Fragen eines konservativen Lesers einer "aussterbenden Gattung"

  • Lesewünsche zweier Ex-DDR-Leser/-innen


    Es kann sein, dass das Folgende verschroben und merkwürdig, vor allem recht langatmig daherkommt. Aber ich will dennoch einen Versuch starten. Ich denke dabei allerdings nicht nur an mich, sondern auch an eine Bekannte, eine sehr gute Freundin, für die das meiste über mich Gesagte auch zutrifft.



    Ich greife heute nur zu einem neuen, mir unbekannten Titel, wenn das Bedürfnis nach dem Inhalt und/oder der besonderen Schreibweise gross ist. „Experimenten“ eher abhold, will ich nicht ein neues Buch nach wenigen Seiten wieder desinteressiert zur Seite legen.


    Die Lektüre klassischer Literatur (sagen wir, bis Ausgang des 19. Jahrhunderts, bis zum späten Fontane) gehört – zum Glück – teilweise berufsbedingt zu meinem Alltag, bin damit auch goldrichtig hier im Klassikerforum. Aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts las ich Heinrich Mann und Romain Rolland.


    An Gegenwartsliteratur hatte ich bis 1989 allerdings vorwiegend nur ausgewählte Werke der DDR-Literatur (Christa Wolf, Günter de Bruyn) und der Sowjetliteratur (Aleksej Tolstoj, Aleksandr Bek, Granin, Simonov) gelesen. Einiges davon auch, weil es damals Lebenshilfe in düsteren Zeiten war, für die es heute eine umfangreiche, mehr oder weniger gehaltvolle Ratgeberliteratur gibt. Strittmatter gehörte nicht dazu, weil ich mich nicht auf seine ausgebreiteten Kleinstadtmilieus einlassen wollte, und der von der Politik empfohlene Hermann Kant ödete mich mit seinen manirierten Witzeleien nur an (der Mann musste doch wissen, wie ernst es am Schluss im Land aussah!).


    Im Literaturunterricht wurden die Schüler damit genervt, „fortschrittliche“ Literatur aus dem Westen in erster Linie als „Kritik der gesellschaftlichen Verhältnisse“ aufzufassen. Das meiste von diesen Büchern war nicht zugänglich, vieles wurde aus urheberrechtlichen Gründen nicht verlegt.
    Ja, man musste Böll und Grass gelesen haben - alles sehr schlimm, wovon sie berichteten, aber es berührte mich emotional nicht sonderlich, und Lenz war, tut mir leid, einfach zu langatmig; Kaschuben und Masurische Seen und andere Merkwürdigkeiten im ehemaligen deutschen Osten gab es, sicher, ich stamme ja selbst von Sorben ab, aber ...


    Ich flüchtete mich in die Welt des „Wilhelm Meister“ Goethes und in die „Nachsommer“-Welt Stifters, zwar illusionär – aber grandios! Ich wollte gar nicht von Arno Schmidt hören, dass der „sanfte Unmensch“ die Revolution von 1848 nicht einbezieht und auf die Tagelöhner herabsieht, dass diese ganze schöne Scheinwelt in den Bergen (wir bekamen die Alpen nicht zu sehen) sich in Luft auflöst, und Stifter im übrigen überaus antiquiert daherstelzt und gar nicht fehlerfrei schreiben kann.


    Nach 1989/90 spürte ich den Nachholebedarf, las allerdings nun in erster Linie gesellschaftspolitische und wissenschaftliche Literatur, deren Lektüre mir zuvor versagt war (Nietzsche, Freud, Fromm und die vielen anderen der zuvor "Verpönten" und Verbotenen).


    Was mir jetzt an Gegenwartsliteratur empfohlen wurde, zog mich indes kaum an. Wenn ich die Bücher in die Hand nahm, dann erschien mir die geschilderte Gesellschaft ziemlich fremd, völlig fremd die der USA. Was berührten mich innerlich die Selbstbespiegelungen, elitäres Gehabe in gehobenen Gesellschaftsschichten, die Welt der Schönen und Reichen, Midlife-Krisen, Ehekräche, Seitensprünge, die direkte Darstellung des Sexuellen (nur mal ein Beispiel: J. Updike).


    Vielleicht war ich schon zu alt und zu sehr geprägt durch das 18./19. Jh. und - ich geb's ja zu - die DDR/Sowjetunion-Prüderie und Verbannung des Geschlechtlichen, vielleicht wollte ich jetzt nicht auch noch in meiner Freizeit Gräben und Abgründe in Gesellschaft und Familie aufgerissen sehen, die sich tagsüber schon in der Nachwende-Realität zum Genüge auftaten. Es gab keine literarische „Ankunft im Alltag“ (Brigitte Reimann, 1933-1973) der Bundesrepublik oder gar Amerikas.


    Wer sich bis jetzt durch diesen Text durchgequält hat, soll nun meine Fragen vernehmen:


    - Gibt es Literatur zu empfehlen, deren Autorinnen/Verfasser trotz der Erkenntnis schreiender Widersprüche in der Gesellschaft bei der Betrachtung von Menschen und der Natur dennoch zu einer gewissen Versöhnlichkeit gelangt sind und Trost spenden können? Die das Werden und Vergehen in der Natur und die natürlichen Abläufe im Leben der Menschen mit einer gewissen Milde betrachten? Dabei brauchten solche Autoren gar nicht „altersweise“ zu sein, es könnte sie schon in jungen Jahren geben.


    - Da ich annehme – vielleicht zu Unrecht – dass solche Werke vor allem von tief religiösen Menschen verfasst würden – gibt es sie dennoch auch von nichtreligiösen Autoren? Die die Endlichkeit des eigenen Daseins akzeptiert haben und ohne eine Gottheit auskommen (wir waren von Kindheit an in einem nichtreligiösen Milieu aufgewachsen)?


    - Schließlich, da ich eingangs von einer Freundin ausging: ich könnte mir vorstellen, dass derartige Bücher vor allem auch von Frauen verfasst worden sein könnten.


    Man könnte sagen: „Hoffnungslos veralteter Geschmack“. Aber sei es drum.


    - Solche Bücher werden mit Sicherheit nicht unter den Bestsellern der großen Kaufhaus-Ketten zu finden sein, die jetzt mit Weihnachtssachen und zahllosen Taschenbüchern mit Geschichten, Krimis, Fantasy und was es nicht alles gibt, überfüllt sind, sondern eher bescheiden in einem entlegenen Regal schlummern.


    Um Groschenhefte, Heimatschnulzen und "Heile-Welt-Schmarren" geht es dem konservativen Leser einer "aussterbenden Gattung" hier freilich nicht, die kann man am Kiosk haben, ... :zwinker:


    aber etliche Leser hier werden sicher verstehen, was ich meine. Vielen Dank!

  • Moin, Moin!


    Gibt es Literatur zu empfehlen, deren Autorinnen/Verfasser trotz der Erkenntnis schreiender Widersprüche in der Gesellschaft bei der Betrachtung von Menschen und der Natur dennoch zu einer gewissen Versöhnlichkeit gelangt sind und Trost spenden können? Die das Werden und Vergehen in der Natur und die natürlichen Abläufe im Leben der Menschen mit einer gewissen Milde betrachten?


    Ein hoch interessantes Posting von dir.
    Ich habe im Moment überhaupt keine Anwort darauf, markiere es mir aber zum Bedenken.
    Wir haben einige Parallelen, wenn ich auch wohl nicht so konsequent wie du die klassische Lektüre gepflogen gepflegt habe. Als in der DDR Sozialisierte haben wir einen gemeinsamen Fundus, weswegen ich von einem weiterem Disput deiner Frage sehr angetan bin.


    Ich mag ja die Autoren, die eine gewisse soziale Turbulenz darstellen, mag also Updike, Roth, Carver.
    Dennoch würde ich gerne wissen, was genau du meinst. Mir ist die Art von Literatur noch nicht klar geworden.
    Denn letztlich ist das Gros dejenigen, was ich lese, ein Wirbel, eine Unruhe, ein Unfriede, was ich mag und was, glaube ich, zu den genuinen Antrieben der Schriftstellerei gehört, so daß deine Suche auf etwas hinweist, daß, wenn überhaupt, nur in sehr entlegenen literarischen Regionen aufzufinden wäre.


  • Gibt es Literatur zu empfehlen, deren Autorinnen/Verfasser trotz der Erkenntnis schreiender Widersprüche in der Gesellschaft bei der Betrachtung von Menschen und der Natur dennoch zu einer gewissen Versöhnlichkeit gelangt sind und Trost spenden können? Die das Werden und Vergehen in der Natur und die natürlichen Abläufe im Leben der Menschen mit einer gewissen Milde betrachten? Dabei brauchten solche Autoren gar nicht „altersweise“ zu sein, es könnte sie schon in jungen Jahren geben.


    Außer dem „Wilhelm Meister“ und "Nachsommer", ziehe ich mich ja ab und an auf den "Zauberberg" zurück, auch "Das Glasperlenspiel" spendet mir Trost. Von der Gegenwartsliteratur hat dies bisher nur Herta Müller geschafft, obwohl sie im Grunde Trostlosigkeit aufdeckt, habe ich mich weich gebettet gefühlt. Ansonsten suche ich selber ...

    Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können. Nietzsche in "Also sprach Zarathustra"

  • Hallo Karamzin



    Ich verstehe jetzt nicht ganz: Suchst Du jetzt und gegenwärtig noch lebendige Autoren, deutschsprachige oder auch aus andern Ländern?



    Grüsse



    sandhofer

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus


  • Moin, Moin!


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    Dieses Buch wurde mir per Twitter empfohlen, als ich diesen Thread verlinkte. Ich selbst kenne Henscheid überhaupt nicht.


    Der Henscheid? Der Verbrecherfasser der "Trilogie des laufenden Schwachsinns"? An den hätte ich hier nicht unbedingt gedacht. "Maria Schnee" ist ja auch nicht wirklich eine "Idylle", wie der Untertitel behauptet, sondern nach Form und Inhalt eine heimtückische Parodie davon.

  • Hallo, Dostoevskij, Anita, sandhofer, @Gronauer,


    zuerst möchte ich Euch vielen Dank sagen, dass Ihr auf diese Fragen eingegangen seid und dabei gleich mehrere sehr bedenkenswerte Anregungen gebracht habt. Andersgeartete persönliche Vorlieben und Lesegewohnheiten kommen dabei naturgemäß ins Spiel. Wir versuchen, zuerst innerlich und dann auch im Austausch abzugleichen, was uns liegt und wovon man eher Abstand nimmt.


    Zunächst, Dostoevskij,
    (von der Schreibweise dieses Namens her nehme ich an, dass Dir die in der DDR mehr verbreitete sogenannte wissenschaftliche Transliteration für die Wiedergabe aus dem Russischen geläufig ist, während man im Westen häufig der Wiedergabe im Englischen oder der Zeitungs-Transkription folgte - Gorbatschow, Gontscharow usw.)
    den Wirbel, die Unruhe, den Unfrieden, die Dir liegen, suche ich bei der zumeist abendlichen Lektüre eher zu meiden. Nun könnte man sagen, dass sich der Tagesablauf auch eher einsiedlerisch gestaltet und kein großer Trubel aufkommt - das, ich nenne es mal so, "Harmoniebedürfnis" hinsichtlich literarischer Erzeugnisse ist dann vielleicht eher ein Produkt der bisherigen Entwicklung.



    An den - Anita - "Zauberberg" bin ich seit Jahrzehnten nicht mehr herangegangen (wohl aber mein Sohn), mir fällt jetzt eher die "Lotte in Weimar" ein. Da haben wir ja auch wieder heitere Klassik, freilich auch die Überschattung durch erzwungene Emigration und über die Kultur triumphierende Barbarei zu Manns Zeiten. Das "Glasperlenspiel" wiederum ist mir - bitte um Vergebung - etwas zu versponnen, während mich eher die Szene fasziniert hat, in der der "Steppenwolf" in so einer Altstadtkneipe in der Nähe der alten Stadtmauer sitzt, wo jeder ungestört in seiner Zeitung blättert - ich habe hier in der Kleinstadt gerade so eine Kneipe gefunden. Bei Herta Müller dürfte dadurch Beruhigung einziehen, als es für sie schlimmer als in ihrer Jugendzeit später kaum noch kommen konnte.


    (Unterschied Pessimist - Optimist:
    Der Pessimist: Alles ist schlimm, schlimmer kann es nicht mehr kommen. Optimist: "Doch!"


    Bei Eckhard Henscheid wäre mir sofort in den Sinn gekommen, dass er satirisch das "Dummdeutsch" aufs Korn genommen hat. Eine "Idylle"? Da muss ich sofort wieder an J. H. Voß und seine "Luise" denken; von Karamzin gibt es auch eine "ländliche Idylle". Ist es das, worauf ich eigentlich hinauswollte, eine Idylle?


    Vielleicht noch Folgendes, was hier in anderen Threads garantiert schon diskutiert worden ist: Kann in heutiger Zeit überhaupt noch ein Gesellschaftspanorama in einem großen Gegenwartsroman entworfen werden? Da sind zunächst die Leute, die tatsächlich viel selbst erlebt haben und viel herumgekommen sind. Die schreiben vorzugsweise ihre Erinnerungen auf. Ich habe gerade die Memoiren von Friedrich Schorlemmer gelesen. Mich zog vor allem die Schilderung des 4. November 1989 an, als ich gerade auf dem Alexanderplatz ankam und Stefan Heym vom "aufgemachten Fenster" sprach, auf Christa Wolfs Betrachtungen über den "Wendehals" Schorlemmers Ansprache folgte. Die Verfremdung, das Erfinden von Gestalten, liegt wahrlich nicht jedem. Auch in Tolstojs "Krieg und Frieden" tummeln sich historische Gestalten, wie Kutuzov, Speranskij, Napoleon und Davout, im Kontakt mit erfundenen Figuren.


    Christa Wolfs "Sommerstück" (1987) hatte damals mir und meinen Freunden überhaupt nicht zugesagt! Das ist nun wirklich eine Idylle; ihre Intellektuellen-Freunde ziehen sich mit dem Ehepaar Gerhard und Christa aufs Land zurück - wir aber müssen in den großen Städten mit der lastenden Ignoranz und der Ablehnung der "Perestrojka" durch die Führung, mit dem Fortzug tausender junger Menschen klarkommen! Was interessieren da raffinierte Kochkünste und Landtiere ... Das war vielleicht ungerecht und heimlicher Neid auf die Schriftstellerin, die sich so etwas dank der Honorare leisten konnte.


    In den letzten zwei Jahrzehnten ist mehrfach nach dem richtig tollen und überzeugenden DDR-Roman gefragt worden. Christa Wolf lieferte in ihrem letzten Buch 2010 vor fremdem Hintergrund (Los Angeles) eher eine Aneinanderreihung von grüblerischen Gedankenketten und Traumgesichten als einen Roman. Bei dem viel jüngeren Uwe Tellkamp ("Der Turm") fragte ich mich, ob wir in dem gleichen Land gelebt haben.


    Und jetzt noch etwas Anderes. 1997 fiel mir Gert Kaltenbrunners "Dionysios"-Buch in die Hände. Es ist ja nicht so, dass ich als Konfessionsloser nichts über Religion lesen würde, im Gegenteil! Ich habe sogar freiwillig J. H. Jung-Stillings 3400-Seiten-Roman "Das Heimweh" gelesen, überaus zähflüssige Kost.
    Es gab noch kein Internet, unter dem Namen Kaltenbrunner war mir nur der in Nürnberg verurteilte Kriegsverbrecher geläufig, und ich wusste damals noch nicht, wie nahe Gert Kaltenbrunner der rechtsextremen Szene stand. Da hätte ich das Buch eher nicht zur Hand genommen. Aber irgendwie faszinierte mich, wie der Autor, völlig unberührt von großstädtischen Alltagssorgen im Beton-Plattenbau Ostberlins, von seinem Schwarzwälder Walddorf aus so "heideggermäßig" in zwei Jahrtausende europäischer Geistesgeschichte eintauchte, da stellte ich mir sowohl sein Dorf vor (vielleicht mit Balkon zum Schreiben), als auch tanzende Bacchantinnen (im Malstil Lorrains oder Poussins) - die dann freilich zu rasenden Furien wurden!

  • Moin, Moin!



    (von der Schreibweise dieses Namens her nehme ich an, dass Dir die in der DDR mehr verbreitete sogenannte wissenschaftliche Transliteration für die Wiedergabe aus dem Russischen geläufig ist, während man im Westen häufig der Wiedergabe im Englischen oder der Zeitungs-Transkription folgte - Gorbatschow, Gontscharow usw.)


    Yep. Was habe ich anfangs für Flame Wars geführt, weil mir niemand glauben wollte, daß "Dostoevskij" nicht mein ureigenste Erfindung ist.


    Zitat

    Bei Eckhard Henscheid wäre mir sofort in den Sinn gekommen, dass er satirisch das "Dummdeutsch" aufs Korn genommen hat. Eine "Idylle"? Da muss ich sofort wieder an J. H. Voß und seine "Luise" denken; von Karamzin gibt es auch eine "ländliche Idylle". Ist es das, worauf ich eigentlich hinauswollte, eine Idylle?


    Wie angemerkt, habe ich das nur via Twitter bekommen und kann aufgrund von Unkenntnis keine Aussage treffen.


    Zitat

    Kann in heutiger Zeit überhaupt noch ein Gesellschaftspanorama in einem großen Gegenwartsroman entworfen werden?


    Ich möchte daran glauben. Der Roman hat meines Erachtens nach nicht ausgedient. Ob solche Epoche machenden Werke wie Buddenbrooks, Blechtrommel wiederkehren? Es gibt immer wieder groß angelegte Bücher, die man schon als Panorama bezeichnen kann. Ich denke da u.a. an Heijdens Zyklus "Die zahnlose Zeit".


  • Der Henscheid? Der Verbrecherfasser der "Trilogie des laufenden Schwachsinns"?


    Gib's zu, die drei Romane hast du nicht gelesen.


    Ansonsten von Henscheid natürlich das gar nicht genug zu lobende "Dolce Madonna Bionda"


    Btw - Henscheid hat einen schwerstkatholischen Einschlag. Das zur Vermutung, dergleichen Literatur könne nur von religiösen Menschen stammen.

  • Gib's zu, die drei Romane hast du nicht gelesen.


    Ansonsten von Henscheid natürlich das gar nicht genug zu lobende "Dolce Madonna Bionda"


    Btw - Henscheid hat einen schwerstkatholischen Einschlag. Das zur Vermutung, dergleichen Literatur könne nur von religiösen Menschen stammen.


    Alle drei in der Tat nicht, weil mir die "Mätresse des Bischofs" nach etwa drei Vierteln auf den Zeiger ging und die beiden anderen beim Durchblättern nicht wirklich anders aussahen. Außerdem schätze ich Kräuterlikör nicht besonders, und Sechsämtertropfen schon gar nicht.


  • Alle drei in der Tat nicht, weil mir die "Mätresse des Bischofs" nach etwa drei Vierteln auf den Zeiger ging und die beiden anderen beim Durchblättern nicht wirklich anders aussahen. Außerdem schätze ich Kräuterlikör nicht besonders, und Sechsämtertropfen schon gar nicht.


    Die "Mätresse" ist wohl Henscheids komplexestes Werk, damit würde ich wirklich nicht anfangen. Eher schon mit "Geht in Ordnung". Für Brigitte Kronauer (und andere) ist die "Mätresse" übrigens ein "Meisterwerk … ein Abschnitt ungeheuer komplexer Gegenwart voller Komik und Finsternis" ;-).


    Wenn man von der anderen Seite kommt - also "Vollidioten" -> "Geht in Ordnung" -> "Mätresse" liest -, dann stellt man übrigens fest, dass die ersten beiden Romane deutlich anders gelagert sind als die "Mätresse".


    Und seit wann muss man das mögen, was die Figuren eines Romans so zu sich nehmen?

  • - Gibt es Literatur zu empfehlen, deren Autorinnen/Verfasser trotz der Erkenntnis schreiender Widersprüche in der Gesellschaft bei der Betrachtung von Menschen und der Natur dennoch zu einer gewissen Versöhnlichkeit gelangt sind und Trost spenden können?


    Deine Frage beschäftigt mich, weil ich eher das Gegenteil schätze, nämlich wenn die gesellschaftlichen bzw. persönlichen Abgründe offen gelegt werden. Daher fällt mir auch auf Anhieb jetzt kein Tipp für dich ein. Von den zeitgenössischen amerikanischen Autoren schätze ich TC Boyle, der in einigen seinen Büchern neben Gesellschaftskritik auch Humor und eine gewisse Lebenslust beschreibt.

  • Deine Frage beschäftigt mich, weil ich eher das Gegenteil schätze, nämlich wenn die gesellschaftlichen bzw. persönlichen Abgründe offen gelegt werden. Daher fällt mir auch auf Anhieb jetzt kein Tipp für dich ein. Von den zeitgenössischen amerikanischen Autoren schätze ich TC Boyle, der in einigen seinen Büchern neben Gesellschaftskritik auch Humor und eine gewisse Lebenslust beschreibt.


    Hallo Steffi,


    im Laufe der Jahre hatte ich sicher auch sehr viel Literatur konsumiert, in der die gesellschaftlichen Widersprüche verdeutlicht wurden. Z. B. fast alles von Balzac. Eine Idylle konnte der gar nicht gestalten, die entsprechenden Teile in seiner "Lilie im Tal" sind gründlich mißlungen und stilistisch ein Graus, alles voller süßlicher Unwahrhaftigkeit. Erst bei den Intrigen war er wieder in seiner Welt.



    Etliche gesellschaftliche Themen waren in der DDR tabu. Belletristik und Memoiren von Schriftstellern konnten da etwas Abhilfe schaffen. 1977 hatte ein unaufmerksamer Zensor Ilja Ehrenburgs Erinnerungen "Menschen, Jahre, Leben" durchgewinkt.
    Nur mal eine kurze Anekdote, die 1937 während des Spanischen Bürgerkriegs in der Sowjetunion spielt und mir die Ausmaße des sinnlosen Grauens des Stalinismus gerade wegen ihrer Kürze vor Augen führte.. Und ich hatte mich zur Zeit des Erscheinens dieser Erinnerungen auch für längere Zeit in Moskau aufgehalten. Den Namen der in ihr erwähnten Stadt habe ich jetzt vergessen, ich füge einmal eine ein:


    Sagt der eine zum anderen: "Sie haben Teruel." Fragt der andere: "Und seine Frau?"
    Der eine hat eine Nachricht vom Kriegsschauplatz, der andere denkt: "Wen haben sie letzte Nacht wieder abgeholt?"


    Die österreichische Schriftstellerin Maxie Wander, die in der DDR lebte, führte ein in die tabuisierte Welt der Krankenhäuser und des Todes, wo sie, vielleicht früher als im Westen, die Geschichten einfacher, unheroischer Frauen aufschrieb. Nur so kann man den großen Erfolg von Christa Wolfs Roman "Nachdenken über Christa T." verstehen, den ich schon als pubertierender Jugendlicher verstört las. Marcel Reich-Ranicki sah sie nur als eine schwurbelig-verquält schreibende Schriftstellerin (sah zudem noch ihre politische Funktion als zeitweiliges ZK-Mitglied in der DDR) und berücksichtigte nicht ihre Funktion als lebende Instanz der Lebensberatung für ein völlig anders geartetes, nach Hunderttausenden zählendes Lesepublikum.
    Wie viele der damaligen Schriftstellerinnen wurden vom Krebs ereilt: Maxie Wander selbst, Brigitte Reimann, Irmtraud Morgner ... Aber die positiven Helden der DDR kannten keine schweren Krankheiten, keine Depressionen und starben nicht im Krankenbett.


    Doch 35/40 Jahre später kann man frei auf Informationen zurückgreifen und die verschiedensten Deutungen und Interpretationen kennenlernen, es gibt, wie gesagt, eine umfangreiche Ratgeberliteratur.
    Literatur hatte nach 1989/90 nicht mehr die Funktion, fremde Verhältnisse und Welten kennenzulernen.


    Ich weiß noch, wie ich besagter sehr guter Freundin nach der Wende einmal im Studium helfen sollte, den Roman von Gabriel Garcia Marquez "Hundert Jahre Einsamkeit" als Pflichtlektüre zu interpretieren. Ihr Vater, zuerst um Hilfe gebeten, verzweifelte daran: "Die heißen alle Amanda und fliegen durch die Luft, ich weiß gar nicht, was das alles soll." :rollen: Zeitlich ging alles durcheinander. Lateinamerikanische Folklore hatte ihn zur Strecke gebracht, ihn, den einfachen Lehrer der Naturkunde in einer sachsen-anhaltischen Kleinstadt.
    Jetzt war ich am Zuge, ging in meine Stammkneipe, pfiff mir ein paar Grog ein, las das Buch in einem Ritt durch, (bin ja nun nicht gerade ein Literaturwissenschaftler) und hatte bald einen möglichen Zugang gefunden: Ich musste darauf achten, wann bei den Ureinwohnern zum ersten Mal ein Pferd, das Eisen und ein Radwagen vorkamen, die die Indianer vor der Ankunft der Spanier noch nicht kannten. Bald kam ein Pferd angetrappelt, am Strand lag irgendwann eine eiserne Rüstung und irgendwann kam ein Wagen angerollt .... Einige Wochen später kam die Literaturlehrerin zu meiner Freundin und sagte zu ihr: "Sie kriegen eine Eins, weil sie das in einer Weise dargestellt haben, auf die wohl noch niemand gekommen ist und die ich so noch nie gelesen habe! Erstaunlich - obwohl sie eigentlich mit der ganzen Art des Schriftstellers und dem Dargestellten überhaupt nichts anzufangen wussten."


    :zwinker: ich freute mich, dass dieses Unternehmen glückte und bekam noch ein Bier spendiert.


    Ich habe vielleicht immer noch nicht klar ausdrücken können, was ich eigentlich wollte.


    Kann es sein, dass nach diesem blutigsten aller Jahrhunderte, dem 20. Jahrhundert, das die Gesellschaften zum Teil tief spaltete, was sogar durch die Familien ging, es Schriftsteller gibt, die nach dem Rückblick zu einer gewissen ausgeglichenen Bilanz und vielleicht auch einer inneren Heiterkeit gelangen und dabei nun nicht gerade die Rückkehr zum religiösen Glauben propagieren? (das störte mich zum Beispiel bei Luise Rinser, die mit ihrer "Nina" wiederum ein Lieblingsbuch meiner Frau lieferte).


    Was Amerika betrifft, so bin ich wahrscheinlich mit wahnsinnigen Vorurteilen seit der Jugendzeit belastet. Mit Mark Twain als Schullektüre hörte das Lesen der Literatur aus den USA weitgehend auf, selbst die als ganz groß Geschätzten, Hemingway oder Faulkner, sagten mir nicht zu, später, wie erwähnt, Updikes Ehedramen waren mir fremd.


    Irgendwie traue ich das vor allem Frauen zu ...


    Und nach diesem bunten Durcheinander höre ich jetzt wieder auf und harre der Dinge, die da vielleicht von Euch kommen würden!
    :smile:

  • Hallo Karamzin,


    vielleicht könnten dir die Erzählungen Judith Hermanns gefallen. Sie sind - oft traurige, aber niemals pessimistische -Miniaturen menschlicher Befindlichkeiten, ranken sich um alle möglichen menschlichen Grundbefindlichkeiten und sind von einer betörenden Sprachmacht, ohne in irgendeiner Form gekünstelt zu wirken. "Nichts als Gespenster", "Sommerhaus später" und "Alice" habe ich bisher mit großem Genuss gelesen.


    finsbury

  • Judith Hermann ist ebenfalls notiert. Auch bei den vorhergehenden Empfehlungen werde ich mich noch etwas sachkundig machen.


    Wenn ich daran denke, wie viele Autorinnen und Schriftsteller es gibt, von denen ich noch nie etwas gehört habe, kann einem schwindelig werden. Das geht einem ja auch in einem Literatur-Kaufhaus einer grösseren Stadt so.


    Deshalb könnt Ihr mir helfen, mich da vielleicht in die eine oder andere Richtung durchzuschlagen.


    Vielen Dank!