Beiträge von Karamzin

    Nur Joseph Haydn, Johann Christian Bach und dessen Vater Johann Sebastian werden niemals durch den Kakao gezogen.


    ....


    Seine Musik verkörpert keine Gefühle, keine Ideen oder gar Ideale; sie ist pure Mechanik, tönende Mathematik und damit letztlich inhuman, was ich nicht mit unmenschlich, sondern übermenschlich übersetze.



    Dieser Respekt für die drei Komponisten entspräche also etwa auch der Verehrung Beethovens nur noch für Haydn und Mozart. Heute ist nur schwer verständlich, dass der Mailänder bzw. Londoner Bach, Johann Christian, bei den Zeitgenossen bekannter war als sein Vater.


    Inzwischen scheint so etwas wie eine Johann-Christian-Bach-Renaissance eingesetzt zu haben; man kann jetzt mehrere Einspielungen seiner Konzerte erwerben.


    ::::



    Hmm, also das mit der vorwiegend umgesetzten Mathematik und Mechanik und den fehlenden Gefühlen und Ideen leuchtet einem musikinteressierten Laien wie mir aber nur schwer ein.
    Der Kenner mag wissen, wie es gemeint ist.
    Wenn das keine Gefühle sein sollen: Wie sehnsuchtsvoll schmachtend hört sich die "Rosenarie" im "Figaro" an! Der tugendhafte Sarastro wiederum entfaltet in seinen Arien das freimaurerische Programm der josephinischen Aufklärung, wenn das keine Gestaltung von Ideen ist!


    Vielleicht meint Einstein nur die reine Orchestermusik
    :confused:

    Für mich ist das die erste Leserunde. Im Moment scheint es nicht viel zu sagen zu geben.



    Liegt es allgemein an der Sommer-Wetter-Hitze- und Urlaubszeit?



    Liegt es daran, dass dieses kleine Kunstwerk schon recht bald, im Verlauf weniger Stunden gelesen ist?


    Findet man es ein wenig mühsam und in Folge nur wenig ergiebig, all den Anspielungen und Details bei Fontane nachzugehen?


    Fühlt sich der eine mit Andreas Degen in seiner These bestätigt, wonach sich bei einigen weiblichen Gestalten Prostitution nachweisen lässt, während der andere dem nicht weiter nachgehen will? :zwinker:


    (das ist der, der sich sowieso eher ungern auf kontroverse Diskussionen einlässt und lieber die Dinge auf sich beruhen lässt, wenn er nichts weiter beisteuern kann, was natürlich nicht gerade zu einer prickelnden Diskussion führt :breitgrins:)

    Hallo Sandhofer,


    meinen ersten Zugang zu Barthold Heinrich Brockes (1680-1747) gewann ich über die Musikgeschichte.


    Georg Friedrich Händel hatte mehrere seiner Naturgedichte aus dem "Irdischen Vergnügen in Gott" in deutschen Arien vertont, die ich mir Anfang der 1970er Jahre auf einer Schallplatten-Aufnahme zulegte; später, als der Plattenspieler kaputt ging, war es eine CD.


    Das Muster war in all diesen Gedichten und Arien das Gleiche: Die Vielfalt der belebten Natur beweist die Güte und Vollkommenheit des Schöpfers. Da gibt es eine Arie über das Zittern der spielenden Wellen und ein, wie ich finde, wunderschönes Lied über die Abendstille.


    Brockes übersetzte das zu seiner Zeit überaus populäre Blankvers-Poem "The Seasons" (1726-1730) des schottischen Geistlichen James Thomson (1700-1748), mit Wirkungen auf Rousseau, Lessing und Wieland, ins Deutsche; in Malerei wurde es umgesetzt von Gainsborough, in dem das Erhabene und Schreckliche in der Natur gepriesen wird. Der Held meines Nicknames, Nikolaj Karamzin, übertrug die "Jahreszeiten" Thomsons schon 18/19jährig ins Russische, allerdings direkt aus dem Englischen, das er als einer von wenigen Russen beherrschte.


    Ich habe hier eine zweisprachige, kommentierte Ausgabe liegen, bei der ich allerdings blättern muss, da das englischsprachige Original hinter der deutschen Übersetzung abgedruckt ist:
    Wolfgang Schlüter: James Thomson Die Jahreszeiten. The Seasons. Weil am Rhein/Basel 2003.


    (In der DDR lernten wir Englisch mit wenig Hoffnung, bald mal auf einen lebenden Engländer oder Amerikaner zu stoßen. Wenn man den Klang hören wollte, hörte man sich heimlich einen Gottesdienst der britischen Streitkräfte an. Ich habe aber nie verstanden, wieso Englisch eine "leichte Sprache" sein soll, nur weil sie dem Deutschen verwandt sei. Die Engländer haben z. B. ein ganz anderes Zeitgefühl. Russisch war für mich leichter zu erlernen als Englisch - und ich benötige hier bei Thomson eben eine zweisprachige Ausgabe, um die Feinheiten mitzubekommen.)



    Arno Schmidts "Nachrichten von Büchern und Menschen", in denen Brockes am Beginn vorgenommen wird, habe ich erst später in die Hand genommen. Das Hauptverdienst bestand sicher darin, auf halb oder gänzlich vergessene Autoren aufmerksam gemacht zu haben, und ich gestehe, mich ziemlich amüsiert zu haben über Schmidts Schilderung der veränderten Wirkung des ebenfalls in Hamburg Verse schmiedenden Klopstock. Man hatte den "Messias" Klopstocks in der Öffentlichkeit, bei Lesungen in Salons, nur mit gehöriger Andacht vor der Erhabenheit dieses Kunstwerks aufzunehmen, so gebot es die empfindsame Konvention. Nur in Privatbriefen und hinter vorgehaltener Hand konnte man mitteilen, was das für ein ermüdender Schrott sei. Klopstock merkte nicht mehr bei seinen zahlreichen Überarbeitungen des "Messias", dass er sich selbst überlebt hatte. Für Brockes mochte das auch zutreffen, nur war er da bereits verstorben.
    Ich gestehe, dass ich beim "Messias" auch kapituliert habe. Die durch den Kosmos rauschenden alttestamentarischen Engel konnten mich nicht begeistern.


    Für Brockes trifft das allerdings nicht zu! Da versenkte ich mich gern in die liebevoll ausgemalten Details.


    Ob jemand Zugang zu Brockes findet, der gewohnt ist, Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts zu konsumieren?


    Und nun bin ich ebenfalls gespannt auf die neue Ausgabe des schröcklichen Bethlehemitischen Kindermordes und anderer Schriften im Wallstein Verlag, dessen gediegene Ausgaben sehr zu schätzen sind.

    An zwei Stellen in "Stine" berichtet Fontane mit seiner Liebe zum Detail von einem Spiegel.


    Am Fenster der Wohnung Stines war ein "Dreh- und Straßenspiegel" angebracht, der bei einem Besuch Paulines "eine Quelle herzlichen Vergnügens für die hübsche Witwe wurde, nicht aus Eitelkeit (denn sie sah sich gar nicht), sondern aus bloßer Neugier und Spielerei".


    Mit Hilfe des Spiegels konnte man sehen, was auf der Straße geschah und wer dort entlang lief, ohne gesehen zu werden und ohne sich selbst zu betrachten.


    Später sah Waldemar "in dem Fensterspiegel, wie, die ganze Straße hinunter, die Gaslaternen aufflammten".
    Dazu bemerkte die Bewohnerin: "'Ich sehe', sagte Stine, 'der Spiegel tut es Ihnen auch an. Ich weiß das schon; es ist immer dasselbe.' Der junge Graf nickte."


    Es ist immer dasselbe, in diesen Spiegel zu schauen, ist schon eine Gewohnheit Paulines gewesen und jetzt auch die des jungen Grafen.
    In den Worten Stines kommt Fatalismus zum Vorschein.


    Als Waldemar im Anschluß Stine fragt, ob er wiederkommen dürfe, meinte sie, dass es besser wäre, er komme nicht. Hindern könne sie ihn freilich nicht. Sie müsse gegenüber ihrer Schwester Rücksichten nehmen.
    Das Verhängnis, in das sich Waldemar und Stine treiben lassen, nimmt seinen Lauf.

    Ich halte die Bezeichnung „überflüssiger Mensch“ für gefährlich und möchte sie schon überhaupt nicht auf Waldemar anwenden.


    Selbstverständlich ist kein Mensch überflüssig. Diese Bezeichnung für einen literarischen Typ hat sich in bezug auf die russische Literatur eingebürgert. Diese Adligen fühlen sich als nirgendwo so richtig angekommen und finden kein ihren Fähigkeiten angemessenes Betätigungsfeld. Solche literarischen Figuren einzuführen, ist auch Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen, die nicht nur nicht zulassen, dass die Leibeigenen ihre Köpfe erheben, sondern auch Teile des Adels zur Untätigkeit veranlassen, wenn sie sich nicht auf das Geschäft des Totschießens einlassen oder Unternehmer werden.


    Auch in den Romanen des mit Fontane fast gleichaltrigen Ivan Turgenev (1818-1883) kommen sie vor. Bei den Adelsnestern Turgenevs und den brandenburgischen Adelssitzen Fontanes bin ich immer wieder auf viele Gemeinsamkeiten gestoßen; die beiden Schriftsteller haben einander ja auch wahrgenommen.


    Noch zur "gefallenen Frau": Damit meine ich auch nur eine den damaligen Moralvorstellungen entsprechende Erscheinung, die in die Literatur Eingang gefunden hat; kann sein, dass ich mich mehr in den Zeiten vor der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts herumtreibe, in der solche Bezeichnungen anzutreffen waren.

    Durch die Begegnung mit Stine wird sich Waldemar bewusst, dass ihm in seinem bisherigen Leben Wesentliches fehlte. Ein Predigtamtskandidat traktierte ihn mit Gesangbuchliedern und Bibelsprüchen. Im Regiment habe er sich erst wohlgefühlt, wo nach einem langweiligen Garnisons-Alltag auf einmal Fertigkeiten im Töten gefragt waren.


    Stine hingegen habe ihn gelehrt, dass die Großstadt nicht nur ein Sünden-Babel sei, wie man auf den Gutshöfen der adligen Familien annahm, sondern die sogenannten "einfachen" Menschen unter den Städtern, die sich in ihre bescheidenen Verhältnisse gefunden haben, harmlosen Vergnügungen in naturnaher Umgebung nachgehen.


    In der klassischen russischen Literatur des 19. Jahrhunderts gab es den Typ des "überflüssigen Menschen", eines Adligen mit guten Anlagen, aber ohne eine angemessene Betätigung, in verschiedenen Varianten: bei Puschkin und Herzen halten sie große Reden, bei Lermontow sind sie gleich bereit, sich zu duellieren oder sich im Kaukasus in Kriegsabenteuer zu stürzen, um eine feurige Tscherkessin zu erobern, der gutmütige Oblomow dämmert auf seinem Diwan dahin, während sein tüchtiger, als Romangestalt blaß bleibender Freund Stolz kapitalbringende Geschäftigkeit entfaltet ...


    Waldemar wirkt wie eine preußische Variante dieses Adelstyps eines "überflüssigen Menschen".

    Hallo,


    "Sie wollen sicher zu meiner Schwester" - diesen Ausruf Stines würde ich nicht so interpretieren, als sei Prostitution im Spiel. Waldemar ist ihr ja nicht unbekannt, sein erster Besuch bei Stine ist eine Fortsetzung seiner Teilnahme an dem feuchtfröhlichen Abend bei Pauline.


    Stine möchte bloß keine Fortsetzung des Spieles mit heiklen Andeutungen und losen Scherzen, wie es der alte Graf betrieben hatte. Während der Feier bei Pauline haben die beiden jungen Leute sicher schon voneinander mitbekommen, dass sie im Vergleich zu den anderen eher zurückhaltend sind. Im weiteren Verlauf des ersten Gesprächs unter vier Augen fasst Stine denn auch zunehmend Vertrauen zu dem jungen Grafen und teilt ihm mit, wie kritisch sie das von dem alten Grafen und dem Baron betriebene Gehabe beurteilt, ohne ihre Schwester zu belasten.


    Dass Fontane Probleme mit den Sittenrichtern in der Presse bekam, liegt m. E. eher in der Behandlung gesellschaftlich relevanter Themen. In "Stine" ist es die Kritik am Standesdünkel des Adels, der immer noch als eine staatstragende Schicht in Preußen galt, in anderen Romanen die Versorgungsinstitution Ehe, gegen deren Regeln zu verstoßen, gesellschaftliche Ächtung und unmenschlichen Einfluss auf die Eltern-Kind-Beziehungen nach sich zog.


    Wenn es auch entsprechende Indizien geben mag, wäre ich vorsichtiger bei einer Interpretation, die Prostitution bei weiblichen Gestalten des Romans nahelegt, bei Pauline und auch Wanda, die nicht der Vorstellung von einer "gefallenen Frau" entsprechen. Es sind nach meinem Verständnis auf verschiedene Weise emanzipierte Frauen, die sich moralinsaurer Vorhaltungen adliger Lebemänner erwehren, die ihre angesichts des Fehlens von Ehemännern ungesicherte soziale Lage ausnutzen.


    Und noch:


    Stine als "schwärmerisch und empfindsam" zu charakterisieren - ich weiß nicht so recht, wenngleich ich ja auch selbst auf eine Stelle hingewiesen habe, aus der Stines Empfindungsfähigkeit angesichts freier Natur hervorgeht.


    Ihr Alltag in einer Stube, in der sie vorwiegend mit Textilarbeiten beschäftigt ist, bedeutet schon ein beschränktes und durch die Umstände abgeschlossenes Dasein mit seltenen Gelegenheiten, das Milieu zu verlassen. Diese Umgebung wirkt ernüchternd.


    Was auf jeden Fall auffällig ist, dass sie abwartet, was wohl als nächstes von Waldemar kommen mag. Das entsprach so ziemlich der Rollenverteilung jener Zeit bei der Anbahnung eines Verhältnisses. Von ihr kommen keine Vorschläge. Wenngleich sie sichtlich die Idylle genießt, ahnt sie jedoch, dass dieses stille und bescheidene Glück nicht von langer Dauer sein würde.
    Ganz anders etwa die aktive Melanie aus "L'Adultera", die nicht in solchen bedrückten Verhältnissen aufgewachsen ist und großes Selbstbewußtsein entwickeln konnte.


    Hallo, Erika,


    in dem von Dir zitierten Ausspruch Paulines zeigt sich abermals, dass Fontane Paradoxien mag.


    Oben hieß es schon:


    Stine:


    "... ich will mich lieber mein Leben lang quälen und im Spital sterben als jeden Tag alte Herren um sich haben, bloß um Unanständigkeiten mit anhören zu müssen oder Anzüglichkeiten und Scherze, die vielleicht noch schlimmer sind."


    Jetzt Pauline:


    " .. un die Schwächlichen sind immer so un richten mehr Schaden an als die Dollen."



    Man fragt sich: Stimmt denn das, dass die kleinen Anzüglichkeiten und Scherze schlimmer sind als die Unanständigkeiten?


    Und dass die Schwächlichen mehr Schaden anrichten, als die Dollen?


    Der Leser hat jedenfalls erst einmal Stoff zum Nachdenken.


    Diese Sprüche charakterisieren, glaube ich, auch einen Zug der eingeborenen Berliner: die Vorliebe für flotte paradoxe Bemerkungen, die nicht einmal stimmen müssen, aber jedenfalls wie aus der Pistole geschossen daherkommen.


    Grüße


    Karamzin


    Brockes: Der Bethlehemitische Kindermord.


    Von B. H. Brockes kannte ich bisher nur das "Irdische Vergnügen in Gott", das die Grundlage für einige Arien von G. F. Händel bildete, und in dem die Betrachtung von Pflanzen und des Treibens der Tiere dazu dienten, die Weisheit und Vielfalt der Schöpfung vor Augen zu führen (Physikotheologie), sowie seine Übertragung der "Seasons" von James Thomson.


    Die in dieser neuen Ausgabe vereinigten Werke kenne ich noch nicht. Während die Naturbetrachtungen einen heiter gestimmten Brockes zeigen, deuten Themen wie der "Bethlehemitische Kindermord" darauf hin, dass der Dichter auch düstere und schreckliche Themen aufgreift.
    Um diesen Thread mit der Vorstellung aktueller Lektüre nicht zu sehr zu unterbrechen: Möchtest Du später vielleicht einen gesonderten Thread zu B. H. Brockes eröffnen?


    Im 9. Kapitel erzählt Stine dem jungen Grafen von den Landpartien die ihr Arbeitgeber im Sommer zum Vergnügen der Belegschaft organisierte. Und einmal


    [i]Da wär' ein Dampfschiff gemietet worden, und die ganze Spree hinauf, an Treptow und Stralow und dann an Schloß Köpenick und Grünau vorüber, wären sie bis in die Einsamkeit gefahren, bis an eine Stelle, wo nur ein einziges Haus mit einem hohen Schilfdach dicht am Ufer gestanden habe. Da wären sie gelandet und hätten Reifen gespielt. Ihr aber sei das Herz so zum Zerspringen voll gewesen, daß sie nicht habe mitspielen können, wenigstens nicht gleich, weshalb sie sich unter eine neben dem Hause stehende Buche gesetzt und durch die herabhängenden Zweige wohl eine Stunde lang auf den Fluß und eine drüben ganz in Ampfer und Ranunkeln stehende Wiese geblickt habe, mit einem schwarzen Waldstreifen dahinter. Und es sei so still und einsam gewesen, wie sie gar nicht gedacht, daß Gottes Erde sein könne. Nur ein Fisch sei mitunter aufgesprungen und ein Reiher über die Wasserfläche hingeflogen. Und als sie sich satt gesehen an der Einsamkeit, habe sie die andern wieder aufgesucht und mit ihnen gespielt; und sie höre noch das Lachen und sähe noch, wie die Reifen in der Sonne geblitzt hätten.


    Der Ort wird hier zwar nur beschrieben und nicht benannt aber ich denke doch, dass die Teilnehmer der Leserunde „Irrungen, Wirrungen“ hier sofort Henkels Ablage erkannt haben. Fontane geht also anscheinend davon aus, dass wer „Stine“ liest, auch seine „Irrungen, Wirrungen“ gelesen hat.


    In dieser Schilderung ist nun über Stine zu lesen:


    "Ihr aber sei das Herz so zum Zerspringen voll gewesen ..."


    Wovon? Ist es der Eindruck von noch relativ unberührter Natur?


    Wieder war es um sie herum "still und einsam". Fontane erzeugt eine Atmosphäre der "Stille". Die Hauptheldin Stine und Waldemar mögen die Stille, die sie innerlich bereichert, im Kontrast zur Hektik der sie umgebenden Großstadt.


    (Mit meiner von einigen hier geteilten Leidenschaft für Adalbert Stifters "Nachsommer" muss ich an Natalies einsame Ausflüge denken, die ihr außerordentlich wichtig sind.)


    Hallo montaigne,


    seit einigen Wochen wimmelt es hier geradezu von Fontane-Threads! :zwinker:


    Ohne Deinen Beitrag hier gesehen zu haben, brachte ich in der Leserunde zu "Stine" ein Beispiel aus diesem interessanten und gut gestalteten, auch preiswerten Buch: zum Abschnitt über die Gegend um das 1951 abgerissene "Amazonendenkmal" (S. 81).


    Grüsse


    Karamzin

    Hallo Karamzin,


    dem möchte ich gern hinzufügen, dass ich das Buch nur unter Fontane-Gesichtspunkten gelesen habe und meinen Betrag auch nur diesbezüglich verfasst habe. Ich habe die Biographie günstig gebraucht kaufen können und eine Recherche über den Autor kam dabei nicht in Frage. Mein "wunderbare Ergänzung zu den Romanen" bezieht sich auf Fontane und seine Zeit, den Autor habe ich damit nicht bewerten wollen. Danke jedoch für deinen Hinweis.


    Gruß
    Eni


    Hallo Eni,


    das habe ich auch gedacht, dass es sich genauso abgespielt hat, wie Du schreibst!
    Mir ist es gleich zweimal passiert: ich bestellte mir seine Adalbert-Stifter-Biographie wie seine Studie über den Berliner Verleger Friedrich Nicolai - beiden Büchern merkt man nicht an, wie ihr Autor in politischer Hinsicht tickt.


    Es gibt auch Bücher, bei denen es andersherum ist: bei Eduard Winter "Tausend Jahre Geisteskampf im Sudetenraum" (1938) und bei Herbert Schöffler "Deutscher Geist im deutschen Osten" (1940) und den Erscheinungsjahren denkt man, nationalsozialistische Ergüsse vorzufinden.


    - Keine Zeile davon in diesem Sinne! Eduard Winter setzte sich für tschechische Widerstandskämpfer ein, und Herbert Schöffler, der hier eine Literaturgeschichte des Barock in Schlesien vorlegte, war sogar ein ausgesprochener Gegner des NS-Regimes. Man könnte annehmen, dass die Titel Tarnung waren, um die Aufmerksamkeit der Zensoren einzuschläfern.


    Gruss


    Karamzin

    Nachdem schon gleich zu Beginn drei Leichenzüge Düsteres ankündigten, folgt eine weitere "Leidensankündigung". Waldemar schaut auf den ganz in der Nähe von Stines Wohnung zur Erinnerung an den Untergang der Segelkorvette "Amazon" errichteten Obelisken. Mehr als einhundert junge Matrosen fanden dabei im Jahr 1861 den Tod.


    Der junge Graf läßt sich von Stine die Bedeutung des Denkmals erklären.


    "'Ja', sagte der junge Graf, 'ich entsinne mich, lauter junge Leute.' Dann schwieg er wieder, und der Ton, in dem er gesprochen hatte, klang fast, wie wenn er sie mehr beneide als beklage."


    Waldemar war im Krieg gegen die Franzosen 1870 schwer verwundet worden. Fünf Jahre, heißt es an einer anderen Stelle, habe er in Italien gelebt und sich dort mit der Kunst vertraut gemacht.
    Unter den Kunstwerken, die er betrachtete, wird es zahlreiche gegeben haben, die an den Tod gemahnten.
    Aus der schwermütigen Rede des jungen Grafen könnte man so etwas wie Todessehnsucht heraushören. Dabei steht neben ihm eine Verkörperung des Lebens. Stine könnte wieder neues Leben hervorbringen.



    Das "Amazonendenkmal" wurde 1951 auf Geheiß der Berliner SED-Organisation abgerissen, also schon zehn Jahre vor dem Mauerbau.
    Es ist zu vermuten, dass es den Genossen als Symbol des "preußischen Militarismus" galt, das man beseitigen wollte, um den alten "Ungeist" auszutreiben. Dieser Absicht fiel auch das Berliner Stadtschloß zum Opfer.


    Auf einem gegenwärtigen Luftbild, das in Seilers Buch über Fontanes Berlin auf S. 81 abgebildet ist, sieht man an der Stelle, an der das Denkmal stand, einen freien Platz, dahinter die Bundesministerien für Wirtschaft und Verkehr. Das war bis 1989 alles unmittelbares Grenzgebiet. Von Stines Haus aus konnte man noch vielleicht etwa hundert Meter in Richtung Westen gehen, dann kamen Mauer und Grenzübergang. Es war ratsam, sich schon eine handfeste Begründung zurechtzulegen, wenn man sich scheinbar ziellos in dieser Gegend aufhielt. Allein das "Amazonendenkmal" suchen zu wollen, galt nicht als Begründung und machte den Spaziergänger nur verdächtig.


    http://www.hdg.de/lemo/objekte…nvalidenstrasse/index.jpg


    Hallo Katrin,


    ich kann das verstehen. Es würde mir bei anderen Büchern, zu denen hier Leserunden durchgeführt werden, wahrscheinlich ebenso gehen.


    Vielleicht liest Du weiter mit und wir treffen uns bei der Lektüre eines anderen Buches wieder.


    Grüße von


    Karamzin


    Hallo Eni,


    zur Bewertung des Autors Gustav Sichelschmidt sollte man sich einmal seinen Lebenslauf zu Gemüte führen, der sehr nachdenklich stimmen dürfte:


    http://de.wikipedia.org/wiki/Gustav_Sichelschmidt


    Gruß
    Karamzin

    montaigne hat dankenswerterweise unter den "Leserunden-Materialien" den Link zu einem Artikel gebracht, in dem versucht wird, die literarische Figur der Witwe Pittelkow mit der unehelichen Geburt eines von Fontane gezeugten Kindes in Verbindung zu bringen:


    http://www.uni-bielefeld.de/li…e/fontane/uebersicht.html


    Vieles ist darin nachdenkenswert; bei etlichen Deutungen als mögliche Indizien ist man freilich auf Vermutungen angewiesen.


    "Und schließlich ist auch noch an die sehr detaillierte Beschreibung ihrer Wohnung zu denken, für die zumal ein altes Ölporträt, das einen "polnischen oder litauischen Bischof" zeigt, und zwei "jämmerliche Gipsfiguren", eine Polin und ein Pole in Nationaltracht, als ungewöhnlich ins Auge fallen.35) Als Zeugnisse polnischer Nationalkultur passen beide Stücke nämlich weit besser in das einst mit der polnischen Krone verbundene Sachsen als in das strikt protestantische und antipolnische Berlin, wo sie zu Zeiten des Kulturkampfes fast schon Protestsignale gewesen wären."


    Diese Passage, die ich zum Zeitpunkt meines kleinen Ausfluges in den Bereich der Polen-Motive noch nicht kannte, überzeugt mich jedoch nicht so recht.
    Zum einen ist der Hinweis auf die sächsisch-polnische Personalunion 1697-1763 unter den beiden August aus dem Hause Wettin (und der Regentschaft König Friedrich Augusts I. von 1807 bis 1812 im Großherzogtum Warschau, könnte man hinzufügen) im Zusammenhang mit dem Dresdener Wohnort der möglichen Kindesmutter zu weit hergeholt.


    Zum anderen sind die Romane Fontanes voller Hinweise auf die gerade in Berlin verbreitete Polenfreundschaft, auch wenn sie, wie "Schach von Wuthenow" im Jahr 1806 oder "Vor dem Sturm" 1808 spielen. Der konfessionelle Aspekt war hier nachgeordnet, entscheidend dürften vielmehr die Freiheitsliebe der polnischen Aufständischen, die sich in Holteis "Altem Feldherrn" niederschlug, die gemeinsame Sehnsucht nach einem einigen Nationalstaat und die demokratische anti-absolutistische Haltung gewesen sein.


    Es gibt auch einen gedruckten Ausstellungskatalog:


    (als mittel-älterer Uhu = unter Hundert, orientiere ich mich vergleichsweise eher vorwiegend an Büchern, als im Internet)


    http://www.verein-museum-europ…n.de/fih-beschreibung.htm

    Das Erscheinen Waldemars beunruhigt Stine. Zunächst versucht sie ihm klarzumachen, dass sie sich entsprechend den Moralvorstellungen ihrer Zeit "gut hält":


    "... aber ich bin ein ordentliches Mädchen".


    (Vielleicht kommt auch jemandem Goethes Gedicht "Vor Gericht" in den Sinn, in dem die Angeklagte betont, dass sie dennoch "ein anständiges Mädchen" sei.)


    Wenige Sekunden darauf vergleicht sie die ihr verbleibenden Möglichkeiten mit der Situation Paulines, und redet damit höchstwahrscheinlich zum ersten Mal mit einem Menschen darüber, den sie noch gar nicht richtig kennen kann, zu dem sie jedoch Zutrauen gefasst hat:


    "... ich will mich lieber mein Leben lang quälen und im Spital sterben als jeden Tag alte Herren um sich haben, bloß um Unanständigkeiten mit anhören zu müssen oder Anzüglichkeiten und Scherze, die vielleicht noch schlimmer sind."


    Verräterisch für die zunehmende Gereiztheit Stines ist dieses "jeden Tag", das ja nun so auf Paulines Lebenswandel nicht zutrifft. Einem solchen angenommenen "Alltag" hat sie nur ein ganzes übriges Leben in Qual als Alternative entgegenzusetzen.


    Die Anzüglichkeiten und Scherze in dem "Zauberflöten"-Spiel waren von seiten des alten Grafen zum Teil nur barer moralisierender Unsinn, der mit dem humanistischen Gehalt der "Zauberflöte" gar nichts zu tun hatte. Pauline ärgerte sich, dass sie die Anspielungen nur halb verstand, die sie auf sich und ihre Lebenslage bezog. Wanda hingegen legte moralischen Protest gegen einen Mißbrauch der "Zauberflöte" durch den alten Grafen ein, die für Unfug herhalten sollte (Wanda, die "an ganz unmotivierten Anstands- und Tugendrückfällen" zu leiden schien).


    In diese Richtung geht die Deutung in:


    Thomas Grimann: text und prätext. Intertextuelle Bezüge in Theodor Fontanes "Stine". Würzburg 2001, S. 66.