Beiträge von Karamzin

    Einige haben oben die Technik Fontanes mit der Kameraführung in einem Film verglichen. Tatsächlich schwenkt die Kamera nach dem sechsten Kapitel von der Wohnung der Witwe Pittelkow, wo man teils ausgelassen, teils nachdenklich den Abend beendete, im siebenten Kapitel hinüber in die Stube Stines.


    Ich bringe jetzt doch einmal das Bild, das mir regelmäßig in den Sinn kam. Andere können sagen, dass es überhaupt nicht ihrer Vorstellung von Stine entspricht. Aber ebenso, wie der Schriftsteller im Innern ein Bild seiner Gestalten vor Augen hat - Vita activa - so dürfte sich auch bei den meisten Lesern eines einstellen.
    Man könnte auch einwenden, dass es nun überhaupt keine "germanische Blondine" wiedergibt. :zwinker:


    http://myweb.rollins.edu/aboguslawski/Ruspaint/troplace.html


    Sicher gibt es Leser, die von vornherein analytisch an ein Kunstwerk herangehen und sich nicht von ihren Assoziationen treiben lassen. Dieser Eindruck stellt sich mir beim Lesen vieler Diskussionsbeiträge hier ein.


    Jetzt tritt Waldemar in Erscheinung, den Pauline mit ihrer Menschenkenntnis als


    "Ein armes, krankes Huhn"


    bezeichnet hat. Damit hebt sie ihn deutlich von den verlebten älteren Gestalten des Grafen und des Barons ab.
    Ihre Menschlichkeit steht haushoch über moralisierenden Vorwürfen.


    Jetzt nimmt die Stille zu (na ja, schiefes Bild), über die wir uns schon unterhalten haben:


    "Und still und ohne Begegnung wie der erste Tag schien auch der zweite vergehen zu wollen."


    Die "niedergehende Sonne hing schon tief zwischen den zwei Türmen des Hamburger Bahnhofs". Das bedeutet, dass wir jetzt von der Invalidenstraße aus nach Westen blicken, in dem die Sonne "unterzugehen" scheint.


    (Alter Witz, den ich mal in Berlin gehört habe: Die beiden Berliner an der Adria: "Allet wat recht is, in Sachen Sonnenuntergang sin se uns über" :zwinker:)



    Bei Waldemars Erscheinen im dritten Stock des Hauses, in dem Pauline und Stine wohnen, setzt sofort ein anerzogener und verinnerlichter Abwehrmechanismus bei Stine ein:


    "Das geht nicht, Herr Graf. Ich bin allein, und ein alleinstehendes Mädchen muß auf sich halten."


    Wohl noch nie in ihrem jungen Leben hat sie wohl einen solchen Besuch eines jungen Mannes bekommen, der nur ihr galt. Des Standesunterschiedes zu einem Grafen ist sie sich sofort bewusst. Es steht keine namenlose Gestalt aus dem "Zauberflöten"-Spiel vor ihr, sondern ein "Herr Graf".

    Hallo, all,


    nachdem seit den letzten Beiträgen zu dieser Leserunde einige Zeit vergangen ist und "Stine" debattiert wird, möchte ich hier doch noch einmal etwas zu "L'Adultera" ansprechen.


    Das hat mir nach der Lektüre seinerzeit im nachhinein am meisten zu schaffen gemacht. Melanie verlässt auch ihre beiden Kinder.


    Hier ist ein Unterschied zu "Effi Briest" festzuhalten: Nachdem Instetten den einstigen Liebhaber Effis im Duell getötet und seine Frau verstoßen hatte, wird der Mutter auch noch die Tochter Annie weggenommen. Instetten glaubt so handeln zu müssen, obwohl sechs Jahre seit der Affäre vergangen waren. Er hätte auf die Maßnahmen verzichten können, denn sollte es einst einen Anflug von Gerede gegeben haben, so war es inzwischen längst verstummt.
    Die Entfremdung zwischen Mutter und Tochter war eine Folge der Entscheidung Instettens. Das Leben Effis war gerade dadurch zerstört worden, und wenn auch Instetten sein Leben als zerstört ansah, so überlebte er doch und konnte sich auf seine alten Tage Rechtfertigungsargumente für sein Handeln zurechtlegen, wie es ihm beliebte, das wissen wir nicht.
    Er war der "Bösewicht" des Romans, seine Maßnahmen gegen Effi begründete er zwar mit seinen Rechten als "verletzter und beleidigter" Ehemann, doch konnten sie auch als Rache gedeutet werden.


    Aufgrund dieser Umstände, die die Unmenschlichkeit des adligen Ehrbegriffs vor Augen führten, wurde der Roman auch zur Schullektüre in der DDR (Kritik der scheinbar überwundenen "Ausbeutergesellschaft"). Dass die Lektüre bei vielen Schülern nicht die von den Deutschlehrern erwünschten Antworten hervorrief und der Roman manche auch überforderte (weil es sich um eine vergangene, fremde Welt handelte) oder langweilte, wäre ein eigenes Thema.



    Aber bei "L'Adultera" liegen die Dinge doch anders. Melanie fasst einen Entschluss, wenn er ihr auch sehr schwergefallen sein mochte, und verlässt von selbst sowohl den Mann als auch die beiden Kinder. Es war nicht klar, für welche Zeit, es konnte für immer sein. Dabei hatte sie keine Garantie, dass ihre Liebe zu Rubehn ewig währen würde. "Ruben, mein Einziger, soll ich auch dich verlieren?" (Einundzwanzigstes Kapitel).
    Die Kinder wurden ihr ebenfalls mit Dauer der Abwesenheit entfremdet.
    Hier wurde in der Diskussion bemerkt, dass zu jener Zeit andere Maßstäbe galten und bei einer Trennung vom Ehemann auch der Abschied der Mutter von den Kindern vorgesehen war.


    Hier wurde mit Ibsens "Nora" verglichen, die zeitlich (1879) nahe zu der Entstehung der "L'Adultera" anzusetzen ist.
    Ich musste noch an ein anderes Stück denken, das 1789 unter großer Anteilnahme des Berliner Publikums gleichzeitig mit Schillers "Don Carlos" am Königlichen Theater aufgeführt wurde: Kotzebues Rührstück "Menschenhaß und Reue". Da wurde im Publikum geschluchzt.
    Die Baronin Meinau war ähnlich früh wie Effi Briest, mit fünfzehn Jahren, verheiratet worden, alle entscheidenden Figuren der Handlung sind adlig.. Ein Verführer tritt auf, sie verläßt ihren Mann und ihre beiden Kinder (ob vielleicht Fontane auch daran gedacht hat? man weiß es nicht). Der verlassene Ehemann wird von "Menschenhaß" erfasst und zieht sich als Einsiedler zurück, die "Ehebrecherin" empfindet tiefe "Reue" und alles wird in dieser "Komödie" gut. Gerade der Anblick der beiden Kinder trägt dazu bei, dass sich die Eheleute wiederfinden und verzeihen.


    Drei literarische und dramatische Werke: Eines endet mit einem tragischen Schluss, bei dem anderen wird das harmoniebedürftige Publikum wenige Wochen vor dem Sturm auf die Bastille mit einem Happy End belohnt (während in dem zur gleichen Zeit aufgeführten Stück Schillers der Sohn des düsteren Königs zugrunde ging).


    "L'Adultera" endet versöhnlich, aber nicht jeder Leser legt es versöhnt wieder aus der Hand. Er kann zufrieden sein, dass wenigstens Rubehn treu geblieben war. Wie sich das Verhältnis Melanies zu ihren Töchtern in Zukunft gestalten würde, die auf jeden Fall traumatisiert waren, weiß man nicht.

    ... Doch gleichzeitig werde ich das Gefühl nicht los, als ob diese Gestalten vornehmlich aus der Vorstellungswelt Fontanes entspringen. Stine ist demnach so konzipiert, wie sich Fontane eine entsprechende Figur vorstellt. Für meinen Geschmack fehlt die Distanz zu den handelnden Gestalten, wie man sie z.B. bei Thomas Mann (mit Ausnahme seiner Goethe-Selbstinszenierung in Lotte in Weimar) nachempfinden kann.


    LG: Va


    Dass die handelnden Gestalten vorwiegend der Phantasie des Autors entspringen, dürfte für die Werke vieler Autoren, wenn nicht die der meisten, zutreffen. In einem anderen Thread hier ging es um Stifters "Nachsommer", in dem der Autor eine Vorgebirgslandschaft, das Hochgebirge und die Stadt Wien mit Gestalten seiner Phantasie bevölkerte. Nur in der Erzählung einer älteren Hofdame kommt Kaiser Franz vor.
    Rousseau hat in seinen "Bekenntnissen" direkt geschildert, wie er sich auf einsamen Spaziergängen seine Helden, ein Liebespaar, erträumte, herbeiphantasierte (während in seiner bescheidenen Behausung die - nun etwas herbe - Therese Levasseur mit dem Essen auf ihn wartete). Daraus wurde die "Neue Heloise", die ganz Europa zu Tränen rührte und sogar Immanuel Kant von seinem gewohnten Spaziergang ausnahmsweise abhielt.


    Von den Werken Thomas Manns ist nun "Lotte in Weimar" dasjenige, in der die meisten handelnden Figuren historische Gestalten sind, in deren Briefe und Erinnerungen sich der Schriftsteller bei seinen Vorbereitungen für den Roman vertiefen konnte (Goethe und Sohn August, Ottilie, Adele Schopenhauer, Riemer u. v. a.). Der erfundene schlesische Husar, der Kellner Mager, sind liebevoll skizzierte Randfiguren.


    Bei Fontane wiederum gibt es ja auch Werke, in denen die von ihm erfundenen literarischen Figuren mit realen Gestalten der Geschichte ins Gespräch kommen. In "Schach von Wuthenow" sind es neben den erfundenen Figuren Schach, Carayon Mutter und Tochter oder dem englischen Groom und anderen Bedienten gleich eine ganze Anzahl historischer Gestalten: König Friedrich Wilhelm III., Königin Luise, Prinz Louis Ferdinand, General Köckeritz, Bülow, Sander und Alvensleben u.a..
    In der späten "Cecile" wiederum scheut sich Fontane, den als Zeitgenossen lebenden Hofprediger Stoecker mit seinem Namen zu nennen.



    In "Stine" kommen meiner Erinnerung nach keine realen geschichtlichen Gestalten vor. Es fällt übrigens auf, dass der Familienname Haldern im Verlauf der Romanhandlung erst relativ spät eingeführt wird.


    Inwiefern die Geschichte von der unstandesgemäßen Heirat, für die Fontane, wie so oft, ein Vorbild in der Wirklichkeit gefunden hatte, auch von Angehörigen der Adelsgeschlechter aufgenommen wurde, die darin verwickelt waren und sich wiedererkennen konnten, wäre eine weitere, gar nicht so leicht zu beantwortende Frage.
    Die haben vielleicht Fontane auf ihren Adelssitzen gar nicht gelesen, und niemand hat ihnen gesagt, dass ihre Familie indirekt in eine Romanhandlung verwickelt ist. :zwinker:


    Viele Grüße


    Karamzin

    Diese ganzen Anspielungen auf die Musik bleiben mir in diesem Ausmaß gänzlich verborgen, da ich kein Fan von klassischer Musik bin und daher diese ganzen Stücke nur dem Namen nach kenne.


    Leider liebt es Fontane viele Anspielungen durch Musik und Malerei dem Leser näher zu bringen. Vielleicht ist das der Grund warum ich in das Buch einfach nicht reinkomme. In den anderen, die ich bisher gelesen habe, fand ich das Thema nicht ganz so ausgeprägt.


    Katrin


    Hallo Katrin,


    mir erschließt sich auch längst nicht jede Anspielung Fontanes, die die Zeitgenossen noch verstanden hatten.


    Könnte es sein, dass Dich der Kontrast dieser beiden sehr unterschiedlichen Frauen, Paulines und Stines, als zentrales Thema der ersten Kapitel doch anzuziehen beginnt?


    Hier oben war schon die Rede von "Prostitution". Das liest sich sehr ernüchternd. Alle werden hier sicher übereinstimmen, dass Pauline keine Prostituierte ist, obwohl sie genötigt ist, von dem alten Zausel Unterstützung zu bekommen. Der überschüttet sie mit frivolen Anzüglichkeiten, inszeniert ein Spiel mit den Figuren aus der "Zauberflöte", das sie nicht versteht und nur verstört. Pauline ist keine "Salondame", die in diesem Spiel mitspielen würde.


    Für mich ist Pauline eine der interessantesten Frauencharaktere des späten Fontane.

    Sie setzt den vielfach so genannten "gesunden Menschenverstand" ein, wirkt nicht romantisch-verträumt, sie ist desillusioniert nach ihrer Jugend, die vom Tod ihres Mannes überschattet wurde, aus der sie ein Kind behalten hat, nur manchmal können ihr Nahestehende, wie Wanda, etwas aus ihrem Innern mitbekommen. Der alte Graf interessiert sich dafür überhaupt nicht, er will sich nur mit seinen Standesgenossen amüsieren und zeigen, wie gebildet er ist. Der Neffe als wahrer Kunstkenner quittiert dieses gockelhafte Gebaren nur mit einem müden Abwinken. Er beginnt sich für die zu interessieren, die still geblieben ist und keinesfalls im Vordergrund stehen will.


    Die Moralapostel, die sich sowohl unter den ehrgeizigen Kleinunternehmern (Polzin) als auch den von Fontane gern mit ihrem Dialekt eingeführten sogenannten "kleinen Leuten" (der "alten Lierschen") finden, sind neugierig, zerreißen sich die Münder und tratschen herum, weil sie die Moralvorstellungen ihrer Zeit verinnerlicht haben, wonach sich eine Frau "züchtig" zu verhalten habe. Wer aus ihrer kleinen Welt ausbricht, wird neugierig beäugt und am Ende mitleidslos in seinem als selbstverschuldet erscheinenden Unglück abgeurteilt.


    Bei Stine scheint alles klar zu sein. Sie meint im traditionellen, durch den Katechismus abgesicherten Sinne, dass der Mensch von Arbeit zu leben hat.
    Bei ihr musste ich immer an die "Stickerin" des russischen Malers Tropinin denken. Aber das ist jetzt auch wieder etwas aus der Bildenden Kunst und würde wegführen vom Thema.


    Viele Grüße


    Karamzin

    Hallo Vita activa,


    auch von mir ein herzliches Willkommen! Ich bin selbst erst ein paar Monate in diesem Forum.


    Wie ich sehe, hast Du Deinem Nickname Ehre gemacht :smile:
    und bist gleich aktiv in die "Stine"-Leserunde eingestiegen.


    Viel Spaß hier!


    Karamzin

    Sowohl Pauline als auch Wanda wehren sich gegen das Spiel des alten Grafen und des Barons mit den Gestalten aus Mozarts "Zauberflöte". Die Witwe Pittelkow mißdeutet die Bezeichnung als "Königin der Nacht", weil sie die Oper offensichtlich nicht kennt. Sie erblickt darin eher eine Herabsetzung, eine Anspielung auf etwas Gemein-Unsauberes in ihrem Abhängigkeitsverhältnis vom Grafen.
    In Mozarts Oper ist die "Königin der Nacht" eine freimaurerisch inspirierte hoheitsvolle Verkörperung eines mystisch aufgeladenen Dunkels, das dem Licht der Aufklärung weichen muß. Das Humanitätsideal Mozarts in der "Zauberflöte" ist ihm (kurz vor seinem Tode)ein ernstes Anliegen, der Klamauk mit dem Pärchen Papagena/Papageno erfreute das Herz des Wiener Bühnenpublikums, das an solche Späße gewohnt war.


    Jaqui - das müsste Dir doch aus Wien so bekannt sein? :smile:


    Auch Wanda findet in Mozarts und Schikaneders Text "Die süßen Triebe mitzufühlen, ist dann des Weibes ernste Pflicht" nur eine Anspielung, der sie sich als Bühnenkünstlerin nicht aussetzen mag.
    Ein bißchen mag man sich an das Frauenbild in Schillers "Lied von der Glocke" und "Ode an die Freude", an Goethes "Hermann und Dorothea" erinnert fühlen, das "Weib" schmiegt sich an. Wanda ist zwar von der Theaterdirektion abhängig, in der Gestaltung ihrer Rolle aber durchaus selbständig.


    Das Spiel mit der "Zauberflöte" birgt sicher noch viele andere Aspekte, die Ihr sicher auch entdecken werdet.


    Es gibt eine Einführung: G. H. Hertling: Theodor Fontanes Stine. Eine entzauberte Zauberflöte? Zum Humanitätsgedanken zweier Jahrhunderte. Bern/Frankfurt/Main 1982.

    Schon in Fontanes frühem Roman "Vor dem Sturm" spielt das Polen-Motiv eine große Rolle.
    Zum preußischen Adel, dem Fontanes besonderes Interesse galt, gehörten zahlreiche Geschlechter polnischer Herkunft, wie unschwer an den Familiennamen zu erkennen ist. Einige Vertreter dieser Geschlechter brachten den Gedanken der Freiheit und des Konstitutionalismus nach Preußen, während alteingesessene preußische Adelsherren eher auf die Freundschaft mit dem autokratisch regierten Russland setzten, wo es nach "Juchtenleder" roch ("Schach von Wuthenow").


    Sympathien für die Polen, die nach dem gescheiterten Kosciuszko-Aufstand von 1794 und der Dritten Teilung Polens 1795 keinen eigenen Staat mehr hatten, waren in Berlin wie in anderen deutschen Territorien sehr stark ausgeprägt. Die Sehnsucht nach einem einheitlichen Nationalstaat einte. 1830/31 brach wieder ein Aufstand in Polen aus, der von den Zarentruppen unter Duldung durch das preußische Königtum niedergeschlagen wurden. Tausende Polen zogen ins Exil und wurden zum Teil begeistert empfangen. Denken wir an Gottfried Kellers "Leute von Seldwyla". Beim Hambacher Fest 1832 wurde nicht nur ein Meer von schwarz-rot-goldenen Fahnen gezeigt, sondern auch die Fahne Polens und die Trikolore des republikanischen Frankreich.

    Der Aufstandsführer Tadeusz Kosciuszko war ein gefeierter Feldherr.
    Vgl. Robert F. Arnold: Tadeusz Kosciuszko in der deutschen Literatur. Berlin 1898.


    Das Singspiel "Der alte Feldherr", der bei der Feier im Haus Pauline begeistert gesungen wurde, stammte von Karl von Holtei (1798-1880), dessen Schaffen man eher mit "Biedermeier" in Verbindung bringt. Es wurde 1825, schon vor dem Aufstand von 1830, erstmals aufgeführt. Das Stück "Denkst du daran, mein tapferer Lagienka" erfreute sich wie das hier gesungene "Fordre niemand, mein Schicksal zu hören" überaus großer Popularität in der Revolutionszeit 1848, die Fontane hautnah in Berlin erlebt hatte, und in der es in Polen abermals unruhig wurde..


    In Paulines Wohnung hing ein riesiges Ölgemälde, das "wenigstens hundert Jahre alt war und einen polnischen oder litauischen Bischof verewigte, hinsichtlich dessen Sarastro schwor, daß die schwarze Pittelkow in direkter Linie von ihm abstamme."


    (Einen solchen Bischof hat es gegeben: Ignacy Krasicki, 1734-1801, Bischof von Ermland, der die besondere Gunst Friedrichs II. genoß, weil er geistreich plaudern und französische Gedichte verfassen konnte. Fontane mag dabei an diesen gedacht haben; mit den "hundert Jahren" kommt es hin.)


    Wer zuvor gelesen hatte: "Die brünette Witwe war das Bild einer südlichen Schönheit, während die jüngere Schwester als Typus einer germanischen, wenn auch freilich etwas angekränkelten Blondine gelten konnte", wird zum einen darüber belehrt, dass Paulines Vorfahren eher nicht aus Italien stammten. Allein die slavische Endung "-ow" in ihrem Namen gilt nicht, denn der Name war angeheiratet.
    Zum anderen sollte man bei Fontanes Worten von der Hauptfigur als einer "germanischen Blondine" kurz innehalten und sich fragen, inwieweit man bei der Betrachtung dieser Wortwahl schon von unheilvollen späteren Äußerungen eines Rassendünkels, vom Germanenkult nach 1933, auf frühere Äußerungen Fontanes zurückschaut, der allerdings von solchen späteren Auswüchsen noch nichts wissen konnte. Der damalige Leser verband mit der "Blondine" eher den Ausdruck der "Unschuld", während eine schwarze Schönheit eher Unruhe in norddeutsche Gefilde hineinzubringen schien.


    Ferner standen in Paulines Zimmer zwei "jämmerliche Gipsfiguren, eine Polin und ein Pole, beide kokett und in Nationaltracht zum Tanze ansetzend", billige Massenware, die sicher von der Polenliebe der Witwe Pittelkow zeugen mochte.


    Hallo, Vita activa,


    offenbar hast Du den Roman schon gänzlich gelesen. Da aber die anderen in dieser "Leserunde" erst angefangen haben, würde ich vorschlagen, dass wir - Du und ich, der ich den Roman ebenfalls schon kenne - , noch ein bißchen warten und Rücksicht auf all diejenigen nehmen, die noch längst nicht so weit vorgedrungen sind. Ich zumindest werde mich noch ein bißchen zurückhalten und dann in die Diskussion einsteigen, wenn es sich anbietet.


    Übrigens heißt es am Ende: "Die wird nich wieder." :zwinker: Damit hätten wir wieder ein Beispiel für den Einsatz des Berliner Dialekts, wie bei "Schwarzkoppen".

    Hallo, guten Morgen!


    ich bin da, habe die Ausgabe in der Nähe liegen:


    http://www.klassikerforum.de/index.php/topic,4601.0.html


    Ich hatte schon mehrere Mal "Stine" gelesen und bin gern bereit, es wieder zu tun.


    Als Vorbemerkung: man kann sich heute vielleicht kaum noch vorstellen, dass Fontane mit "L'Adultera" und dann auch mit "Stine" eine herbe Kritik in der Presse zu erwarten hatte. Etliche zeitgenössische Kritiker fanden, dass die darin geschilderten Verhältnisse skandalös, gegen alle Tradition und sittenwidrig seien. In bestimmten gehobenen Gesellschaftskreisen war der Hofprediger Stoecker tonangebend, der am Schluss in Fontanes "Cecile" als Romanfigur erscheint.


    Heute erscheint Berlin hingegen als Symbol für Offenheit und Toleranz, wird jedenfalls so hingestellt und in der Gestalt des jetzigen Regierenden Bürgermeisters so recht demonstriert, man ahnt, dass es Schattenseiten geben muß und auch früher gab.


    Wir sind durch unsere Lektüre über das Berlin der 1920/30er Jahre vielleicht gewohnt, eine quirlige, laute Stadt vor Augen zu haben, mit Kabaretts, Nachtbars, Tingeltangel, Akrobatik - dann kamen Inflation, Nazizeit und Zerstörung über die Menschen dieser Stadt, deren Grautöne auch nach dem Krieg nicht zu übersehen waren.
    Heute repräsentiert sich Berlin als weltoffene Stadt, mit einer bunten, gemischten Bevölkerung aus vielen Ländern, mit Parties und Christopher-Street-Day, mit Straßen, Kiezen, in denen ein bestimmter Bevölkerungstyp vorherrscht, und verträumten Randsiedlungen, über die immer mehr Flugzeuge brausen.


    Es heißt jetzt, mehr als ein Jahrhundert zurückzugehen und das Berlin des ausgehenden 19. Jahrhunderts mit den Augen Fontanes zu betrachten.


    Umgang mit Lärm und Stille
    In "Stine" besuchen wir das Berlin der Gründerzeit, nach dem Krieg mit Frankreich 1870/71, der einen der Haupthelden seine Gesundheit kostete. In dieser Gegend um Invalidenstraße und Chausseestraße in Berlin-Mitte wohnen die Heldinnen des Romans oder der Erzählung. Da fahren klingelnde Pferdebahnen, aber es wird insgesamt immer leiser und stiller, eine Eigenart des alternden Fontane, auf die ich durch Seilers Buch aufmerksam gemacht wurde. Aber richtig, es sollen hier keine Deutungen vorweggenommen werden.
    Der Lärm, das Rauschen der Großstadt verschwinden immer mehr, und wir können den Gesprächen der handelnden Personen, ungestört durch Hintergrundgeräusche, zuhören.


    Die Gegend ist von der Industrialisierung geprägt, die Betriebe, die sich in der Nähe befinden und deren Arbeiter vorbeihasten, werden namentlich genannt, Borsig und Schwarzkopf. Die Proletarisierung hat sich verstärkt. Die neue Zeit ist angebrochen. Wenn man heute auf der Terrasse des Hauptbahnhofes sitzt, kann man den Straßenzug erkennen, die "Scharnhorststraßen-Ecke", wo die alte Lierschen wohnt, die "Pittelkown", wie wir später erfahren, Stine selbst, und wo ein zehnjähriges Mädchen einen Kinderwagen bewacht.


    Und dann kommen Leichenzüge. Gleich mehrere, in dieser ansonsten sehr belebten Gegend. Solche düsteren Vorahnungen kennt man aus anderen Romanen Fontanes.


    Unüberhörbar der Berliner Dialekt, der mehrere der handelnden Personen charakterisiert. Auch Stine selbst wird berlinern.

    Hallo,


    ich habe zu Hause die Biographie von Helmuth Nürnberger (geb. 1930), der sich mehr als ein halbes Jahrhundert mit Fontane, seinem Umfeld, den Hintergründen seines Schaffens beschäftigt hat, ausgewogen und sehr kenntnisreich schreibt.

    Er bekannte einmal im Gespräch, dass es dennoch Werke Fontanes gibt, die bisher noch nicht so gut wie andere erforscht worden seien, so die "Cecile", deren letzter Teil ja vorwiegend in Berlin spielt.


    Ich habe im Thread über "Stine" schon ein reich bebildertes Buch benannt, das ich mir jetzt
    zugelegt habe (auch gar nicht so teuer ist) und mir sehr hilft, die Topographie der Hauptstadt des Kaiserreichs zu erschließen, die Dich ja ebenfalls interessiert:


    Bernd W. Sailer: Fontanes Berlin. Die Hauptstadt in seinen Romanen. Berlin: verlag für berlin-brandenburg 3. Auflage, 2012, 190 S.


    Der Autor (geb. 1939) hat mich zum Beispiel darauf aufmerksam gemacht, dass es in Fontanes Berlin-Romanen so gut wie keinen Lärm gibt. :zwinker: Dabei störten ihn durchaus ratternde Fuhrwerke, das Klingeln der Straßenbahnen, die Lokomotiven ... Im "Stechlin" erfreut sich der alte Barby lediglich daran, "wie das Abendrot den Lokomotivenrauch durchglüht".


    Viele Grüße


    Karamzin

    Auch ich mag die Musik von Joseph Haydn sehr.


    Der "Orpheus" von Joseph Haydn ist seine letzte Oper. 1791, im Todesjahr Mozarts, war sie für das Londoner Publikum bestimmt.
    Die Oper verschwand vom Spielplan der europäischen Bühnen. Erst 1951 wurde sie wieder - mit Maria Callas als Eurydice - aufgeführt.


    Im Berliner Bodemuseum wurde von dem Regisseur Hagels die im romanischen Stil gestaltete Basilika zum Aufführungsort bestimmt. Balletteinlagen lösten den Gesang ab.
    Der Chor bestand nur aus vier Stimmen, zwei Frauen- und zwei Männerstimmen, doch dank der Akustik dachte man einen großen, vielstimmigen Chor zu hören. Die Kostüme waren im klassischen Stil gestaltet.
    Besungen wird das Ende einer großen Liebe. Obwohl es Erinnerungen an Christoph Willibald Gluck gibt, endet Haydns Oper tragisch. Eurydike wird dem Sänger, der sich nach der Gattin umblickte, nicht wieder geschenkt. Der Tod ist immer anwesend.
    Die schönen Leiber werden zerfallen, auch das Fleisch der Liebenden wird zu Staub. Das ist überhaupt nicht ein "Papa Haydn" (spießbürgerliche Legende). Die Oper ist noch viel dramatischer als die Christoph Willibald Glucks (1762), der freilich auf den Geschmack des Pariser Publikums Rücksicht nehmen musste.
    Ich wurde mit meiner Schlangenphobie schön bedient durch eine auf die Bühne gebrachte echte Schlange, die Eurydike in den Hals biß. :zwinker:


    Noch ein Literaturtipp:


    Jan Caeyers: Beethoven. Der einsame Revolutionär. Eine Biographie. Aus dem Niederländischen von Andreas Ecke. München 2012, 852 S.


    Wahrscheinlich habe ich einen besonderen Nachholebedarf dabei, die zahlreichen Legenden zerpflückt zu sehen, die sich um Beethoven ranken. Der wichtigste "Übeltäter war Anton Felix Schindler, der sich dem Komponisten als Biograph aufdrängte, obwohl er von diesem immer wieder kalt abserviert wurde, und sogar Dokumente aus dem Nachlaß stahl und verfälschte.
    Beethoven wuchs nicht in Armut auf. Allerdings begann schon sein Großvater Louis, der neben seinem Kapellmeister-Posten noch eine Weinhandlung aufzog, für den Alkoholmißbrauch in der Familie zu sorgen. Beide Großmütter Ludwigs landeten in der Anstalt. Caeyers geht dezent mit dem Alkoholismus Beethovens erst im Zusammenhang mit dessen Ende um. Es war noch keine Vollnarkose möglich, als ihm am Schluss das Wasser aus dem Leib geschöpft wurde. Beim Begräbnis fanden sich etwa 20.000 Menschen ein, darunter auch Franz Schubert und Franz Grillparzer (der die Ansprache verfasst hatte). Der regierende Kaiser hieß auch Franz, das ist der "gute Kaiser Franz" (ein arger Jakobiner-Jäger) aus der "Kaiserhymne", zur Melodie von J. Haydn. Beethoven ließ nur Mozart und Haydn, bei denen er Neues lernte, neben sich als Komponisten gelten; er verfügte also über ein ausgeprägtes Selbstbewußtsein.


    Arm ist Beethoven erst recht nicht gestorben, er hatte mehrere tausend Gulden in Wechseln angelegt.
    Man könnte natürlich fragen, wieso ich nach solchen Dingen fahnde und nicht der "göttlichen Musik" oder nach den zahlreichen Geliebten. Der Autor Jan Cayers war Assistent bei Claudio Abbado, er war Dirigent und ist jetzt Professor an der Universität Leuven in Belgien.


    Die Schilderung der Begegnung Beethovens mit Goethe in Teplitz geht auf Bettina von Brentano zurück, die sich an beide mit Ungestüm heranwarf, um sich in ihrem Ruhm zu sonnen. Sie wurde auch von beiden wieder abgefertigt. Sie ließ Goethe als Höfling und Beethoven als Verächter des Hofzeremoniells erscheinen.
    So sehr verachtete Beethoven Napoleon nicht, wie die Legende besagt, wonach er das Titelblatt der "Eroica" zerrissen habe, nachdem er von Napoleons Thronbesteigung 1804 gehört hatte. In Wirklichkeit erkundigte er sich auch noch später nach den Bedingungen für einen Eintritt in die Dienste Bonapartes.

    Hallo, Gruß auch an Erika,


    wenn demnächst die gemeinsame Leserunde beginnt, werde ich zwar eine Ausgabe in den Händen halten, die nicht so verbreitet ist:


    Fontanes Werke in fünf Bänden. Zweiter Band: Schach von Wuthenow. L'Adultera. Stine (Bibliothek deutscher Klassiker). Aufbau Verlag, Berlin und Weimar 1975.


    Diese Ausgabe war mir im Mai 1977 aus einem bestimmten Anlaß feierlich überreicht worden. Von der "Bibliothek deutscher Klassiker" kostete damals ein Band 5 Mark der DDR.
    Aber ich denke, dass man sich mühelos anhand der Kapiteleinteilung orientieren kann.


    Außerdem könnte recht nützlich werden für die Topographie Berlins:


    Bernd W. Seiler: Fontanes Berlin. Die Hauptstadt in seinen Romanen. Verlag für Berlin-Brandenburg, Berlin 2012.


    Viele Grüße

    In dem Artikel wird auf den Systemwechsel nach 1990 angespielt; die Formulierung "schon seit den neunziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts" zeigt, dass der Autor wohl noch jung ist.


    Es ist von "Ausländern" die Rede, die auf das Oktoberfest schauen und sich danach ein Bild von der Mentalität "der Deutschen" zu schaffen versuchen.
    Dann gehöre ich jedoch auch zu den "Ausländern", denn das Oktoberfest und die Biergarten-Kultur mit ihren Gesängen und dem Schunkeln waren für mich und Millionen Bewohner der DDR ebenfalls eine fremde Welt. Nach dem Mauerfall haben sich etliche von ihnen nach München begeben und daran teilgenommen. Ich habe es noch nicht ein einziges Mal geschafft und denke mal, dass ich das auch nicht mehr tun werde. Die Bilder im Fernsehen genügten. Dann lieber in einem ruhigen Biergarten mit einem guten Buch. :smile:


    Aber auch in Niedersachsen wurde ich jetzt unfreiwilliger Ohrenzeuge einer Geburtstagsfeier mit Teilnehmern, von denen etliche weit über die 80 waren. Von den rund einem Dutzend Trinkliedern, die da angestimmt wurden, kannte ich kein Einziges. Darunter so sinnige, unwahrscheinlich blöde, wie "Barbara, Barbara", die nach Afrika kommen soll, wo die lieben "Negerlein" ihren Ringelreihen tanzen. :rollen:Das stammt ja noch aus der Zeit der "großdeutschen" Kolonialträume vor 1945. Ich hätte nicht gedacht, dass so etwas weiterlebt, wahrscheinlich eben nur bei manchen ganz Alten. Das öffentliche Ausleben von derartiger "Folklore" der Wehrmachtszeit war in der DDR unterbunden worden.



    Als "Wanderer zwischen den Welten" hatte ich bis 1989 mehr als drei Jahrzehnte bewusst in der DDR gelebt, ohne jemanden aus dem Westen persönlich näher zu kennen oder Verwandte dort zu haben. Nach 1992 lebe und arbeitete ich vorwiegend im Westteil Berlins und in Niedersachsen. Es gibt sicher hier und dort Gemeinsames. Es gibt aber auch völlig anderes, so zum Beispiel, den Einfluß von Religion und Kirche mit ihren Feiertagen, die das Jahr gliedern, auf Biographien im Westen, die weitgehende Vollendung der Entchristianisierung in manchen Teilen des Ostens, wie man sie auch immer bewerten mag. Ich komme jetzt kaum noch in die östlichen Gegenden, wo man noch weitgehend von der "Vor-Wende"-Zeit geprägt ist.
    Man kann sich vielleicht gar nicht vorstellen, wie merkwürdig so manche Gebräuche unserer süddeutschen "Landsleute" anmuteten, nicht nur das Oktoberfest, wenn man dort das erste Mal erschien. Wie eben aus der Sicht der in dem Artikel erwähnten "Ausländer".

    Ich mache mal mit. Freitag, der 10. August. "Stine".


    Es ist schon eine Weile her, dass ich diesen kleineren Text Fontanes gelesen habe. Jahrelang habe ich in Berlin-Mitte gewohnt und kenne die Schauplätze.


    Außerdem erinnere ich mich an die Verfilmung durch die DEFA der DDR (1978) mit Jutta Wachowiak als Pauline.

    Hallo Karamzin,


    da bist du ja nach sandhofer schon der zweite, der den mir bisher völlig entgangenen Autor Zschokke kannte. Ist der wirklich in einem Atemzug mit Goethe und Schiller zu nennen, wie von Charlotte Bronte getan.


    Im übrigen, wenn dir in deinem Leben nichts Schlimmeres passiert, würde ich dich zu den glücklichen Menschen zählen. :zwinker:


    Hallo montaigne,


    mir war bewusst, dass Zschokke wie die mir am nächsten stehende weibliche Person gebürtiger Magdeburger war. Was den Briefroman "Die Prinzessin von Wolfenbüttel" betrifft, so ist er im vorigen Jahr wieder neu in Bremen aufgelegt worden, jedoch völlig ohne Kommentare. Prompt fragte mich eine Leserin, ob denn die Handlung mit den historischen Umständen übereinstimme.


    Sophie Christine Charlotte (1694-1715), die Prinzessin von Wolfenbüttel, wurde im Oktober 1711 in Torgau mit Aleksej Petrovich, dem trunksüchtigen und lebensuntüchtigen Sohn Zar Peters I., verheiratet. Bei dieser Hochzeit waren Gottfried Wilhelm Leibniz, Diplomat in welfischen Diensten und Bibliothekar der später nach Herzog August benannten Bibliothek, sowie der Roman- und Gedichtautor Herzog Anton Ulrich, der Großvater der Braut, anwesend (das steht jetzt nicht bei Zschokke).
    Die Ehe gestaltete sich für die Prinzessin zum Martyrium. Der Großfürst Aleksej mißhandelte und vernachlässigte sie abwechselnd. So weit, so auch bei Zschokke.


    Der lässt nun aber die Prinzessin, die in Wirklichkeit am Kindbettfieber starb, überleben und nach Amerika auswandern, wo sie in der Nähe des Missouri zu einer wohltätigen Pflanzerin wird. Am Ende ihres Lebens kehrt sie nach Europa zurück, um in ihrer Heimat zu sterben. Nun, etwa gleichzeitig mit diesem Briefroman ist eine geographische Beschreibung von Louisiana erschienen, die Zschokke inspiriert haben mochte.


    Eine publikumswirksame Story hatte auch Schiller mit dem "Geisterseher" hingelegt. Und das Motiv der Amerika-Auswanderung sollte später auch bei Goethe in "Wilhelm Meisters Wanderjahren" wiederkehren. Man ist inzwischen wohl davon abgekommen, in Goethe den unerreichbaren Olympier und Schiller den klassischen deutschen Nationalutor zu sehen, sie über all die anderen Schreiber zu überhöhen. Andererseits hat man auch erkannt, dass eine Abstempelung überaus erfolgreicher Autoren als "Trivial-Autoren" auch nicht angebracht ist. Da gibt es noch Tausende nahezu unbekannter Texte zu entdecken.
    Kotzebue hatte 1789 mit "Menschenhaß und Reue" in Berlin auch deshalb einen so großen Erfolg, weil die Trennung von Ehepaaren und die selbständige Entfernung einer Frau von ihrem Gatten und ihren Kindern das Publikum anrühren mussten. Goethes "Iphigenie" war hingegen den Bürgern weit entrückt.
    So ähnlich wird es sich auch mit Zschokke zugetragen haben. Ein reißerischer Autor gelangte zum Erfolg, so dass er sich nicht mehr wie viele seiner Berufskollegen als Hauslehrer oder Fürsten-Unterhalter durchschlagen musste.

    Hallo zusammen,
    hallo Karamzin,


    ein schönes Zitat aus Faust, aber leider, wenn ich mal den Oberlehrer spielen darf, am Thema vorbei, da kein Buchtitel. Shakespeare- oder Goethezitate sammeln würde sicher den Rahmen dieses Forums sprengen, ich vermute mal allein im Faust I von der Zeile 1 angefangen („Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten!“) bis zur Zeile 4610 („Heinrich! Mir graut’s vor dir“) kann man mehr als 100 Zitate finden und bei Schiller wird’s noch schlimmer.


    Volle Punktzahl dagegen für Tom, der zitierte Satz ist gleichzeitig Titel von Remarques Roman und Markus, Lolita ist nicht nur Titel von Nabokovs Roman, sondern auch als Beschreibung für bestimmte Mädchen bei Menschen bekannt, die den Roman nicht kennen..


    Du hast natürlich völlig recht, ich habe das mit dem "Buchtitel" völlig überlesen, obwohl es sichtbar in der Überschrift prangt. War in Gedanken wahrscheinlich noch bei Heinrich Zschokke und speziell seiner "Prinzessin von Wolfenbüttel", die in der Vor-Schweizer Periode entstand, und dann ist es passiert ...
    Nun denn: "Wie es Euch gefällt" :zwinker:


    Hallo Anita,


    seit 2006 hat es mich zur Arbeit nach Niedersachsen verschlagen. Ich habe hier sehr nette Kolleginnen aus Ostfriesland und höre gern den Klang ihrer Sprache.
    Bis 1989 kannte ich niemanden aus dem Westen Deutschlands näher, hatte keinerlei Westverwandtschaft.
    Das Frühjahr 1989 verbrachte ich in der Sowjetunion, als das ganze Land im Zusammenhang mit der ersten frei gewählten Volksversammlung im Aufruhr war und bisher unerhörte Dinge zur Sprache kamen. Schriftsteller ließen sich in diesem Frühjahr der Hoffnung vernehmen, wie nicht zuvor und nicht später.
    Der 4. November 1989 war für mich ein ganz großer, beeindruckender Tag. Ich kam gerade in Berlin zu dem Zeitpunkt auf den Alexanderplatz, wo sich an die 600.000 Menschen erstmals versammelt hatten, um die Paragraphen in der DDR-Verfassung über Rede-, Presse- und Versammlungsfreiheit einzuklagen, als Stefan Heym ausrief:


    "es ist, als habe einer die Fenster aufgestoßen nach all den Jahren der Stagnation, der geistigen, wirtschaftlichen, politischen, den Jahren von Dumpfheit und Mief, von Phrasengedresch und bürokratischer Willkür, von amtlicher Blindheit und Taubheit."
    ...
    "In der Zeit, die hoffentlich jetzt zu Ende ist, wie oft kamen da die Menschen zu mir mit ihren Klagen. Dem war Unrecht geschehen, und der war unterdrückt und geschurigelt worden. Und allesamt waren sie frustriert. Und ich sagte: So tut doch etwas! Und sie sagten resigniert: Wir können doch nichts tun. Und das ging so in dieser Republik, bis es nicht mehr ging."


    "Wir haben in diesen letzten Wochen unsere Sprachlosigkeit überwunden und sind jetzt dabei, den aufrechten Gang zu erlernen. Und das, Freunde, in Deutschland, wo bisher sämtliche Revolutionen danebengegangen, und wo die Leute immer gekuscht haben, unter dem Kaiser, unter den Nazis, und später auch. Aber sprechen, frei sprechen, gehen, aufrecht gehen, das ist nicht genug. Laßt uns auch lernen zu regieren. " ... "Alle müssen teilhaben an dieser Macht.Und wer immer sie ausübt und wo immer, muß unterworfen sein der Kontrolle der Bürger, denn Macht korrumpiert. Und absolute Macht, das können wir heute noch sehen, korrumpiert absolut. "


    http://www.dhm.de/ausstellungen/4november1989/htmrede.html


    1793 hatte sich Georg Forster in Mainz eine Deutsche Demokratische Republik erhofft. Der Staat, der diesen Namen trug, konnte es nicht sein. Für ein paar Tage hatten wir um den 4. November das Gefühl, als könne es dennoch möglich sein, etwas Neues zu schaffen.


    Bekanntermaßen kam es 1990 ganz anders, als es sich die meisten vorstellen konnten. Es eröffneten sich neue Räume. Zugleich wurde sichtbar, dass wir uns in einem in vielem völlig fremden Staatswesen wiederfanden.
    Das waren einige Erinnerungen.


    Liebe Grüße


    Karamzin



    Ich verstehe jetzt nicht ganz, was Du damit meinst. Ich gehöre tendenziell zur ersten Gruppe. Und ich mag den stillen Koloss mit seiner ungeheuren Wucht - den "Nachsommer" lese ich so alle 3-5 Jahre mal wieder ... :winken:


    Ich war da bei meiner Einteilung zu oberflächlich. Du kannst an den "Nachsommer" mit wachem Auge, analytisch herangehen, seine Stärken und Schwächen zeigen, und Dich zugleich immer wieder auf die Sprachgewalt einlassen.