsdienst und am Hofe in Beziehung gesetzt, und auch die Gelehrten der 1724 gegründeten Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg sollten noch ihren Platz in den unteren Rängen finden. 1762 wurde von Peter III. die lebenslängliche Dienstzeit der Adligen abgeschafft, und sie konnten sich nun aussuchen, ob sie weiterhin in der Armee dienen würden, was ihnen das höchste gesellschaftliche Ansehen verschaffte, oder im weniger angesehenen Staatsdienst tätig sein oder nur ihre Güter bewirtschaften würden. Einige nutzten ihre nun gewonnene freie Zeit und Muße, um als Schriftsteller (Fonvizin, Novikov, Karamzin) tätig zu sein oder lange ins Ausland zu reisen, wie das Dostoevskij und Turgenev taten. Ein Gardeleutnant wurde aber höher eingestuft als ein Offizier in den einfachen Regimentern, und deshalb wird Nechljudow selbst von anderen älteren Militärs achtungsvoller behandelt als andere. Bei Dostoevskij ist Ivan in den "Brüdern Karamazov" ein "Leutnant außer Diensten", und Karamzin war immerhin Leutnant im angesehensten, dem Preobrazhenskij-Garderegiment, im Torbuch Berlins wurde er 1789 als "Leutnant" eingetragen, obwohl er schon längst nicht mehr aktiv diente, sondern bald zum berühmtesten Schriftsteller Russlands vor Puschkin werden sollte.

    Wenn mir gestattet sei, noch einmal auf das Thema der Religion zurückzukommen, das am Anfang, am 20. März, angesprochen wurde.

    Hier gibt es jene Leser, die mit Religion und Glaubensgemeinschaften aufgewachsen sind, und andere, die wie ich sozusagen "von außen" auf diese ganze Welt von Kirche und Religion blicken.

    Unter den Nichtreligiösen gibt es schon einmal solche, die sich nicht mit dem Glauben beschäftigen und nur in Ruhe gelassen werden wollen. Die einen bemerken, dass bestimmte Politiker übergriffig werden und in ihre säkulare Lebensumwelt hineinreden wollen (M. Söders Kreuze), dass sie ohne ihren Willen dennoch an manchen Stellen Abgaben für kirchliche Angelegenheiten leisten, obwohl sie keine Kirchensteuern entrichten, dass sie ihre Kinder religiöser Indoktrination in Erziehungseinrichtungen dann ausgesetzt sehen, wenn es nicht um die Vermittlung von Wissen über die Religionen "von außen" geht (man ist schon bescheiden geworden und will gar nicht umfassend über alle Religionen informiert werden, das schafft kein Lehrer), sondern um Rituale, wie Gebete und Lieder.

    wobei sich viele Gläubige vermutlich gar keine Gedanken darüber machen, dass das Zumutungen für Religionsfreie darstellen können, die zum Teil aus Gegenden mit mehr als 70 Prozent Konfessionsfreien kommen, und die Gedankenlosen nicht nur sagen sollten: "Nun habt Euch mal nicht so, an solchen Handlungen und Symbolen hat noch keiner Schaden genommen."

    Wobei die Nichtgläubigen nichts eint, außer ihrem fehlenden Glauben, so dass sich dieses Drittel unserer Bevölkerung nicht organisieren wird, es gibt unter ihnen Sozialisten, Nazis, gänzlich Unpolitische und sogar AfD-Anhänger, habe ich mir sagen lassen, und über einheitliche Moralvorstellungen lässt sich schon einmal überhaupt nicht spekulieren, die gibt es schlicht nicht.


    Aber das will ich jetzt einmal gar nicht weiter vertiefen, sondern will auf Folgendes hinaus: In meiner Jugendzeit gingen die zwei oder drei Kinder in ihre Christenlehre, mit der die übrigen nichts zu tun hatten. Sehr früh hatte ich, auch durch Anregungen aus dem Elternhaus begriffen, dass ich die Werke der älteren Literatur (in Erfurt z.B. der Humanisten des 16. Jh. und Luthers), die Musik der heimatlichen Familie der "Bache" (der Vorfahren Johann Sebastians), die Werke der bildenden Kunst in den Sammlungen von Weimar (Cranach!) oder Altenburg (Lindenau-Museum - italienische Frührenaissance) nur verstehen und genießen kann, wenn ich mich über das Christentum ebenso sachkundig mache, wie über die antike Götter-, Titanen- und Gigantenwelt Homers. Das wurde dadurch begünstigt, dass meine "erste große Flamme" in einem christlichen Elternhaus aufwuchs und wir gemeinsam die christlich geprägte klassische Literatur, bildende Kunst und Musik zu erkunden begannen. Wenn sie dann sagte "Da muss es doch etwas geben, das über den irdischen Dingen steht", konnte ich mich damit anfreunden und sagen: "Sicher, aber dann werden wir es vermutlich auch nicht mehr ergründen. Dann muss man eben glauben, und gut ist es."


    Mit dem "christlichen Abendland" der CSU & Co. hat das aber nichts zu tun, denn dann würde alles östlich und südöstlich von Polen Gelegene nicht mehr dazu gehören, diese Arroganz schließt Russland und die nichtlateinische Welt Osteuropas aus Europa aus und rückt Russland in Richtung Asien ("Despotie! Barbarei! Keine Demokratie!").

    Uff, lange Vorrede.

    Und jetzt erst komme ich wieder zu Monika Marons Roman und ihrer Krähe, die sich als Gott ausgibt. Während also Christa Wolf und Brigitte Reimann für Leser schrieben, die nichts mit dem Christentum zu tun hatten (was auch aus ihren zahlreichen Briefen hervorging), wagte sich jetzt Monika Maron an das Religionsthema. Und hier kann man die Beobachtung machen, dass sich manche über ihr Christsein gar nicht viele Gedanken machen, dass aber die Glaubensvorstelllungen außerordentlich verschieden voneinander sind. Auf der einen Seite also die Zumutung auch an die Nichtgläubigen, auf die Glaubensvorstellungen der Christen Rücksicht zu nehmen, auf der anderen Seite weitgehende Unkenntnis, woran denn heutzutage geglaubt wird. Für das 16. bis ins 20. Jahrhundert hinein ist mir das schon im wesentlichen klar.

    Und dumme Provokationen, wie Verunglimpfungen gläubiger Menschen und ihrer Symbole sind auch zu verurteilen, wenngleich die Grenze der Zumutungen für Gläubige nicht immer klar bestimmt werden können und wir nicht immer wissen, wann wir gerade einen gekränkt haben (bei mir bestimmt unwissentlich oder aber es versucht jemand zu "missionieren", dann muss er auch abkönnen, wenn ich dazu etwas Kritisches sage).Frosch am Kreuz geht aber gar nicht, und man kann die "Entführung aus dem Serail" auch ohne abgehauene Türkenköpfe inszenieren, ist auch besser so für Ungläubige.

    Und da fiel mir ein Buch in die Hände, mit dem die grauschwarze Krähe gefasst werden kann:

    Wolfgang Detel: Warum wir nichts über Gott wissen können. Felix Meiner Verlag. Hamburg 2018.

    Wenn gesagt wird, dass wir nichts über Gott wissen, ist das noch kein Atheismus, sondern Agnostizismus. Die heutigen monotheistischen Religionen dürften ihren Gott als "maximal große immaterielle Person, also als unendlichen Geist" auffassen. Wir können jedoch diesen Gott nicht einmal denken, wie man auch nicht die Verneinung denken kann, man hat immer die positive Vorstellung: ich kann mir nicht kein Krokodil mit einem Zylinder auf dem Kopf im Teich des Botanischen Garten vorstellen, sondern ich habe immer nur dieses wahnsinnige grünlich-bräunliche Vieh vor Augen.:huh:


    Gott könne auch, so Detel, kein Denker sein. Wenn er absolut perfekt sei, muss er unendlich sein, als endliche Wesen können wir endliche Menschen aber die Unendlichkeit nicht denken.

    Kommt ein Vogel und pickt ein Sandkorn auf, trägt die Sandkörner zu einem Berg zusammen, der wird immer größer, größer als der Mont Everest, da hat aber die Unendlichkeit gerade erst begonnen! (das Ding ist jetzt nicht von Detel:|)


    Wenn Gott maximal groß und perfekt ist, dann muss er auch optimale Denkfähigkeit haben, aber die können wir auch nicht erfassen. Der Autor reflektiert über eine Religiosität ohne einen Gott.

    Hmmm, das ist eigentlich nicht unser Problem, wenn solch eine Gottesvorstellung für unsere Lebensführung als Nichtreligiöse nicht wichtig ist. Monika Maron lässt die Krähe nach dem Motto Voltaires auftreten: "Zuschlagen, und die Hand schnell zurückziehen". Wenn also jemand eine Religiosität ohne einen Gott als maximal große immaterielle Person hat, wie sie Detel zu umreißen versucht, dann braucht ihn diese Passage auch nicht weiter zu verstören, und er kann über die Krähe schmunzeln.

    Das kann man alles machen und sollte man es auch, wenn man wie der Politikwissenschaftler Herfried Münkler Gemeinsamkeiten zwischen dem Dreißigjährigen Krieg und dem heutigen Geschehen im Nahen und Mittleren Osten und der Rolle der Religionen zeigen will.

    In seinem dicken Buch über den Dreißigjährigen Krieg von 2017 ist er sowohl der Rolle der nichtstaatlichen, von Kriegsherren geführten „asymmetrischen“ Kriege als auch der der staatlichen, von den Feldherren der europäischen Dynastien geführten Kriege nachgegangen, Wallenstein etwa wurde vom privaten 'Warlord' zu solch einem staatstragenden Kriegsherren, der dann 1634 mit seiner Mission haderte. Und Herfried Münkler hat in seinem Buch untersucht, wie zeitweilige Friedensbestrebungen seit den 1620er Jahren zum Mißerfolg verurteilt waren, weil aus der Sicht der beteiligten Seiten noch kein entscheidender Machtgewinn erzielt worden war.


    Jedoch besteht meines Erachtens immer auch die Gefahr bei derartigen Aktualisierungen über 400 Jahre hinweg, dass bestimmte wesentliche Unterschiede nicht aufgedeckt werden. Nicht nur, dass es im 17. Jahrhundert nicht so eine einzigartige Macht wie das heutige Israel (mit allen damit verbundenen, bis zur NS-Zeit und der Shoa verbundenen Implikationen) gegeben hat und geographisch weit entfernte Staaten, wie die USA und Russland, in das Geschehen eingegriffen hätten, mit Saudi-Arabien und dem Iran zwei Regionalmächte um die Vorherrschaft streiten würden, wobei der Ausgang dieses gerade erst beginnenden Kampfes nicht im entferntesten abzusehen ist.


    Man weiß erst heute, die Nachgeborenen wissen es, dass der Konflikt letztlich dreißig Jahre dauern sollte und gleich darauf in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts noch weitere Kriege in Mitteleuropa stattfanden, die vor allem durch die expansive Politik Frankreichs ausgelöst wurden. Man denke an die Verheerungen Speyers, Heidelbergs und Mannheims durch die Franzosen im Pfälzischen Erbfolgekrieg 1689.


    Mir scheint, dass in diesem lange Kriegsverlauf eine deutliche Verlagerung des Schwerpunkts stattgefunden hat, die allein die Nachwelt aus der historischen Distanz heraus erkennen kann. Dabei stellt die Eroberung und Verwüstung Magdeburgs 1631, auf die Monika Maron in einem eigenen Abschnitt ihres Romans eingeht, tatsächlich einen grausigen Höhe- und Wendepunkt dar - der auch nicht wieder erreicht wurde! Erst die Zerstörung Lissabons durch ein Erdbeben 1755, die also nicht von Menschen gemacht wurde, stellte wieder die europäischen Geister (Kant, Voltaire, Rousseau) vor solch eine schreckliche Herausforderung, die "Güte Gottes" als eines seiner Attribute anzuzweifeln.



    Aber worauf ich hinaus will: der Krieg begann mit Ereignissen in Böhmen 1618, im Herzen Europas, und war mit dem Kampf der böhmischen Stände gegen die habsburgischen, von Wien ausgehenden Zentralisierungsbestrebungen verbunden, die durch den Widerstand der protestantischen Stände eine besondere Brisanz erhielten.


    Dann aber war das Geschehen des „Dreißigjährigen“ Krieges für eine lange Zeit vor allem mit dem Kampf um die Vorherrschaft im Ostseeraum verbunden, den man möglicherweise bis zur Schlacht im brandenburgischen Wittstock 1636 verfolgen kann, wo in den letzten Jahren so viele menschliche Überreste des Kampfgeschehens gefunden und in einem Museum ausgestellt wurden.

    Mit dem Tod seines letzten Helden, des Herzogs Bernhard von Weimar, verlor Friedrich Schiller sichtlich die Lust an der Darstellung dieser Kette von einzelnen Gemetzeln, es gab keine "Helden" als Führerpersönlichkeiten mehr. Mit dem Kriegseintritt Frankreichs verlagerte sich das Geschehen nach Süddeutschland und verwob sich mit den französisch-spanischen Auseinandersetzungen auf dem Kontinent.


    Was will ich damit sagen: das Geschehen war nicht nur auf wechselnde Schauplätze des Heiligen Römischen Reiches verteilt. Die historische Überlieferung konnte, auf ganz „Deutschland“ bezogen, das es als solches noch nicht gab, kein geschlossenes Bild der Erinnerung erzeugen. Die Schauplätze waren dazu, von der Ostsee bis nach Bayern, doch zu weit voneinander entfernt, und es gab im 17. Jahrhundert keine „nationale“ Gesamtschau.


    Herfried Münkler ist meines Erachtens seinem politikwissenschaftlichen Bestreben nach Generalisierung erlegen, das zwar derartige Vergleiche zur Gegenwart nahelegen will, der Zersplitterung und Verworrenheit der historischen Ereignisse vor 1648 jedoch nur teilweise gerecht wird. Richtig ist sicher sein Verweis auf die damalige und heutige Instrumentalisierung von Religionen. Doch stellen m. E. die Konfessionen des 17. Jahrhunderts und die heutigen, einander erbittert bekämpfenden Strömungen im Islam sowie dessen durch Koranstellen sanktionierte Ausgrenzung der Andersgläubigen der sich modern wähnenden Welt, der Behandlung von Frauen, Homosexuellen und anderer als andersartig Empfundenen doch etwas sehr Verschiedenes dar.