Monatelang stand der erste Band der neuen Brockes-Ausgabe nicht an seinem Platz, und es war kein "Stellvertreter" ins Regal der Bibliothek gelegt.
Jetzt sah ich ihn endlich und konnte ihn ausleihen.
Ich muss sagen, dass die Ausgabe in mehr als einer Hinsicht bei mir Ratlosigkeit hinterlässt. Ich habe leider keine Zeit, um den genaueren Umständen der Entstehungsgeschichte des Werks nachzugehen.
Die 1742 erstmals veröffentlichte Ausgabe des "Verdeutschten Bethlehemitischen Kindermords" folgt als größerer Text auf die "Selbstbiographie" von Barthold Heinrich Brockes. Der Hamburger Ratsmann hatte für seine Übersetzung und Nachdichtung des "Kinder-Mords" von Giovanni Battista Marino (1569-1625) - darum handelt es sich bei diesem Werk! - eine sehr seltene italienische Ausgabe zur Grundlage gewählt.
Am Anfang steht ein (heute kaum noch genießbares) "Mordsmäßiges"-Widmungsgedicht von 60 Strophen (S. 46-57), das an Kaiser Karl VI. gerichtet ist, der indes schon zwei Jahre zuvor, 1740, verstorben war. Man könnte daraus entnehmen, dass sich Brockes nach der österreichischen Niederlage gegen den preußischen König Friedrich II. bei Mollwitz 1741 jetzt zum Reichspatriotismus bekennt; Österreich begann sich unter der jungen Königin von Ungarn, Maria Theresia, wieder zu erholen.
Tatsächlich wird Kaiser Karl gepriesen (im übrigen ein ziemlich dröger, blasser Herr, der den Prinzen Eugen als Hauptratgeber weitgehend gewähren ließ): "Er kämpft fürs Vaterland, und Seiner Völker Heil." (S. 51). Karl gleiche Salomon (S. 53). Damit sind wir bei der Bibel.
Nun hatten die Habsburger bereits 1708 die Stadt Hamburg in Reichsacht getan, weil dort demokratische Strömungen in der Bürgerschaft die Oberhand gewannen. Brockes reiste in diplomatischer Mission im Interesse seiner Vaterstadt bis nach Italien, wie aus der Selbstbiographie hervorgeht.
Die Herausgeber verweisen jedoch auch darauf, dass die zwischen 1715 und 1742 entstandenen Drucke des Werkes auch noch anders aussahen als die hier wiedergegebene Fassung, ein anderer war nun Gastone de Medici (1673-1737), Herzog von Florenz, gewidmet. Brockes passte seine Widmungen offensichtlich dem Bedarf an.
Ein prachtvoller Kupferstich von Piccart (1673-1733) ist der neuen Ausgabe beigegeben, der das ganze Getümmel um den Kindermord wiedergibt.
Das alles muss man sich hier aus den Angaben zur Kommentierung zusammenreimen.
Für mich sieht das jetzt so aus. Brockes lässt sich von der bunten Schilderung des Mordgeschehens durch den barocken italienischen Dichter Marino völlig in den Bann schlagen.
Damit könnte für ihn die Form im Vordergrund gestanden haben. Durch die Widmungen an Karl VI. oder Medici wurde das Werk allerdings zu einem offiziellen Dokument, mit dem Brockes unter seinem eigenen vollen Namen an die Öffentlichkeit trat, die im Heiligen Römischen Reich durch den beginnenden Österreichischen Erbfolgekrieg gespalten war - in Bayern regte sich 1742 der Wittelsbacher Karl VII. als Gegenkaiser und Rivale Maria Theresias.
Sein dichterisches Schaffen ist nicht von Beschaulichkeit und Enge gekennzeichnet, wie die heiteren Naturgedichte nahelegen könnten. Brockes greift einen biblischen Stoff aus der Geschichte kurz vor Beginn des 1. Jahrtausends auf, wobei schon bei Marino Figuren auftauchen, die nicht der Bibel entnommen sind, sondern durch neuhumanistische Gelehrsamkeit ans Tageslicht befördert wurden.
Freund Reimarus dürfte den bethlehemitischen Kindermord in seiner Monströsität getrost ins Reich der Legenden befördert haben, zumindest für sich und seine engsten Freunde. Jetzt gibt es zwei Möglichkeiten: entweder hält Brockes tatsächlich noch das ganze Zeug für eine historische Überlieferung, und Freund Reimarus läuft mit seiner Bibelkritik erst einige Jahre später zu Hochform auf.
Oder Brockes hat seine Freude an einer rhetorischen Fingerübung anhand eines Sujets, das zwar auch gleichnishaft gedeutet werden kann. Und er nimmt das noch wörtlich, wie die meisten Lutheraner seiner Zeit. Allerdings widmet er es dann als Hamburger Lutheraner, der für die Freie und Hansestadt eintritt, katholischen Monarchen in Wien und Italien. Heute dürfte es wohl kaum noch jemanden geben, der die Überlieferung vom bethlehemitischen Kindermord für historisch hält, ausgenommen vielleicht Evangelikale in den USA.
Die Kommentare des Literaturwissenschaftlers Jürgen Rathje und seiner Mitstreiter, so verdienstvoll sie im einzelnen sind, lassen die Entstehungszusammenhänge des Werks im Dunkeln, und sie gehen nur als Philologen auf verschiedene Textfassungen ein. Eine historische Verortung hätte der Ausgabe gut getan.