Lesewünsche zweier Ex-DDR-Leser/-innen
Es kann sein, dass das Folgende verschroben und merkwürdig, vor allem recht langatmig daherkommt. Aber ich will dennoch einen Versuch starten. Ich denke dabei allerdings nicht nur an mich, sondern auch an eine Bekannte, eine sehr gute Freundin, für die das meiste über mich Gesagte auch zutrifft.
Ich greife heute nur zu einem neuen, mir unbekannten Titel, wenn das Bedürfnis nach dem Inhalt und/oder der besonderen Schreibweise gross ist. „Experimenten“ eher abhold, will ich nicht ein neues Buch nach wenigen Seiten wieder desinteressiert zur Seite legen.
Die Lektüre klassischer Literatur (sagen wir, bis Ausgang des 19. Jahrhunderts, bis zum späten Fontane) gehört – zum Glück – teilweise berufsbedingt zu meinem Alltag, bin damit auch goldrichtig hier im Klassikerforum. Aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts las ich Heinrich Mann und Romain Rolland.
An Gegenwartsliteratur hatte ich bis 1989 allerdings vorwiegend nur ausgewählte Werke der DDR-Literatur (Christa Wolf, Günter de Bruyn) und der Sowjetliteratur (Aleksej Tolstoj, Aleksandr Bek, Granin, Simonov) gelesen. Einiges davon auch, weil es damals Lebenshilfe in düsteren Zeiten war, für die es heute eine umfangreiche, mehr oder weniger gehaltvolle Ratgeberliteratur gibt. Strittmatter gehörte nicht dazu, weil ich mich nicht auf seine ausgebreiteten Kleinstadtmilieus einlassen wollte, und der von der Politik empfohlene Hermann Kant ödete mich mit seinen manirierten Witzeleien nur an (der Mann musste doch wissen, wie ernst es am Schluss im Land aussah!).
Im Literaturunterricht wurden die Schüler damit genervt, „fortschrittliche“ Literatur aus dem Westen in erster Linie als „Kritik der gesellschaftlichen Verhältnisse“ aufzufassen. Das meiste von diesen Büchern war nicht zugänglich, vieles wurde aus urheberrechtlichen Gründen nicht verlegt.
Ja, man musste Böll und Grass gelesen haben - alles sehr schlimm, wovon sie berichteten, aber es berührte mich emotional nicht sonderlich, und Lenz war, tut mir leid, einfach zu langatmig; Kaschuben und Masurische Seen und andere Merkwürdigkeiten im ehemaligen deutschen Osten gab es, sicher, ich stamme ja selbst von Sorben ab, aber ...
Ich flüchtete mich in die Welt des „Wilhelm Meister“ Goethes und in die „Nachsommer“-Welt Stifters, zwar illusionär – aber grandios! Ich wollte gar nicht von Arno Schmidt hören, dass der „sanfte Unmensch“ die Revolution von 1848 nicht einbezieht und auf die Tagelöhner herabsieht, dass diese ganze schöne Scheinwelt in den Bergen (wir bekamen die Alpen nicht zu sehen) sich in Luft auflöst, und Stifter im übrigen überaus antiquiert daherstelzt und gar nicht fehlerfrei schreiben kann.
Nach 1989/90 spürte ich den Nachholebedarf, las allerdings nun in erster Linie gesellschaftspolitische und wissenschaftliche Literatur, deren Lektüre mir zuvor versagt war (Nietzsche, Freud, Fromm und die vielen anderen der zuvor "Verpönten" und Verbotenen).
Was mir jetzt an Gegenwartsliteratur empfohlen wurde, zog mich indes kaum an. Wenn ich die Bücher in die Hand nahm, dann erschien mir die geschilderte Gesellschaft ziemlich fremd, völlig fremd die der USA. Was berührten mich innerlich die Selbstbespiegelungen, elitäres Gehabe in gehobenen Gesellschaftsschichten, die Welt der Schönen und Reichen, Midlife-Krisen, Ehekräche, Seitensprünge, die direkte Darstellung des Sexuellen (nur mal ein Beispiel: J. Updike).
Vielleicht war ich schon zu alt und zu sehr geprägt durch das 18./19. Jh. und - ich geb's ja zu - die DDR/Sowjetunion-Prüderie und Verbannung des Geschlechtlichen, vielleicht wollte ich jetzt nicht auch noch in meiner Freizeit Gräben und Abgründe in Gesellschaft und Familie aufgerissen sehen, die sich tagsüber schon in der Nachwende-Realität zum Genüge auftaten. Es gab keine literarische „Ankunft im Alltag“ (Brigitte Reimann, 1933-1973) der Bundesrepublik oder gar Amerikas.
Wer sich bis jetzt durch diesen Text durchgequält hat, soll nun meine Fragen vernehmen:
- Gibt es Literatur zu empfehlen, deren Autorinnen/Verfasser trotz der Erkenntnis schreiender Widersprüche in der Gesellschaft bei der Betrachtung von Menschen und der Natur dennoch zu einer gewissen Versöhnlichkeit gelangt sind und Trost spenden können? Die das Werden und Vergehen in der Natur und die natürlichen Abläufe im Leben der Menschen mit einer gewissen Milde betrachten? Dabei brauchten solche Autoren gar nicht „altersweise“ zu sein, es könnte sie schon in jungen Jahren geben.
- Da ich annehme – vielleicht zu Unrecht – dass solche Werke vor allem von tief religiösen Menschen verfasst würden – gibt es sie dennoch auch von nichtreligiösen Autoren? Die die Endlichkeit des eigenen Daseins akzeptiert haben und ohne eine Gottheit auskommen (wir waren von Kindheit an in einem nichtreligiösen Milieu aufgewachsen)?
- Schließlich, da ich eingangs von einer Freundin ausging: ich könnte mir vorstellen, dass derartige Bücher vor allem auch von Frauen verfasst worden sein könnten.
Man könnte sagen: „Hoffnungslos veralteter Geschmack“. Aber sei es drum.
- Solche Bücher werden mit Sicherheit nicht unter den Bestsellern der großen Kaufhaus-Ketten zu finden sein, die jetzt mit Weihnachtssachen und zahllosen Taschenbüchern mit Geschichten, Krimis, Fantasy und was es nicht alles gibt, überfüllt sind, sondern eher bescheiden in einem entlegenen Regal schlummern.
Um Groschenhefte, Heimatschnulzen und "Heile-Welt-Schmarren" geht es dem konservativen Leser einer "aussterbenden Gattung" hier freilich nicht, die kann man am Kiosk haben, ... :zwinker:
aber etliche Leser hier werden sicher verstehen, was ich meine. Vielen Dank!