Beiträge von riff-raff

    Hallo Anita und Gontscharow :winken:


    Herzlichen Dank für eure Hinweise ...


    Ich glaube, bei den von Camus zitierten "Schlüsselworten" und den "letzten Worten" handelt es sich um zwei verschiedene Stellen. Die letzen Worte , auf einen Zettel gekritzelt, lauten auch in meiner Ausgabe( Übersetzung Marianne Kegel) : Niemand beschuldigen, ich selber tat es . Die von Camus zitierten Schlüsselworte sind aus dem Brief Stawrogins an Darja Pawlowna, in dem er sie halbherzig bittet mit ihm in die Schweiz zu gehen und versucht, seine Befindlichkeiten zu schildern. In meiner Übersetzung:“ Allerdings habe ich hier weniger gern gelebt als anderswo, habe aber auch hier gegen nichts Hass empfinden können.“


    Ich denke, dass damit das Rätsel gelöst ist. Da Camus explizit "Abschiedsbrief" sagt, bin ich davon ausgegangen, er meine den bei Stawrogins Selbstmord aufgefundenen Brief ... - Schön, dass es so aufmerksame Leser gibt, die einem weiterhelfen können :klatschen:


    Gruss


    riff-raff

    Hallo zusammen!


    Jetzt da die meisten mit dem Buch durch sind, möchte ich gerne eine Frage loswerden ... - Im Mythos von Sisyphos schreibt Camus, dass sich das Schlüsselwort zur Figur des Stawrogin in seinem Abschiedsbrief findet:


    Ich habe nichts verabscheuen können.


    Camus deutet diesen Satz dahingehend, dass Stawrogin "Zar in der Gleichgültigkeit" sei. Bei meiner Übersetzung von Swetlana Geier lauten Stawrogins letzte Zeilen aber:


    Niemand beschuldigen, ich selbst.


    Ich nehme an, Camus hat Dostojewski in einer französischen Übersetzung gelesen und ich selbst lese eine deutsche Übersetzung, aber die beiden Sätze unterscheiden sich so drastisch voneinander, dass man diese Diskrepanz doch kaum auf die verschiedenen Übersetzungen zurückführen kann, oder? Wie kommt also Camus zu seinem Satz, der durch Anführungs- und Schlusszeichen klar als Zitat markiert ist, und so schön zu seiner Theorie passt? Zitiert Camus hier lediglich aus der Erinnerung und schiesst deshalb so weit übers Ziel hinaus oder ist die französische Übersetzung, die er verwendet hat, tatsächlich so verschieden von der deutschen? Wie lautet die entsprechende Stelle im Original?


    Das ist halt das Kreuz mit Übersetzungen ... - Da man nicht alle Sprachen beherrschen kann, ist man wohl oder übel auf sie angewiesen, bleibt aber letztendlich stets im Unklaren, wie akkurat sie das Original wiedergeben.


    Gruss


    riff-raff


    PS: In einer Online-Übersetzung von den Dämonenaus dem Jahre 1924 (Übersetzer ist leider nicht angegeben und der Titel des Romans heisst hier Die Teufel) lautet Stawrogins kurzer Abschiedsbrief ebenfalls: Es soll niemand beschuldigt werden; ich habe es selbst getan.

    Hallo zusammen :winken:



    Im Internet soll ein Essay von Hannah Arendt über die Dämonen zugänglich sein. Was diese Kennerin des politischen Totalitarismus über den Roman zu sagen hat, würde mich schon sehr interessieren. Weiß jemand mehr?


    Danke für den Tipp Gontscharow! Bin tatsächlich auch fündig geworden: Library of Congress Einfach auf "Search by Keyword" klicken und im Suchfeld possessed eingeben, dann erscheinen die Scans zu Hannah Arendts Notizen bezüglich den Dämonen. Es handelt sich um vier mit Schreibmaschine getippte Seiten, anscheinend Notizen zu einer Vorlesung, samt Rechtschreibefehlern, Korrekturen und handschriftlichen Einfügungen.


    Laut Arendt kann jedes literarische Meisterwerk auf verschiedenen Ebenen gelesen werden:


    Ebene 1: Wirklichkeitsebene
    Die Handlung des Romans ist (immer laut Arendt) der Wirklichkeit entnommen. Genauso die Charaktere: Pjotr Stepanowitsch entspricht einem gewissen Nekaev, sein Vater stellt eine Mischung aus Granowsky und Kukolnik dar, Schigaljow soll Tkachev nachempfunden sein und Schatow wird mit Dostojewski gleichgestellt (eine ziemlich gewagte Unterstellung, wie ich finde).


    2. Ebene: Gesellschaft
    Der Roman stellt die zu Dostojewskis Zeiten herrschenden Geistesströmungen dar, bietet aber auch eine prophetische Sicht auf Dinge, die noch kommen werden. So wird z. B. der aus dem Westen herüberschwappende Atheismus den Untergang der Zarenherrschaft herbeiführen: da der Zar seinen Herrschaftsanspruch direkt von Gottes Gnaden ableitet, verliert er seine Legitimität, wenn keiner mehr an Gott glaubt. Überhaupt hat der Glaube an Gott, mit seiner Angst vor der Hölle, die Menschen jahrhundertelang davon abgehalten Böses zu tun, aber der Atheismus eliminiert diese Angst: plötzlich ist alles erlaubt.
    Die Figur des Pjotr Stepanowitsch erinnert an Stalin: er vergisst nie eine Beleidigung. Aber auch der schrankenlose Despotismus eines Schigaljow deckt sich gut mit dem Charakter des Diktators. Zudem ist die Paranoia, die innerhalb der Fünfer-Gruppe herrscht - jeder überwacht und kontrolliert jeden - bezeichnend für die Stalinzeit.


    3. Dostojewskis Glaubensebene
    Die zentrale Fragestellung sämtlicher Romane Dostojewskis kreist weniger um die Frage, ob Gott existiert, als viel eher darum, ob der Mensch ohne Glaube überhaupt leben kann. Die Dämonen zeigt, was geschieht, wenn Menschen den Glauben an Gott verlieren. Wenn man Gott entfernt, dem der Mensch zu Gehorsam verpflichtet ist, bleibt immer noch der Mensch übrig mit seinem Bedürfnis einer höheren Sache zu dienen. Nur, dass er jetzt nicht mehr Gott dient, sondern irgendwelchen weltlichen Idealen. Was die russischen Ideologen von ihren westlichen Brüdern unterscheidet ist, dass sie über den wahren Glauben verfügen und deshalb umso gefährlicher werden, wenn sie diesen verlieren.
    Im Roman sind Pjotr Stepanowitsch und Stawrogin die einzigen, die von keiner Idee beherrscht werden; Pjotr will zwar Umsturz und Gewalt, aber nicht weil er an den Fortschritt glaubt, sondern aus reinem Zerstörungswillen und Stawrogin vermag sich in seiner grenzenlosen Gleichgültigkeit eh für nichts zu begeistern. Deshalb wird Stawrogin für Pjotr auch zu so was wie einem Idol: Das Gegenteil von gut ist nicht das Böse oder das Verbrechen, sondern schlicht Gleichgültigkeit.
    Angesichts der Erhabenheit eines Gottesglaubens erscheinen weltliche und politische Ideale hohl und leer (immer gemäss Dostojewski). Wäre es dann nicht besser, der Mensch halte weiterhin an Jesus Christus fest, auch wenn dieser letztendlich vielleicht nicht für die 'Wahrheit' steht?


    4. Ebene: Auswirkungen des Atheismus
    Was geschieht, wenn der Atheismus von Charakteren Besitz ergreift, die über alle Anlagen verfügten, um im Leben eine überdurchschnittliche Rolle zu spielen, wie z. B. Stawrogin und Kirillow? Antwort: "act gratuit" - eine Handlung, die völlig unmotiviert ist. Kirillows "Selbstwille" z. B. ist ein Wille, der durch nichts motiviert wird, ausser durch sich selbst. Kirillow und Stawrogin, das sind die beiden Figuren, die selbst Gott sein wollen, sei es aus Überheblichkeit oder Stolz.
    Absolute Freiheit bedeutet, absolute Vernichtung, weil der Mensch gezwungen ist, das zu zerstören, was ihn einengt und bindet (Gott, Natur etc.). Abgesehen von Gott ist es das Leben selbst, das einen mit seinen Naturgesetzen am meisten einengt und behindert. Woraus folgt: wer wirklich frei sein will, muss sich selbst zerstören. Dann ist er (vielleicht) zwar frei, aber leider tot :breitgrins:
    Der "act gratuit" ist eng verwandt mit Stawrogins Gleichgültigkeit. Da jede Faszination, jeder Enthusiasmus, jedes Interesse einen bindet, wird man unweigerlich zu dessen Sklaven. Man kann deshalb seine Freiheit auch durch vollkommene Gleichgültigkeit demonstrieren.


    5. Ebene: Romanstruktur
    Hier hebt Arendt unter anderem Dostojewskis Dialoge hervor, die ihr vorkommen, als würde eine nackte Seele zur anderen sprechen (sehr schön gesagt).


    Gruss


    riff-raff

    Hallo Anita,


    ich würde das extrem schade finden, wenn du dich aus der Leserunde ausklinkst. Ausser du hast beschlossen, das Buch nicht fertig zu lesen; habe selbst so manche Leserunde frühzeitig abgebrochen weil mich das Buch nicht besonders anmachte. Aber wenn du immer noch gewillt bist, weiterzulesen, sehe ich keinen Grund dazu. Bei mir ist es halt momentan so, dass ich mehr Zeit als üblich zum Lesen habe und deshalb mit dem Buch auch schon durch bin. In einer kommenden Leserunde werde ich dann aus rein zeittechnischen Gründen kein so hohes Tempo mehr anschlagen können. Ich wüsste auch nicht, wie man dieses Dilemma mit den unterschiedlichen Lesegeschwindigkeiten irgendwie lösen könnte, so dass alle auf ihre Kosten kommen. Aber meist gleicht es sich ja irgendwie aus, weil man ja nicht bei jeder Leserunde gleich viel Zeit aufwenden kann.


    Bitte überlege es dir doch noch einmal ... Ich würde mich jedenfalls freuen, dich weiterhin in der Runde zu sehen.


    Liebe Grüsse


    riff-raff

    Stawrogin erscheint mir wie ein 'unbewegter Beweger': nichts vermag ihn zu entflammen oder zu begeistern, aber die Menschen um ihn herum werde alle durch ihn beeinflusst und verändert. Eine Weile lang hat er sich anscheinend bemüht, den Glauben an Gott und Russland in sich zu entfachen. Vergeblich. Aber Sachow wurde dadurch vom Sozialisten zum überzeugten Slawophilen gewandelt (Sachow: "Ich war der Jünger und sie der Meister.") Als er Stawrogin seine eigenen Worte wieder in Erinnerung ruft und fragt, warum er sich jetzt davon lossage und ob das alles nur leeres Gerede gewesen sei, antwortet dieser:


    Ich habe Sie damals nicht zum besten gehalten; als ich Sie überzeugen wollte, geschah es vielleicht mehr um meinetwillen als um Ihretwegen.


    Und zur gleichen Zeit, als er Sachow "Gott und Heimat ins Herz pflanzte" - oder besser gesagt: in sein eigenes Herz zu pflanzen suchte -, zur selben Zeit spielt er auch mit dem entgegengesetzten Gedanken, macht aus Kirillow einen Atheisten und weckt in ihm den Gedanken an den "logischen Selbstmord" (Schatow: "Gehen Sie doch jetzt hin und sehen Sie ihn an, das ist Ihr Werk ...")


    Stawrogin probiert Lebensmöglichkeiten und Überzeugungen an wie Anzüge, stets auf der Suche nach etwas, das ihm passt und auf den Leib geschneidert ist. Aber sein Problem ist die Gleichgültigkeit ... Nicht die Gleichgültigkeit eines Kirillow, für den alles gleich gültig ist und somit wertvoll ist, sondern Gleichgültigkeit im Sinne von: alles lässt mich kalt, nichts gelingt es, mich zu beseelen oder zu begeistern.


    Vielleicht ist es die Leere Stawrogins, die ihn zur idealen Projektionsfläche für seine Umgebung macht. Pjotr Stepanowitsch sieht in ihm den idealen Anführer für seine politische Bewegung, wegen seiner "aussergewöhnlichen Befähigung zum Verbrechen":


    Sie sind genau der, den man braucht. Ich, ich brauche genau so einen wie Sie. Ich weiss keinen anderen ausser Ihnen. Sie sind der Führer, die Sonne [...].


    Alle erhoffen sich etwas von ihm alle hofieren und umschwirren ihn. Die Frauen sowieso ... - aber auch die Männer:


    Pjotr Stepanowitsch: Stawrogin, Sie sind ein schöner Mann. Ich bin ein Nihilist, aber ich liebe die Schönheit. Lieben Nihilisten die Schöhnheit etwa nicht? Nur Götzen lieben sie nicht, gut, aber ich liebe einen Götzen. Sie sind mein Götze. (Lese ich da etwas eine homoerotische Komponente heraus? ...)


    Schatow: Ich tat es [Ohrfeige], weil Sie so viel in meinem Leben bedeutet haben ...


    Stawrogin selbst scheint sich das am allerwenigsten erklären zu können:


    zu Schatow: Sie scheinen mich für eine Sonne zu halten und sich selbst im Vergleich mit mir für ein Insekt.


    zu Pjotr Stepanowitsch: Aber was wollen Sie mit mir? [...] Soll ich für Sie ein Talisman sein?


    Aber was nützt einem die Bewunderung der anderen, wenn man selbst nicht lieben kann (zu Schatow: "Ich bedaure, dass ich Sie nicht lieben kann.").


    Wenn er doch wenigsten kalt wäre wie Kirillow oder heiss wie Schatow ... Aber Stawrogin ist keins von beidem und deshalb steht ihm die Stelle aus der Apokalypse immer so schmerzhaft vor Augen:


    Ich weiss deine Werke, dass du weder kalt noch warm bist. Ach, dass du kalt oder warm wärest! Weil du aber lau bist und weder kalt noch warm, werde ich dich ausspeien aus meinem Munde.

    'Stawrogins Beichte' (zweiter Teil, neuntes Kapitel: Bei Tichon) ist sicherlich eines der düstersten Kapitel des Romans. Da findet man wahrlich keine Spur mehr von Humor oder Ironie. Und nachdem man es gelesen hat, ändert sich der Blick auf Stawrogin radikal.


    Stawrogin scheint von einem tiefen Drang beseelt zu sein, sich selbst zu erniedrigen und sich in seinen eigenen Gewissensbissen zu suhlen:


    Jede ausserordentlich schmähliche, masslos erniedrigende, niederträchtige und vor allem lächerliche Lage, in die ich in meinem Leben geriet, erregte in mir ausser einem masslosen Zorn auch ein unmässiges Lustgefühl. Ebenso im Augenblick, da ich ein Verbrechen beging, oder im Augenblick jäher Lebensgefahr. Würde ich stehlen, dann würde ich mich beim Stehlen am Bewusstsein meiner Niedertracht berauschen. Es war nicht die Niedetracht, die ich liebte [...], es ging mir um den Rausch des quälenden Bewusstseins meiner Gemeinheit.


    Auch Schatow wirft ihm vor, eine perverse Genugtuung aus seinen Grenzüberschreitungen zu ziehen:


    Oh, Sie wandeln nicht am Rande des Abgrunds, sondern Sie stürzen sich entschlossen kopfüber hinein. Sie haben geheiratet aus Leidenschaft für Qual, aus Leidenschaft für Gewissensbisse, aus moralischer Wollust. [...] Die Herausforderung an den gesunden Menschenverstand war zu verführerisch! Ein Stawrogin und eine schäbige, schwachsinnige, bettelarme Lahme! Empfanden Sie etwas keine Wollust, als Sie den Gouverneur ins Ohr bissen? Empfanden Sie keine Wollust? Sie müssiges, wankelmütiges Herrensöhnschen, empfanden Sie keine Wollust?


    In seinem Bericht, den er Tichon vorlegt, versucht Stawrogin seine - auch schon so abartigen - Taten noch dadurch an Drastigkeit und Unerhörtheit zu verstärken, dass er immer wieder hervorhebt, wie seine Verbrechen nie im Affekt erfolgt sind, sondern immer das Resultat einer kaltblütigen Rationalität darstellten:



    [li]Es lodert in mir wie richtiges Feuer auf, aber ich war jederzeit in der Lage, es zu beherrschen, zu löschen und ihm sogar auf seinerm Höhepunkt Einhalt zu gebieten, ich wollte nur nie Einhalt gebieten.[/li]
    [li]... Dies alles, damit jeder weiss, dass diese Gefühl mich niemals überwältigte und dass ich die ganze Zeit vollständig bei Bewusstsein blieb.[/li]
    [li]Ich erwähne hier diese Bagatelle, weil ich unbedingt beweisen will, dass ich im Vollbesitz meiner geistigen Fähigkeiten war.[/li]
    [li]usw.[/li]


    Er unternimmt alles, um seine Taten nicht als die Folgen irgendeiner Krankheit oder Geistesgestörtheit erscheinen zu lassen. Alle mildernden Umstände werden von ihm schon im Vorfeld ausgemerzt. Das hat mich an die Ich-Erzähler in einigen von Edgar Allan Poes Kurzgeschichten erinnert, die den Leser dermassen penetrant darauf aufmerksam machen wie geistig gesund sie seien, dass gerade diese nachdrückliche Erwähnung im Leser den Verdacht aufkommen lasse, es hier mit einem Irren zu tun zu haben.


    Stawrogin hebt so oft seine bewusste und überlegte Handlungsweise hervor, dass er damit eigentlich nur zwei Ziele verfolgen kann: Entweder möchte er eine wie auch immer geartete Geisteskrankheit vertuschen oder er möchte, dass wir ihn ob seiner Kaltblütigkeit nur umso mehr verachten. Tichon tendiert zu Letzterem:


    Sie scheinen an ihrer eigenen Psychologie Gefallen zu finden, und jedes Detail ist Ihnen recht, nur um den Leser durch eine Gefühllosigkeit zu überraschen, die Ihnen keineswegs eigen ist. [...] Sie möchten, dass ich Sie so schnell wie möglich verachte und es auch zeige. [...] Sie möchten sich absichtlich brutaler machen, als Ihr Herz fühlt ...


    Wenn Stawrogin dann vage eingesteht, dass er sich vielleicht wirklich in manchem selbst verleumdet hat, steht man als Leser der Beichte vor einem Problem: Wie viel davon darf man glauben und was ist lediglich bewusste Eigenverleumdung?


    Überhaupt scheint das Wort "Beichte" hier fehl am Platz zu sein, und im Roman kommt diese Bezeichnung, glaube ich, auch gar nicht vor, sondern sie hat sich einfach allgemein für dieses Kapitel eingebürgert. Die erste Grundbedingung einer Beichte ist Reue: ich bereue, beichte und erhoffe mir davon Vergebung, Verständnis oder eventuell Mitleid. Aber Mitleid oder Verständnis, genau das will Stawrogin nicht, genau das erträgt er nicht. Was er will, ist die Leute mit seiner Bericht zu schockieren und gehasst zu werden.


    Tichon: Sie scheinen alle, die das Geschriebene lesen werden, im voraus zu hassen und zum Kampf herauszufordern. [...] Bedeutet das, dass deren Hass Ihren Hass wecken soll und dass Sie hassend sich leichter fühlen würden, als wenn sie ihr Mitleid ertragen müssten? [...] Wenn Sie sich nicht geschämt haben, das Verbrechen zu bekennen, warum schämen Sie sich Ihrer Reue?


    Stawrogin wird sein Bekenntnis nicht veröffentlichen, genau so wenig er seine Heirat mit Marja Lebjadkina jemals bekannt machen wird, obwohl er diesen Schritt immer wieder ankündigt. Bedeutet das, dass ihm die Meinung der Leute letztendlich doch nicht so gleichgültig ist, dass er doch nicht so frei ist, sich über alle sozialen Konventionen hinwegzusetzen, wie er das gerne möchte? Tichon prophezeit es ihm:


    Einen Tag, vielleicht eine Stunde vor dem grossen Schritt werden Sie sich in ein neues Verbrechen stürzen, wie in einen Ausweg, nur um die Veröffentlichung dieser Blätter zu vermeiden!


    was mich am meisten an Dostojewski stört, ist sein Glauben an Russland. Diese "Slawophilie" kann ich gar nicht verstehen, was meint er damit?


    Hallo Lisbeth!


    Sehr gute Frage - musste mich selbst erst mal schlau machen ...


    Als Slawen wird eine Gruppe von Völkern bezeichnet, die eine slawische Sprache sprechen (klingt logisch :breitgrins:) und die vor allem Ostmitteleuropa, Osteuropa und Südosteuropa bewohnen.


    Nationen mit mehrheitlich slawischer Bevölkerung sind heutzutage:


    [li]
    ostslawische Staaten: Russische Föderation, die Ukraine und Weissrussland[/li]
    [li]westslawische Staaten: Polen, die Slowakei und Tschechien[/li]
    [li]südslawische Staaten: Bulgarien, Bosnien-Herzegowina, Kroatien, Republik Mazedonien, Montenegro, Serbien und Slowenien[/li]
    [li]grosse slawische Minderheiten leben in Estland, Moldawien, Kasachstan, Litauen und Lettland[/li]


    Die Slawophilie selbst geht auf das 19. Jahrhundert zurück. Damals gab es in Russland zwei grosse politische Gruppierungen: die Westler und die Slawophilen.


    Die Westler traten unter anderem für die Abschaffung der Leibeigenschaft und (im Gegensatz zu den Slawophilen) für einen engen politischen und kulturellen Anschluss Russlands an Westeuropa ein.


    Die Slawophilen hingegen sorgten sich um die Eigenständigkeit der orthodoxen russischen Kultur und wandten sich deshalb gegen die Europäisierung Russlands. Die Slawophilen waren von einem starken nationalen Sendungsbewusstsein durchdrungen; nachfolgend zwei Zitate eines der Wegbereiter der Slawophilie in den 1820er Jahren, die dieses Sendungsbewusstsein verdeutlichen:


    Wilhelm Küchelbecker (ein Russe baltendeutscher Abkunft):


    [li]"Der Himmel hat die Russen dazu berufen, zu einer grossen, segensreichen Erscheinung in der sittlichen Welt zu werden."[/li]
    [li]"Das Heilige Russland soll nicht nur in der politischen, sondern auch in der sittlichen Welt die erste Vormacht werden!"[/li]


    Oder etwa Iwan Kirejewskij, der von "der grossen Bestimmung unseres Vaterlandes" spricht und davon, dass alle anderen Staaten Europas ihre Entwicklung bereits beendet hätten und nun die jungen, unverbrauchten Kräfte Russland in den Mittelpunkt treten sollten, "ein Volk, das über die anderen durch sein geistiges und politisches Übergewicht die Vorherrschaft ausübt".


    Bei den Slawophilen wird rationales Denken: "Verstand" (Europa) dem intuitiven Erkennen, dem "Glauben" (Russland) gegenübergestellt. Der Priester Dmitrij Dudko schreibt noch im Jahre 1991: "An Gott und Russland muss man einfach glauben. Dies kann man rational nicht erklären. Russland ist ein irrationales Land".


    Vieles, von dem, was ich hier schreibe habe ich aus einem Aufsatz von Rudolf Neuhäuser. Ich zitiere:


    "Als der 1821 geborene Dostojewskij im Alter von 23 bis 25 Jahren zu schreiben begann, da waren bereits alle wesentlichen Komponenten einer slawo- bzw. russophilen Ideologie vorhanden und verfügbar."


    In jungen Jahren wurde Dostojewski wegen der Teilnahme an einem revolutionär gesinnten Diskussionskreis verhaftet und zum Tode verurteilt, jedoch vom Zaren begnadigt und für vier Jahre in ein Straflager in Sibirien verbracht. Die Behörden erlaubten sich dabei einen äusserst makabren Scherz, als sie Dostojewski und seine Mitverurteilten erst dann von der Begnadigung erzählten, als sie bereits auf dem Erschiessunsplatz standen. Man muss sich das einmal vorstellen, Dostojewski und seine Freunde hatten mit dem Leben bereits abgeschlossen und wähnten sich tot ... Einer der Gefangenen ertrug diese Charade nicht und würde verrückt.


    In Sibirien lebte Dostojewski mit Mördern und Verbrechern zusammen (später verarbeitete er diese Zeit in seinen Aufzeichnungen aus einem Totenhaus), und diese vier Jahren veränderten sein Leben.


    Nabokov (lapidar und abschätzig wie immer, wenn es um Dostojewski geht): Um in dieser Umgebung nicht gänzlich den Verstand zu verlieren, brauchte Dostojewski etwas, an das er sich halten konnte. Er fand diesen Halt in einem neurotischen Christentum, das sich während jener Jahre in ihm entwickelte. Es ist nur natürlich, dass einige der Sträflinge, unter denen er lebte, neben schrecklicher Bestialität auch ab und zu einen menschlichen Zug aufwiesen. Dostojewski sammelte solche Manifestationen und nutzte sie, um darauf eine überaus künstliche und ganz und gar pathologische Idealisierung des einfachen russischen Volkes aufzubauen. Das war der erste Schritt auf seinem folgenden spirituellen Weg.


    Nabokov schreibt, dass Dostojewski ursprünglich (also bis zu seiner Verhaftung) eher zu den Westlern tendiert hätte, aber nun änderte sich seine Haltung:


    Nabokov: "Seit den Tagen seiner radikalen Jugend hatte sich seine Haltung gegenüber der Regierung vollständig gewandelt. Sein politisches Glaubensbekenntnis ruhte auf denselben drei Säulen, auf die sich das reaktionäre politische Slawophilentum stützte: Grieschisch-katholische Kirche, absolute Monarchie und der Kult des russischen Nationalismus."


    Und einiges von dieser Ideologie schwappt halt manchmal auch unangenehm in seine Romane über. Aber wenn man die Hintergründe ein bisschen kennt, wirds erträglicher ...


    Gruss


    riff-raff



    Quellen:
    Brockhaus
    http://de.wikipedia.org/wiki/Slawen
    Rudolf Neuhäuser in: Dostojewskij im Kreuzverhör
    Wladimir Nabokov in: Die Kunst des Lesens (Fischer-Verlag, 2010)

    Jetzt, da ich das Buch lese, finde ich die ganze Idee von Coetzee - Biographisches mit diesem Roman zu koppeln - brillant.


    Den "Meister von Petersburg" habe ich ebenfalls gelesen. Zwar habe ich keine detailierte Erinnerungen mehr daran, weiss aber noch, dass ich es sehr gerne gelesen habe und es früher oder später sicher für eine Zweitlektüre hervorsuchen werde.

    Vor Jahren habe ich von Camus den "Mythos von Sisyphos" gelesen, darin kommt auch ein Kapitel zu Kirillow vor ... Was nicht weiter verwunderlich ist, wenn man bedenkt, dass Camus seine Abhandlung mit den Worten beginnt: "Es gibt nur ein wirklich ernstes philosophisches Problem: den Selbstmord."


    Für die, die das Buch nicht kennen, fasse ich es aus der Erinnerung mal ganz stümperhaft und lapidar zusammen: Laut Camus gibt es keinen Gott, das Leben ist sinnlos und der Mensch dazu angehalten, diese Sinnlosigkeit anzuerkennen und ohne Verzweiflung auszuhalten. Der Mensch gleicht Sisyphos, der einen Stein einen steilen Berg hinaufrollt, aber nicht, weil er hofft, ein Ziel, den Gipfel, zu erreichen, sondern einfach so. Er weiss von vornherein, dass ihm der Stein entgleiten und er mit der ganzen mühevollen Plackerei wieder von vorne wird beginnen müssen, dennoch darf er sich nicht entmutigen lassen, sondern sollte sich jedesmal beherzt und bar jeglicher falscher Hoffungen wieder an seine sinnlose Arbeit machen.


    Ich möchte gerne einige Zitate aus dem Kirillov-Kapitel anführen, die mir geholfen habe, dessen Charakter wenigsten ansatzweise etwas besser zu verstehen. So schreibt Camus z. B., dass Kirillov seine Freiheit und Unabhängikeit dadurch erreicht, dass er seinen Glauben an Gott überwindet:


    "Für Kirilow wie für Nietzsche heisst Gott töten: selber Gott werden [...]. [Aber] warum sich töten und diese Welt verlassen, nachdem man die Freiheit erobert hat?"


    Weil die Mensch das nicht einsehen und ein Exempel brauchen:


    "Wie zu Prometheus' Zeiten nähren sie in sich die blinden Hoffnungen. Man muss ihnen den Weg zeigen, sie können die Predigt nicht entbehren. Kirilow muss sich also aus Liebe zur Menschheit umbringen. Er muss seinen Brüdern einen erhabenen und schwierigen Weg zeigen, auf dem er der erste sein wird. Es ist ein pädagogischer Selbstmord. [...] Aber wenn er tot und die Menschen endlich erleuchtet sind, dann wird diese Erde sich mit Zaren bevölkern und von menschlichem Ruhm erstrahlen. Kirilows Pistolenschuss wird das Signal der letzten Revolution sein. So treibt ihn nicht die Verzweiflung in den Tod, sondern die Nächstenliebe [...]".


    "Pädagogischer Selbstmord" ..., das ist schön ausgedrückt Gemäss Camus sind die Figuren des Stawrogin und Iwan Karamasow (aus "Die Brüder Karamasow") "diejenigen, die Kirilows Tod befreit. Sie versuchen, Zaren zu sein. Stawrogin [...] ist Zar in der Gleichgültigkeit".


    Das würde schön die Selbstherrlichkeit erklären, mit der Stawrogin glaubt, sich über moralische und gesellschaftliche Konventionen hinwegzusetzen zu dürfen. Andererseits wissen wir ja, wohin das schlussendlich führt ... (Und für die, die noch nicht so weit mit Lesen sind - ich werde es bestimmt nicht verraten :breitgrins:)

    Hallo zusammen!


    Ich bin mit dem Buch durch und möchte gern auf die Figur des Kirillows zu sprechen kommen ... - Kirillow plant ja, sich umzubringen, aber die Gründe, die er diesbezüglich anführt, erschliessen sich mir nur teilweise, weshalb ich sie mal aufführe ...


    Punkt 1:
    Kirillow: "Gott ist notwendig, also muss es ihn geben. [...] Ich aber weiss, dass es ihn nicht gibt und nicht geben kann. [...] Kannst du [Pjotr Stepanowitsch] denn nicht begreifen, dass ein Mensch mit diesen beiden Gedanken unmöglich am Leben bleiben kann? [...] Kannst du denn nicht begreifen, dass man sich schon allein deshalb erschiessen kann? Begreifst du nicht, dass es einen solchen Menschen geben kann, einen unter tausend Millionen euresgleichen, einen einzigen, der das nicht mitmachen und nicht ertragen will?"


    Dass der Gedanke, dass es keinen Gott gibt, für manche Menschen das Leben dermassen entwertet, dass sie sich lieber die Kugel geben, als in einer solch sinnlosen Welt weiterzuleben, kann ich gut verstehen. Es hat ja auch schon Selbstmorde anlässlich des Todes berühmter Film- oder Rockstars gegeben, weil den betreffenden Personen dadurch jeglicher Lebenssinn abhanden kam. Aber welche Notwendigkeit macht laut Kirillow die Anwesenheit eines Gottes so unabdingbar und woher weiss er, dass es keinen gibt? ...


    Punkt 2:
    Kirillow: "Wenn es Gott nicht gibt, dann bin ich Gott."
    Pjotr: "Das ist genau der Punkt, den ich bei Ihnen nie verstehen konnte: Warum sind Sie dann Gott?"
    Kirillow: "Wenn es Gott gibt, so ist aller Wille Sein, und ich vermag nichts über Seinen Willen. Wenn es Ihn nicht gibt, so ist aller Wille mein [...]."


    Daraus, dass Gott eine Notwendig darstellt, es ihn aber leider nicht gibt, folgert Kirillow also, dass er selbst (und folglich jeder Mensch) Gott ist. Aber worin besteht dieses Gottsein? Drei Jahre, sagt Kirillow, habe er nach dem "Attribut" des Göttlichen in ihm gesucht und es schliesslich gefunden: sein "Selbstwille". Der freie Wille ist es, der den Menschen zum Gott macht. Und um das zu beweisen, wird Kirillow sich umbringen. Selbstmörder hat es schon vor ihm gegeben, aber alle haben sich aus einem bestimmten Grund getötet, er wird der erste sein, der sich völlig grundlos umbringen wird, einzig weil er es kann, aus seinem freien Willen heraus.


    (Nebenbemerkung: Die Antwort von Pjotr Stepanowitsch darauf ist bezeichnend und erhellt deutlich dessen niederträchtigen Charakter: "Ich an Ihrer Stelle würde einen anderen umbringen, um meinen Selbstwillen zu beweisen, und nicht mich selber.")


    Kirillows Tod will ein Zeichen setzen und die Menschen befreien:


    Kirillow: "Der Mensch wird Gott sein und sich physisch verändern. Und die Welt wird sich verändern, und die Dinge werden sich verändern und die Gedanken und alle Gefühle. [...] Volle Freiheit wird dann sein, wenn es egal ist leben oder nicht leben. Das ist das Ziel von allem."


    Das Ziel ist: Gleichgültigkeit ... - alles wird 'gleich gültig' sein. Ob gut oder böse, alles ist gut.


    Stawrogin: "Aber wenn jemand verhungert, wenn jemand ein Mädchen missbraucht und entehrt - ist das gut?"
    Kirillow: "Gut. Und wenn ein anderer ihm den Schädel einschlägt wegen des Kindes, ist auch gut; und wenn ihm keiner den Schädel einschlägt, ist auch gut. Alles gut, alles. Alles ist denen gut, die wissen, dass alles gut ist."


    "Egal", das ist das Lieblingswort von Kirillow. Deshalb stört es ihn auch nicht, wenn Pjotr Stepanowitsch seinen Tod dazu missbrauchen wird, um Dinge zu vertuschen, die Kirillow eigentlich verachtet. (Dass es ihm dann schlussendlich doch nicht so egal ist, seinen Kopf für etwas hinzuhalten, das er ablehnt, zeigt nur wie schwierig sein Unterfangen ist, wie mühevoll es ist, sich von alten Vorurteilen zu verabschieden.)


    Und dabei gurkt es Kirillow richtig an, sich umzubringen ... Nach eigenen Aussagen ist er glücklich, in Hamburg hat er sich einen Ball gekauft "um zu werfen und zu fangen: Stärkt den Rücken" und er treibt Morgengymnastik ... Aber einer muss den ersten Schritt machen und sich opfern.


    Das Ganze ist ziemlich vertrackt und absurd sehe ich gerade ...

    Über die Art des Schreibens von Dostojewski haben wir schon diskutiert, was bleibt mir dann noch?


    Mir ergeht es oft ähnlich ... Die Diskussion hier im Forum ist meist auf einem solch hohen Niveau, dass es mich regelrecht einschüchtert. Was kann ich da noch gross beitragen? Ich streich mir fleissig Stellen an und mach mir Notizen und schreibe dann doch nichts dazu, weil es mir einfach nicht gehaltvoll genug erscheint. Dabei habe ich bisher nur gute Erfahrungen mit dem Forum gemacht. Aber ich habe trotzdem Mühe, so einfach frei von der Leber weg zu schreiben, was aber hauptsächlich an mir selbst liegt. Ich sollte weniger Angst haben, mich lächerlich zu machen. Den grössten Vorteil des Forums sehe ich sowieso darin, dass es einem darin unterstützt aufmerksamer und intensiver zu lesen. Klaus schreibt z. B. über den Gouverneur Lembke und wie er irgendwelche Modelle aus Papier bastelt, wenn er frustriert ist ... Das ist eine Stelle, an die ich mich überhaupt nicht erinnern kann. Hab ich glatt überlesen. Weckt aber in mir den Wunsch, in Zukunft noch mehr auf Details zu achten.


    Und was die Länge der Beiträge angeht ... Kurze Beiträge lesen sich doch eh viel angenehmer als lange :smile:


    Gruss


    riff-raff


    Ich bin nun mit dem Ersten Teil durch und bin von dem abschließenden 5. Kapitel ganz hingerissen. Es erinnert mich an den Finalakt eines Theaterstücks [...]
    Ich finde das macht den Eindruck als wäre man als Theaterzuschauer dabei, aber direkt auf der Bühne! [...]


    Ja, Klaus, das ist für mich auch das Entscheidende, was Dostojevskijs Qualität ausmacht: Seine Werke bauen sich als ein riesiger Dialog auf, selbst die spannendsten Handlungen werden meist, wie im antiken Theater, im "Botenbericht" geschildert, [...]


    Dostojewski als verhinderter Dramatiker ... Vladimir Nabokov hat dazu Folgendes zu sagen:


    Es scheint, als sei er von der russischen Literatur schicksalhaft bestimmt gewesen, Russlands bedeutendster Dramatiker zu werden, aber er schlug einen falschen Weg ein und schrieb Romane.


    "aber er schlug einen falschen Weg ein" ... Nabokov, der bekanntlich nie ein Blatt vor dem Mund nahm, macht mehr als deutlich, dass er von Dostojewski, dem Prosaautor, nicht besonders viel hält. Ihrer literarischen Bedeutung nach ordnet er die russische Prosa folgendermassen ein: an erster Stelle steht Tolstoi, dann folgen Gogol, Tschechow und Turgenjew. Sein Urteil über Dostojewskij fällt vernichtend aus:


    Dostojewski [ist] kein bedeutender Autor, sondern eher mittelmässig mit dem gelegentlichen Aufblitzen brillanten Humors, aber, ach!, mit Wüsteneien literarischer Plattheiten dazwischen.


    Dostojewskis Mangel an Geschmack, die eintönige Art, mit der er immer wieder Menschen darstellt, die an präfreudianischen Komplexen leiden, die Art, mit der er sich in den tragischen Missgeschicken menschlicher Würde suhlt - all dies ist nur schwer zu bewundern.


    Wer eines seiner Werke [...] gründlich liest, erkennt, dass der natürliche Hintergrund und alles, was mit Wahrnehmungen der Sinne zu tun hat, kaum existiert. Was es an Landschaft gibt, ist eine Landschaft der Ideen, eine moralische Landschaft. Das Wetter gibt es in seiner Welt nicht, also spielt es auch keine Rolle, wie seine Gestalten sich kleiden. [...] Nachdem er seine Gestalt einleitend beschrieben hat, geht er in Szenen, in denen sie auftritt, nicht mehr auf deren körperliche Erscheinung ein - das ist eine altmodische Technik. Dies ist nicht die Art eines Künstlers wie beispielsweise Tolstoi, der seine Gestalten beständig vor Augen hat und genau weiss, welche Bewegung sie in diesem oder jenem Augenblick vollführen werden.


    Was er ihm hier ankreidet, ist aber genau das, was mir an Dostojewski so gefällt ... Keine ellenlangen Landschaftsbeschreibungen, keine minutiöse Darlegung wie die Charaktere aussehen oder sich kleiden ... Lauter Informationen, die Film oder Fotografie doch eh viel besser transportiern und in einem Roman oft regelrecht verschwendet sind - jedenfalls an einen Leser wie mich ... Als letztes habe ich z. B. Anna Karenina gelesen, wenn ihr mich aber fragt ob Lewin blond oder braun war, korpulent oder schmächtig, ob er einen Bart hatte oder nicht ... Keine Ahnung. Auch wenn ich überzeugt bin, dass Tolstoi darauf eingegangen ist ... Dabei habe ich aber trotzdem das Gefühl, ein ziemlich deutliches Bild dieser Figur im Kopf zu haben. Ein Bild, das sich weniger auf sein Äusseres bezieht als auf seine psychische Konstitution. Es würde mir schwer fallen, Lewin zu zeichnen (mal abgesehen von meinem Zeichentalent ...), aber ich könnte ein ziemlich deutliches Psychogramm des Mannes erstellen und das erscheint mir weitaus wichtiger.


    Schatow, der immer wegrennt, wenn eine Situation ihn verlegen macht, der immer seinen Blick zum Boden richtet und von anderen als grundehrlich bezeichnet wird. Liputin ist ein Dummschwätzer und Intrigant, unterwürfig und hinterhältig. Kirillow, der Nihilist, der Liputins Geschwätz nicht ausstehen kann und selber in einem seltsamen Stakkato seine Gedanken ausbreitet.


    Die Dinge, die Klaus hier beschreibt, dass sind genau die Dinge, die mir von einer Figur in Erinnerung bleiben. Körperliche Merkmale hingegen - ausser wenn sie besonders bezeichnend oder auffällig für eine Person sind, wie das Hinken und die grelle Schminke der Marja Timofejewna Lebjadkina - bleiben mir nicht lange haften. Und wenn zig Seiten nur aus Dialogen bestehen, dann mag das zwar an Theaterstil erinnern, aber man fühlt sich den Charakteren als Leser gleich viel näher und unmittelbarer in die Handlung involviert, als wenn das Ganze von einem Erzähler zusammengefasst und vermittelt wird. Ich persönlich steh jedenfalls auf sowas.


    Nabokov kritisiert ebenfalls, dass Dostojewskis Charaktere so statisch seien und keine innere Wandlung durchlebten:


    Das einzige, was sich entwickelt, hin- und hertaumelt, unerwartete Wendungen macht, [...] ist die Handlung. Wir wollen stets daran denken, dass Dostojewski letzten Endes ein Verfasser von Kriminalromanen ist, bei denen alle einmal eingeführten Gestalten bis zum bitteren Ende mit allen Merkmalen und persönlichen Gewohnheiten bleiben, wie sie sind [...]. Durch den spannenden Aufbau seiner Handlungen gelingt es Dostojewski, die Aufmerksamkeit des Lesers gefangen zu halten [...]. Wer aber eines seiner Bücher noch einmal liest, also mit den Überraschungen und der Kompliziertheit der Handlung vertraut ist, merkt sofort, dass die Spannung des ersten Lesens dahin ist.


    Ich lese Böse Geister nach ungefähr zehn Jahren zum zweiten Mal und habe bisher nichts von einem Spannungsverlust gemerkt, was aber auch gut an meinem schlechten Gedächtnis liegen mag, und dass die Handlung des vorliegenden Romans doch ziemlich vertrackt ist. Ob die Helden wirklich keine Entwicklung durchmachen, darauf muss ich mal genauer achten.


    Nabokov stört zudem, dass Dostojewski sich hauptsächlich für krankhafte und abnorme Charaktere, sprich "Psychopathen", zu interessieren scheint ... Er erstellt sogar eine Liste, in der er Dostojewskis Gestalten nach Geisteskrankheiten einstuft: Epilepsie (ist das überhaupt eine 'Geisteskrankheit?), Altersschwachsinn, Hysterie ...


    Und natürlich kommen auch Dostojewskis (zu recht kritisierbare) Glaubensbekenntnisse und Ideologieen zur Sprache, die so oft unangenehm in seine Romane überschwappen, wie z. B. sein "reaktonär politisches Slawophilentum" oder dass das Heil der Welt aus Russland und der orthodoxen Religion entspringen wird.


    Als einziges Meisterwerk, ja, als "vollkommenes Kunstwerk", lässt er Dostojewskis Erzählung Der Doppelgänger gelten, das ich bisher noch nicht gelesen, mir aber - dank Nabokov - bereits vorgemerkt habe.


    Enthalten sind Nabokovs Gedanken zu Dostojewski übrigens in: Die Kunst des Lesens [kaufen='3596902800'][/kaufen], in dem seine Vorlesungen zu verschiedenen Meisterwerken der europäischen und russischen Literatur versammelt sind.


    Gruss


    riff-raff

    Hallo zusammen :winken:


    als ich mir gestern den Roman bereitlegte, sah ich mit Überraschung, dass meine Erstlektüre 1981 stattfand, also mehr als 30 ! Jahre her ist.


    Meine letzten Dostojewski-Leseerfahrungen liegen ebenfalls 30 Jahre zurück.


    "Böse Geister" habe ich vor 10 Jahren zum ersten Mal gelesen, damals schon in der Übersetzung von Swetlana Geier, freue mich aber über eine Wiederlektüre, da ich seit "Schuld und Sühne" ein begeisterter Dostojewskij-Fan bin. Momentan befinde ich mich gerade im dritten Kapitel.


    Die Erzählperspektive wird auch mehrfach durchbrochen, indem auktorial von Ereignissen berichtet wird, bei denen nicht deutlich wird, wie der Ich-Erzähler an die Informationen gelangen konnte.


    Das ist mir auch aufgefallen ... Dostojewskij scheint diesen 'Vorwurf' aber vorhergesehen zu haben und lässt den Erzähler recht schnippisch darauf antworten:


    Vielleicht wird man fragen: Wie konnte ich eine solch heikle Einzelheit in Erfahrung bringen? Und wenn ich gelegentlich Augenzeuge gewesen wäre?


    Nun, Augenzeuge wird er wohl nicht immer gewesen sein und ab und zu gibt er ja auch Einblick in die Gedanken der Figuren, womit er sein Wissen doch deutlich überschreitet. Aber Dostojewskij scheint es mit der Erzählperspektive nicht so genau zu nehmen. Jedenfalls erspart er sich solche Verrenkungen wie Emily Brontë in "Wuthering Heights", die es immer wieder so hinbiegt, dass die Erzählerin Nellie selbst bei den intimsten Geschehnissen immer in persona anwesend ist (Gruss an Klaus :winken:) Warum er nicht direkt einen auktorialen Erzähler gewählt hat, ist mir nicht klar. Vielleicht, weil "G-w" (wie er sich im Buch nennt) im Verlauf der Handlung noch eine wichtige Rolle spielen wird? Glaube zwar nicht, aber so genau habe ich es nicht mehr in Erinnerung.


    Ich halte Dostojewskij für einen grossen Humoristen, auch wenn Humor nicht gerade das Erste ist, was man mit ihm in Verbindung bringt. Seine Beschreibungen des "fünfzigjährigen Säuglings" Trofimowitsch und dessen Beziehung zu Warwara Petrowna finde ich jedenfalls köstlich. @ Theresa: Findest du wirklich, dass er sich über die beiden lustig macht? Überzeichnet sind die zwei Figuren schon, aber auf eine eher liebevoll mitfühlende und nicht abwertende Weise, wie ich finde.


    Freue mich schon aufs Weiterlesen ...


    Gruss


    riff-raff

    Ich bedanke mich recht herzlich für die gemeinsame Leserunde, es hat Spass gemacht. Ist schon so, dass man in einer solchen Runde einen Text wesentlich intensiver und genauer liest als für sich selbst. Schade, dass es nicht für jedes Buch so etwas gibt ...


    Ich hoffe sehr, dass wir uns in einer anderen Leserunde wiedersehen. Würde mich freuen ...


    Gruss :winken:


    riff-raff

    Diese Auslistung stellt die Erzählsituation imo zu einfach und dadurch falsch dar. In allen 34 Kapitel ist nämlich Lockwood der Erzähler der dem Leser erzählt und nur bei Situationen, die er selbst nicht kennen kann, lässt er sich von Ellen berichten, die aber nie direkt dem Leser erzählt, sondern immer nur Lockwood, der dann das ihm Erzählte an den Leser (gefiltert?) weitererzählt und Situationen, die Ellen nicht selbst erlebt hat lässt diese sich wiederum von einem Dritten Erzähler berichten.


    Genau :winken: Nach dem Matrjoschka-Prinzip, wo jede Puppe (Erzählebene) noch eine Puppe (Erzählebene) in sich birgt ...


    [Blockierte Grafik: http://img717.imageshack.us/img717/986/narrativeebenen.jpg]

    Erstaunlich für mich war sowieso den ganzen Roman hindurch, wie wenig Gegenwehr Heathcliff von Seiten der Bewohner von Wuthering Heights entgegengebracht wird, bzw. dass er offensichtlich von einzelnen Personen gar nicht so negativ beurteilt wird, wie dies durch die Schilderung Ellens eigentlich zu erwarten wäre.


    Stimmt, das hat mich auch erstaunt. Ich glaube, die einzige offene Rebellion gegen Heathcliff erfolgt im 2. Buch, Kapitel III, als Hindley Earnshaw beschliesst ihn umzubringen. Dieser Anschlag wird aber ausgerechnet von Isabella vereitelt, die doch besonders unter ihn zu leiden hat und ansonsten recht markige Worte gegen ihn vorbringt: " ... das Ungeheuer! Könnte er doch nur vom Erdboden [...] getilgt werden!"


    Auch die Berücksichtigung von Heathcliffs letztem Wunsch erscheint merkwürdig, angesichts der Hölle, durch die er alle Beteiligten Zeit seines Lebens gejagt hat: "Wir begruben ihn so, wie er es sich gewünscht hatte, auch wenn die ganze Nachbarschaft daran Anstoss nahm." Das heisst, sie haben ihn neben Edgar Linton und Catherine gebettet und dabei die Seitenwände entfernt, die Catherines und Heathcliffs Sarg voneinander trennen.


    Heathcliff: "Ich werde es so anfertigen lassen, und wenn Linton dann zu uns herüberkommt, wird er uns nicht mehr auseinanderhalten können!"

    "Wenn Linton dann zu uns herüberkommt ..."
    ?!? - Warum auch nicht? Heathcliff glaubt fest daran, dass man nach dem Tod als Gespenst weiterlebt. Nach Catherines Tod leidet er richtiggehend darunter, dass er von ihrem Geist nicht heimgesucht wird, obwohl er sich das doch so gewünscht hat:


    "Möge sie [Catherine] in Qualen erwachen! [...] Du [Catherine] hast gesagt, ich hätte dich getötet - gut, dann soll dein Geist mich jetzt heimsuchen! Die Opfer suchen ihre Mörder heim. Ich glaube, nein, ich weiss, dass Gespenster auf der Erde umgegangen sind. Sei immer bei mir - nimm jede Gestalt an, die dir gefällt - treib mich zum Wahnsinn! Nur lass mich nicht in diesem Abgrund, wo ich dich nicht finden kann! [...] Ich kann nicht ohne meine Seele leben!"


    Wenn ich auf der Rückseite meines Taschenbuchs lese "'Wuthering Heights' brach wie ein Gewitter in den Frieden der viktorianischen Epoche ein", dann denke ich, dass es gerade solch blasphemische Szenen im Roman sind, an denen Emilys Zeitgenossen Anstoss nahmen. (Laut Kindlers Literaturlexikon hingegen soll "die deutliche Betonung der erotisch-sexuellen Ebene auch bei den weiblichen Figuren" den Unwillen des Publikums erregt haben. Etwas, das ich nicht nachvollziehen kann, da mir beim Lesen überhaupt keine "erotisch-sexuelle Ebene" aufgefallen ist. Etwa euch?)


    Wenn gegen Ende des Romans Heathcliffs Rachedurst plötzlich abschwillt und er eine seltsam Ruhe und Verklärtheit an den Tag legt, kann man das dahingehend deuten, dass sein Wünsch endlich in Erfüllung gegangen ist. (Ellen: "[Es schien] mir ganz so, als starre er auf etwas, das keine zwei Meter vor ihm war. Und was auch immer das sein mochte, es bereitete ihm offenbar sowohl höchste Freude als auch tiefsten Schmerz; zumindest liess sein gequälter und doch verzückter Gesichtsausdruck darauf schliessen.")


    In der Inhaltsangabe zum Taschenbuch steht: "Als sein [Heathcliffs] Zerstörungswerk aber auch die nächste Generation zu bedrohen beginnt, regt sich der Geist der toten Cathy." Ursprünglich bin ich deshalb auch davon ausgegangen, dass es sich beim Roman um eine Gespenstergeschichte handle, bin aber froh, dass Emily sich nicht so eindeutig festlegt und man den Schluss so oder so lesen kann. Entweder greift wirklich Catherines Hand aus dem Jenseits ins Geschehen ein oder aber der arme Kerl wird schlichtweg verrückt oder ...


    Gruss


    riff-raff

    Es wird immer das Multiperspektivische an dem Roman gerühmt. Aber bis auf wenige Ausnahmen ist es doch die Perspektive Ellens - oder?


    Ich bin auf eine interassante Seite gestossen (auf englisch), die sich sehr ausführlich mit unserem Roman beschäftigt: www.wuthering-heights.co.uk


    Unter anderem hat man sich dort die Mühe gemacht, die einzelnen Erzähler im Buch aufzulisten. Ich gebe hier mal eine kurze Zusammenfassung:

    Erstes Buch

    Kapitel I-III: Lockwood
    IV: Ellen, Lockwood
    V: Ellen
    VI: Ellen, Heathcliff
    VII-VIII: Ellen
    IX-X: Ellen, Lockwood
    XI-XII: Ellen
    XIII: Ellen, Isabella
    XIV: Ellen, Lockwood


    Zweites Buch
    Kapitel I: Ellen, Lockwood
    II: Ellen
    III: Ellen, Isabella
    IV-IX: Ellen
    X: Ellen, Cathy
    XI: Ellen, Lockwood
    XII-XIV: Ellen
    XV: Ellen, Heathcliff
    XVI: Ellen, Zillah, Lockwood
    XVII: Lockwood
    XVIII: Ellen, Lockwood
    XIX: Ellen
    XX: Ellen, Lockwood


    Lediglich in vier Kapiteln - die aus der Perspektive von Lockwood geschrieben sind - kommt Ellen nicht als Erzählerin vor. In den restlichen dreissig Kapiteln ist Ellen entweder die alleinige Erzählerin oder teilt sich diese Aufgabe mit noch jemanden. Insgesamt kommen sechs verschiedene Erzähler im Roman vor.


    Dabei denke ich, dass die Liste nicht einmal vollständig ist ... In Kapitel III (1. Buch) z. B. übernachtet Lockwood auf Wuthering Heights und blättert einige Bücher durch, dabei stösst er darin auf Aufzeichnung von Catherine, als sie noch ein Kind war. Diese Niederschriften werden ungefiltert wiedergegeben, so dass ich denke, dass man auch Catherine als Erzählerin miteinberechnen müsste.


    Ich habe nur noch wenige Seiten zu lesen, dann bin ich ebenfalls durch mit dem Buch ... :winken:


    Gruss


    riff-raff