Erst jetzt habe ich die Geschichte Dinas beendet. Ich wundere mich, dass ich während der ersten Lektüre des Romans das Gruseliges von Ereignissen, wie den in Schekem, das doppelzüngiges Verhältnis Jaakobs, der bewusst nichts übernimmt, um das Massaker zu vermeiden, fast ganz ohne tiefen Eindruck lesen könnte.
Dein Beitrag hat mich veranlasst, die entsprechende Bibelpassage nochmal zu lesen; sie weicht deutlich von Thomas Manns Version ab.
Dina, die Tochter, die Lea Jakob geboren hatte, ging aus, um sich die Töchter des Landes anzusehen. Sichem, der Sohn des Hiwiters Hamor, des Landesfürsten, erblickte sie; er ergriff sie, legte sich zu ihr und vergewaltigte sie.
In der Bibel wird das Gemetzel, das Simeon und Levi unter den Bewohnern von Schekem anrichten, durch die Vergewaltigung und Entehrung ihrer Schwester, zumindest ansatzweise, gerechtfertigt.
Bei Thomas Mann hingegen hält Sichem die Sitten ein und bittet Jaakob förmlich um die Hand seiner Tochter. Er nimmt sogar die qualvolle Bedingung der Beschneidung auf sich. Und erst als ihm Dina aus spitzfindigen Gründen immer noch vorenthalten wird, erst da lässt er das Mädchen rauben und vereinigt sich mit ihr. Eine Vereinigung, die bei T. M. alles andere als wie eine Vergewaltigung geschildert wird.
Die Rechtfertigungen, die Simeon und und Levi bei T. M. für ihre Rache anführen, stehen auf recht wackligen Beinen. Auch hier berufen sie sich auf Dinas Entehrung, die unbedingt gesühnt werden müsse, aber die Schwester ist für sie nur Mittel zum Zweck. Sie instrumentalisieren Dina um das zu erlangen, was sie schon von Anfang geplant hatten, schon als sie die Stadt zum erstenmal erblickten, nämlich sie zu brandschatzen und zu plündern.
Bei Thomas Mann kommen Simeon und Levi also deutlich schlechter weg als in der Bibel und man kann sich fragen, was ihn dazu veranlasst hat, den Urtext so umzuformen. Sollte der Unterschied zwischen dem friedliebenden und vergeistigten Jaakob/Joseph und seinen kruden Söhnen/Brüdern noch eklatanter zum Ausdruck gebracht werden?
Gruss
riff-raff