Beiträge von riff-raff

    Hallo zusammen!


    Im 38. Kapitel des ersten Buches hält Don Quijote eine flammende Rede über das Handwerk des Krieges und die Waffenkunst. Dabei bedauert er das Aufkommen der neuen Schusswaffen:


    Glücklich die gesegneten Jahrhunderte, da noch nicht die verteufelten Donnergeschütze ihre entsetzliche Wut entluden, [...] teuflisches Gerät, durch das ein gemeiner, feiger Arm einem tapferen Ritter das Leben nehmen kann oder durch das die [...] Tapferen, ohne dass man wüsste, wie und woher, eine verirrte Kugel ereilt [...] und in einem Augenblick mäht und fällt sie Denken und Leben dessen, der es verdient hätte, sich seiner noch Jahr und Tag zu erfreuen [...].


    Der 'ehrliche' Zweikampf Mann gegen Mann ist obsolet geworden. Nicht mehr Waffenfertigkeit oder Mut und Tapferkeit bestimmen über Leben und Tod, sondern der reine Zufall. Mir ist das wieder erschreckend bewusst geworden, als ich vor ein paar Tagen im Fernsehen Ausschnitte aus einem Spielfilm gesehen habe über die Bombardierung Dresdens im zweiten Weltkrieg. Da sitzt der Pilot relativ sicher in seiner fliegenden Festung, drückt auf einen Knopf und bevor seine Bombenfracht noch den Boden berührt ist er bereits wieder auf dem Weg zurück zur Basis. Vielleicht kriegt er noch die Explosion mit, aber ansonsten ... Die Auswirkungen seines Handelns bleiben völlig ausgespart. Der österreichische Verhaltensforscher Konrad Lorenz hat das sehr treffend auf den Punkt gebracht:


    [...] vor allem hat es die verfeinerte Tötungstechnik mit sich gebracht, dass dem Handelnden die Folgen seines Tuns nicht unmittelbar ans Herz greifen. Die Entfernung, auf die alle Schusswaffen wirken, schirmt den Tötenden gegen die Reizsituationen ab, die ihm anderenfalls die Grässlichkeit der Konsequenzen sinnlich nahebringen würden. Die tiefen gefühlsmässigen Schichten unserer Seele nehmen es einfach nicht mehr zu Kenntnis, dass das Abkrümmen eines Zeigefingers zur Folge hat, dass unser Schuss einem anderen Menschen die Eingeweide zerreisst.


    In: Das sogenannte Böse. Zur Naturgeschichte der Aggression


    Gruss


    riff-raff


    Sonst lesen sich die meisten Passagen wie Berichte über Zusammenstöße von Hooligans. Es wird sehr viel ausgeteilt und eingesteckt.


    Der russische Schriftsteller Vladimir Nabokov ("Lolita") hielt in den 50er-Jahren in Harvard eine Vorlesungsreihe über den "Don Quijote" und bezeichnete dabei das Buch als eine Folterkammer und veritable Enzyklopädie der Grausamkeit, ja, als eines der furchbarsten und barbarischsten Bücher, die je geschrieben wurden.


    Die Spässe, diagnostizierte Nabokov, würden sich auf dem untersten Niveau mittelalterlicher Possenreisserei abspielen und der Humor sei brutal und abstossend.


    Ich denke, Nabokov übertreibt ziemlich, heutzutage sind wir uns von Film und Fernsehen weitaus stärkeren Tobak gewöhnt. Und die Zeit, in der der Roman spielt, war sicherlich auch kein Zuckerschlecken. Man denke an den "Simplicissimus" und den Dreissigjährigen Krieg, der zwei Jahre nach Cervantes Tod in Deutschland ausbrach.


    Interessant: Nabokov hat sich die Mühe gemacht, sämtliche Don-Quijote-Zweikämpfe nach Sieg und Niederlagen zu untersuchen. Resultalt: unentschieden (20 zu 20). Hat mich überrascht, da Don Quijote ja meist als Verlierertyp stilisiert wird.


    Nabokovs Vorlesungen erschienen übrigens 1983 auch als Buch im Fischer Verlag unter dem Titel "Die Kunst des Lesens. Cervantes' 'Don Quijote'". Ist heute leider vergriffen und meine Informationen dazu stammen alle aus dem Internet.


    Gruss


    riff-raff

    Hallo Lost! :klatschen:



    Ich leiste mir lieber ein Gedankenexperiment und folge nicht der von Cervantes suggerierten Position unser Helden wäre geistig umnachtet.


    Ein sehr interessanter Gedanke. Dieses die Erzählung gegen den Strich zu lesen kann vielleicht noch sehr erhellend sein.


    Wenn ich das recht verstanden habe, siehst du in Sancho Panza so was wie eine Art Lebensversicherung für Don Quijote ... - Bin zwar noch nicht so weit mit Lesen, d.h. 'mein' D.Q. ist immer noch ohne Knappe, aber dein Einfall scheint mir wert, ihn im weiteren Verlauf der Lektüre im Hinterkopf zu behalten.


    Tolle Anregungen, die du da lieferst. Danke!


    Gruss


    riff-raff

    Hallo!


    Der Erzähler unternimmt im Text pausenlos den Versuch, den Leser von der Authentizität seiner Geschichte zu überzeugen. Er pocht darauf, kein Geschichtenerfinder zu sein und distanziert sich vom Vorwurf, Lügenmärlein für einen unterhaltenden Augenblick wie Wirklichkeit aussehen zu lassen. Es sei nicht seine Art, Wissen vorzuspiegeln, wo er nicht wirklich genau bescheid weiss. So berichtet er nur, was verbürgt ist und stützt sich dabei auf die unerschütterlichen Tatsachen der Überlieferung. Was er schreibt ist wahr.


    Mal abgesehen davon, dass heutzutage ein auktorialer Erzähler, der alle Fäden der Erzählung fest in seiner Hand hält, per se schon anachronistisch anmutet, kommen mir diese ständigen Versuche, den Leser von der Echtheit der Ereignisse zu überzeugen, für einen Roman des 20. Jahrhundert seltsam veraltet vor. Ich bin das eher von älteren Epochen gewöhnt, wo Autoren grossen Aufwand betrieben um ihre Fiktionen wie faktuale Texte erscheinen zu lassen. Auf den Umschlägen der Joseph-Bücher hingegen prangt deutlich die Gattungsbezeichnung 'Roman', was mich dahingehen belehrt, dass ich es mit einer erfundenen Geschichte zu tun habe. Wozu also dieses ständige Pochen auf Gesichertheit der Handlung?


    Oder diese Akribie mit der z.B. erörtert wird, wie viele Jahre Jaakob jetzt tatsächlich in Labans Diensten stand ... Oder ob Joseph bei Ausbruch der Hungerperiode in Ägypten siebenunddreissig oder schon neunundreissig Jahre alt war ... Das alles hat mich ehrlich gesagt ein bisschen befremdet. Bis ich kürzlich im "Kindler" den Joseph-Artikel las und dabei auf folgende Selbstaussage Thomas Manns gestossen bin:


    "[...] das Wissenschaftliche, angewandt auf das ganz Unwissenschaftliche und Märchenhafte, ist pure Ironie."


    Die versuchte Exaktheit und der wissenschaftliche Duktus im Buch sind folglich Teil der mannschen humoristisch-ironischen Grundhaltung, die so typisch für seine Werke ist.


    Gruss


    riff-raff

    Hallo zusammen!


    Vor einiger Zeit las ich ein Buch des Spaniers Carlos Eugenio López mit dem Titel "Abgesoffen". Es geht darin um zwei Killer, die stundenlange Autofahrten ans Meer unternehmen um dort ihre Leichen zu 'entsorgen'. Dabei unterhalten sie sich über Gott und die Welt - der ganze Roman besteht nur aus Dialogen. Unter anderem kommen sie auch auf den "Don Quijote" zu sprechen. Ich möchte euch diese Passage nicht vorenthalten:


    - Hast du den Don Quijote gelesen?
    - Nein. Und du?
    - Ich auch nicht. Aber da du sonst so viel liest ...
    - Den Don Quijote hat keiner gelesen.
    - Meine Mutter hat immer gesagt, dass sie ihn gerne lesen würde.
    - Und? Hat sie?
    - Nein. Meine Mutter kann nicht lesen.
    - Selbst wenn, hätte das nichts geändert Ich habe eine Sendung im Fernsehen gesehen, und in El Toboso hatte ihn nicht einmal der Bürgermeister gelesen. Und das in El Toboso.



    Wenig später kommen sie nochmals kurz auf das Thema zurück:


    - Hast du Mein Kampf gelesen?
    - Spielt das eine Rolle? Mein Kampf hat niemand gelesen.
    - Den Don Quijote auch nicht.
    - Die wichtigen Bücher muss man nicht gelesen haben, um zu wissen, was drin steht. Genau deshalb sind sie wichtig. Wer hat schon die Bibel gelesen?
    - Die Priester.
    - Nicht einmal die ...



    Könnte glatt als Definition für Klassiker durchgehen: Bücher, die jedermann kennt, aber keiner je liest ...


    Gruss


    riff-raff

    Hallo Tom,


    ich selbst bin diese Woche mit dem letzten Band fertig geworden. Ich muss zugeben, dass ich etwas Gas gegeben habe, weil ich ohne 'Altlasten' in die Don-Quijote-Leserunde starten wollte, die am Samstag beginnt. Rückblickend kann ich sagen, dass ich die Joseph-Lektüre trotz seines Umfangs und seiner gelegentlichen Schwierigkeiten nicht bereue.


    Ich weiss, dass du parallel noch an der Milton-Runde beteiligt bist, aber ich hoffe, dass du fortfährst, über deine Lektüreerfahrungen mit Joseph zu berichten. Ich finde jedenfalls deine Beiträge immer sehr erhellend und pointiert. Und der Roman wird mich auch sicher noch eine Zeitlang weiter beschäftigen, so dass ich vielleicht auch noch den einen oder anderen Gedanken beitragen kann.


    Liebe Grüsse


    riff-raff

    Abgesehen von der göttlichen Vorhersehung, dem Segen von oben und unten, wie es so schön immer wieder heisst, sind es hauptsächlich zwei Eigenschaften, die Joseph im Leben den Weg ebnen und die ihm helfen, die Menschen für sich einzunehmen: sein gutes Aussehen und seine Redegewandtheit. Zweiters stufe ich höher ein. So beruht sein Aufstieg im Hause Potiphar einzig und allein auf einem Gespräch, dass er eines Abends mit dem Hausherrn im Garten führt. Joseph hat eigens auf so einen Augenblick gewartet und als er sich im endlich bietet, lässt er sich nicht lumpen. Böse Zungen mögen behaupten, er schmiere dem Hausherrn gehörig Honig ums Maul, aber ich finde es nicht verkehrt, wenn jemand seine Stärken kennt und sie auch nutzbringend einzusetzen vermag. Und Josephs Stärke ist nun mal sein Verstand gepaart mit einer betörenden Rhetorik.


    Es ist daher bezeichnend, dass er nach seinem Aufstieg zum Stellvertreter des Hausverwalter ganz allgemein als "Mont-kaws Mund" bezeichnet wird.


    Denn das war er nun schon seit Jahr und Tag, und auch sein Auge, sein Ohr oder seinen rechten Arm hätte man ihn nennen können. Die Leute des Hauses aber nannten ihn einfach den "Mund", denn das ist ägyptische Art und Ausdrucksweise, eines Herrn Bevollmächtigten, durch den die Befehle gehen, so zu nennen, und im Falle Josephs wurde ihnen die Gewohnheit aufgefrischt durch den Doppelsinn, den hier der Name gewann; denn der Jüngling sprach wie ein Gott, was höchst wünschenswert, ja ein Lachen und Hochgenuss ist bei den Kindern Ägyptens, und sie wussten wohl, dass er durch schöne und kluge Rede, wie sie sie nicht fertiggebracht hätten, seinen Weg gemacht oder ihn sich doch bereitet hatte beim Herrn und beim Meier Mont-kaw.


    Und nach dem Dahinscheiden des Alten wird Joseph gar zum "Mund des Hauses".


    Zuhause, bei seinen Schafe hütenden Brüdern, hätte er mit seiner Eloquenz wohl kaum gross punkten können. Aber hier, in dieser späten, schon etwas dekadenten ägyptischen Kultur stehen Manierismus und raffinierte Gespreiztheit hoch im Kurs. "Darum war ihm hier gleich als wie dem Fisch im Wasser", heisst es deshalb auch im Text.


    Der Erzähler macht sich sogar lustig darüber, wie leicht die Ägypter zu beeindrucken sind, so ...


    ... dass es für einen aufgelesenen Asiatenjungen nur einer gewissen Durchtriebenheit im Gutenachtsagen und in der Kunst bedurfte, aus null zwei zu machen, um eines ägyptischen Grossen Leibdiener und was nicht noch alles zu werden!


    Thomas Mann war ja selbst ein Sprachzauberer. Ob er aber auch mündlich so versiert war, dazu weiss ich zu wenig über ihn. Es soll ja nicht wenige Schriftsteller geben, die sich bloss auf dem Papier richtig auszudrücken wissen und privat eher wortkarg sind. Ich weiss bloss, dass Mann ein guter Vorleser war, vor allem auch seiner eigenen Werke.


    Gruss


    riff-raff


    Ich finde die Beschreibung der Liebesqualen aus der Sicht Mut-em-enets sehr gelungen.


    Nach einiger Zeit warf die Frau seines Herrn ihren Blick auf Josef und sagte: Schlaf mit mir!


    So lakonisch und mundfaul äussert sich der Erzähler in der Bibel diesbezüglich. Ein einziger Satz, den Thomas Mann zu über hundert Seiten hat anschwellen lassen. Zu Recht, wie ich finde. Im ersten Band des Romans haben wir noch darüber diskutiert, wie schlecht die Frauenrollen bei Mann wegkommen, hier aber erleben wir ihn, wie er Mut-em-enet endlich jene Ehre und Würde wiedergibt, die ihr gebührt. - Zwar, so genau können wir das gar nicht wissen ... Vielleicht war ja Mut wirklich eine so liderliche Person, wie die Bibel andeutet, und hat Joseph tatsächlich so scham- und taktlos angebaggert. Angesichts ihrer sozialen Stellung aber und den überfeinerten ägyptischen Sitten halte ich das eher für ausgeschlossen und bin dankbar über Manns Korrektiv.


    Offen gestanden, erschrecken wir vor der abkürzenden Kargheit einer Berichterstattung, welche der bitteren Minuziosität des Lebens so wenig gerecht wird [...], und haben selten lebhafter das Unrecht empfungen, welches Abstutzung und Lakonismus der Wahrheit zufügen, als an dieser Stelle.


    Und so dauert es bei Mann drei Jahre (und mehrere Kapitel), drei Jahre in denen Mut verzweifelt ihrer Leidenschaft zu widerstehen versucht, ehe es zu obiger Szene kommt:


    Als sie das Wort schliesslich mit zerbissener Zunge flüsterte, kannte sie sich selbst nicht mehr; sie war weit ausser sich, aufgelöst von Leiden, ein Opfer der geisselschwingenden Rachlust unterer Mächte.


    Für einmal seien Mann seine Weitschweifigkeit und Detailversessenheit verziehen, sie bescheren uns einige der bewegendsten Passagen des Romans.


    Andererseits, wenn ich mir überlege, dass Mann die ganze Bibel so überarbeitet hätte ... :smile:


    Gruss


    riff-raff


    Ich finde die Beschreibung der Liebesqualen aus der Sicht Mut-em-enets sehr gelungen.


    Da stimme ich dir völlig zu :winken:


    Amüsant fand ich die Stelle, als Mut-em-enet dem Hohepriester Beknechons beichtet, wie hartnäckig Joseph sich ihren Liebesumstrickungen entwindet, weil er unbedingt seinem Gott treu bleiben will. Der "gewaltige Blankschädel" ist es ja gewöhnt, in grossen Dimensionen zu denken und da kann er gar nicht anders, als Josephs Verweigerung als einen Affront gegen Amun hochstpersönlich aufzufassen, dem ja auch Mut-em-enet geweiht ist. "Im Sinne der Sittenregel und der gesellschaftlichen Ordnung" und als persönlicher Freund Potiphars tadelt er zwar Muts sexuelles Begehren, aber als oberster Priester Amuns müsse er darauf drängen, dass Amuns Ehre gewahrt bleibe und der widerspenstige Ausländer ihm gefälligst seinen Tribut zolle. So müsse er es Mut "gebieterisch abverlangen, dass sie alles, auch das Äusserste, aufbiete, den Störrigen zur Unterwerfung zu bringen [...] und nötigenfalls sei der Säumige auf dem Wege zwanglicher Vorführung zur Willfährigkeit anzuhalten". Er fordert Mut also in aller Entschiedenheit zum Ehebruch auf, selbst wenn man Joseph mit Gewalt zum Geschlechtsverkehr zwingen müsse ...


    Aber als Joseph davon Wind kriegt verstärkt das seine Halsstarrigkeit bloss umso mehr und er findet sich "in seiner Ansicht bestärkt, dass dies eine Sache und Kraftprobe sei zwischen Amuns Grossmacht und Gott dem Herrn, und dass auf keinen Fall und um keinen Preis [...] der Herr, sein Gott, den Kürzeren dabei ziehen dürfe".


    Der Liebeskampf wird zu einem Wettstreit der Götter hochstilisiert. - Wenn das nicht ulkig ist ...


    Gruss


    riff-raff


    Auch Pharaos Sohn, der spätere Echnaton, taucht auf. Joseph weiß sofort, dass er sich auf den künftigen Machthaber konzentrieren muss, wenn er sein weiteres Fortkommen befördern will. Er ist nach wie vor davon überzeugt, im Auftrag Gottes dem "Höchsten" zustreben zu müssen - was für ein Sendungsbewußtsein!


    Joseph ist gewillt, ganz nach oben zu gelangen. Schon als die midianitischen Kaufleute in gen Ägypten führen, hat er beschlossen, "dass, gehe man schon gen Westen, man wenigstens der Erste werden müsse der Dortigen". In seinen Träumen hat ihm Gott schon früh zu verstehen gegeben, dass sich grosse Dinge in seinem Leben erfüllen werden. "Von selbst indessen würden sie es nicht tun, - man musste nachhelfen." Und so entwickelt Joseph einen regelrechten Ehrgeiz, die Karriereleiter so schnell und so hoch zu erklimmen, wie irgendmöglich. Sein Bestreben ist aber nicht so selbstsüchtig, wie man meinen könnte, sondern hängt eng mit seiner Gottesvorstellung zusammen: Je weiter er es im Leben bringt, je mehr Ruhm und Ansehen er erlangt, desto grösser und mächtiger der Gott, der ihm solches prophezeite. Das eine bedingt das andere und umgekehrt. Deshalb heisst es auch im Text, dass "Ehrgeiz" nicht das rechte Wort für Josephs Ambitionen sei, "denn es ist Ehrgeiz für Gott, und der verdient frömmere Namen".


    Kleiner Einschub: Mich hat das an die theologische Bewegung des Calvinismus erinnert, wo wirtschaftlicher Erfolg im Leben als augenfälliges Zeichen dafür gilt, wie sehr Gott einen liebt und bevorzugt, oder eben nicht. Eine für die Ökonomie eines Landes sicherlich äusserst förderliche Einstellung, ansonsten aber mehr als bedenklich, wie ich finde.


    Josephs Drang nach oben und an die Spitze zieht noch eine andere Charaktereigenheit nach sich. Abraham war es ja, der für sich entschied, dass, wenn er sich einem Gott beugen müsse, es nur der Höchste sein solle. Bei Joseph aber scheinen sich oben und unten, göttliche und weltliche Autorität seltsam zu vermischen und eins zu werden. Schon für den Joseph-Jüngling war das Bild, das er sich von seinem Vater Jaakob und von Gott machte, beinahe deckungsgleich. Deshalb sind auch seine schonende Dienertreue und Ergebenheit gegenüber Potiphar (später auch gegenüber dem Pharao) nicht bloss Mittel zum Zweck oder wohlkalkulierte Taktik, sondern Gefühle, die ihm nur allzu natürlich fallen:


    Vor allem war der Ägypter sein Herr, dem er verkauft war, der Höchste in nächster Runde; und die Idee des Herrn und Höchsten schloss für Joseph von Natur und von Alters ein Element liebesdienstlicher Schonung ein.


    Josephs Verhältnis zum "Herrn des Himmels" (Gott), heisst es weiter, habe "in einem gewissen Grade auf das zum Herrn der Feuerräder" (Potiphar) abgefärbt. Eine Unzulässigkeit, die Abraham wohl in den schärfsten Worten getadelt haben würde.


    Gruss


    riff-raff


    Für mich trotzdem erstaunlich dass Joseph nicht gleich hingerichtet wurde, immerhin musste es für die Hausbediensteten wie versuchte Vergewaltigung aussehen, was sicherlich damals kein Kavaliersdelikt gewesen ist.


    Als der Zwerg Dûdu seinem Herrn einflüstert, was sich da hinter seinem Rücken zwischen Joseph und Mut-em-enet abspielt, ja, dass die beiden sogar ein Mordkomplott gegen ihn planen, war ich über Potiphars Nicht-Reaktion sehr überrascht. Er verprügelt zwar den intriganten Zwerg (was ich sehr genossen habe :smile:), aber ansonsten unternimmt er rein gar nichts, jedenfalls lesen wir nichts davon. Erst als die Angelegenheit solche Ausmassen angenommen hat, dass sie sich nicht mehr leugnen oder verdrängen lassen, ist er bereit ein Strafgericht zu halten. Und fällt ein Urteil über Joseph, dass Angesichts der Schwere der Beschuldigungen nur als milde bezeichnet werden kann. Die Bestrafung scheint "nur dem Streben nach Erhalt des gesellschaftlichen Status geschuldet", wie Lost richtig angemerkt hat. Aber wieso?


    Potiphar wurde ja schon als Knabe von seinen Eltern ungefragt zum Eunuchentum verurteil, trotzdem ist er verheiratet. Er weiss, dass es da einige natürliche Dinge gibt, die er Mut-em-enet niemals bieten werden kann. Könnte das nicht zu einer gewissen Nachsicht führen, wenn er jetzt sieht, dass seine Gemahlin zur Befriedigung ihrer rechtmässigen Wünsche als Frau sich anderweitig umsieht?


    Dass die Hauptinitiative bei Mut-em-enet und nicht bei Joseph liegt scheint er zu vermuten, warum ansonsten sein so mildes Urteil gegenüber Joseph? Und dass er Mut nicht bestrafen kann und will liegt auf der Hand, schliesslich ist er ja schuld an ihrem Verhalten, auch wenn er nichts dafür kann. Bezeichnend fand ich es jedenfalls, dass er mit ungewohnter Strenge darauf bestand, dass seine alten Eltern dem Prozess beiwohnen, obwohl sie sich anfänglich dagegen sträuben. So als wolle er ihnen damit zeigen, seht her, was ihr mir mit eurem selbstsüchtigen Verhalten angerichtet habt.


    Gruss


    riff-raff


    Auch erfahren wir, dass Potiphar von den Eltern (den Greisen Huij und Tuij) schon im Kindesalter auf seine Rolle als „Höfling des Lichts“ systematisch vorbereitet wurde. Wenn ich das von Joseph belauschte Gespräch zwischen Huij und Tuij richtig deute, dann gehörte die Kastration Potiphars zu den „Unannehmlichkeiten“, die der angehende Höfling auf sich nehmen musste (oder wie lest Ihr den „kleinen Schnitzer“ sowie die Kinderlosigkeit der Ehe Potiphars mit Mut-em-enet?).


    So habe ich es auch aufgefasst. Huij und Tuij, Potiphars Eltern, sind ja Geschwister und dieser Inzest (wenigstens nach heutigen Massstäben) scheint die Beiden sehr zu beschäftigt zu haben. Einerseits mag ihr Verhalten zwar noch ganz im Einvernehmen mit der Tradition zu stehen


    Denn wir lebten dem Muster nach von Göttern und Königen, ganz im Einklang mit frommer Sitte und zum Wohlgefallen der Menschen.


    andererseits scheinen sich die Moralvorstellungen gewandelt zu haben und vor allem der Bruder, Huij, fürchtet, dass ihr Benehmen "den Mächten neuerer Tagesordnung" nicht mehr ganz genehm sei. Weshalb es sie nach einem Versöhnungsopfer verlangte:


    Unseren Hor, den wir gezeugt als Usir- und Eset-Geschwister im finsteren Grunde, ihn wollten wir entziehen dem dunklen Bereich und ihn dem Reineren weihen. Das war die Abschlagszahlung ans neue Alter, auf die wir uns einigten.


    Aber die erhoffte Gewissensruhe scheint es nicht gebracht zu haben. Und was sie selbsüchtig an ihrem Kind vollstreckten, als sie zum Barch [männl. kastriertes Schwein] das Eberlein machten, da es noch keine Meinung hatte, sondern nur zappelte und sich nicht verwahren konnte., und dadurch auch Mut-em-enet, seiner Gemahlin, zumuteten, der Potiphar schon als Kind versprochen ward, belastet ihr Gemüt jetzt, da es ans Sterben geht, besonders stark, da sie fürchten müssen, im Jenseits dafür zu bezahlen.


    Gruss


    riff-raff


    Im letzten Roman zeigt Manns Joseph wieder seine nur mühsam gedämpfte Überheblichkeit, die sich aus seiner Erwähltheit nährt [...]


    Hallo zusammen!


    Ich bin zwar noch nicht so weit wie Lost, aber der Aspekt von Josephs Auserwähltheit, und dass er einen von Gott vorbestimmten Weg zu folgen hat, tritt auch im dritten Band sehr deutlich zu Tage. Der Band beginnt damit, das Joseph die midianitischen Kaufleute fragt: "Wohin führt ihr mich?". Worauf diese prompt antworten:


    "Wohin wir dich führen? Führen wir dich denn? Wir führen dich doch gar nicht! Du bist zufällig mit uns, weil dich der Vater gekauft hat von harten Herren und ziehst mit uns, wohin wir ziehen. Das kann man doch nicht gut 'führen' nennen."


    Der Unmut der Midianiter über Josephs arrogante Frage ist nur allzu leicht verständlich: Wer möchte schon als blosses Mittel zum Zweck gelten, als Marionette eines Puppenspieler-Gottes?


    Dass die Kaufleute aber genau das sind, unbedeutende Nebenfiguren, blosse Wasserträger und Handlanger, macht der Erzähler mehr als deutlich, nachdem Joseph an Potiphars Haus verkauft wurde:


    Es war getan. Die Ismaeliter von Midian hatten ihren Lebenszweck erfüllt, sie hatten abgeliefert, was nach Ägypten hinunterzuführen sie ausersehen gewesen, sie mochten weiterziehen und in der Welt verschwinden - es bedurfte ihrer nicht mehr.


    Ich weiss ja nicht, wie es euch dabei ergangen ist, aber mir ist diese Stelle äusserst sauer aufgestossen. Wäre ich einer dieser Kaufleute und man würde mir sagen, der Grund weshalb ich geboren und in dieses Leben gesetzt wurde, bestände einzig und allein darin, Joseph nach Ägypten gebracht zu haben - ich glaube nicht, dass mir das als Rechtfertigungsgrund für mein Leben genügte. Aber Joseph spielt nun mal die Hauptrolle in diesem von Gott inszenierten Blockbuster und wie in jedem richtigen Film braucht es nun mal auch hier Statisten und Chargen, welche Die-Pferde-sind-gesattelt-Rolle übernehmen.


    Oder könnte es sein, dass wir es hier mit der berühmten Mann'schen Ironie zu tun haben. Ich bin letzthin zufällig über einen Artikel im Internet gestolpert, der sich mit der Ironie bei Thomas Mann beschäftigt. Normalerweise versteht man unter Ironie, wenn jemand das Gegenteil von dem sagt, was er meint. Aber eine solche Ironie trifft man in Manns Büchern nur selten an, stattdessen - so der Text - inszeniert Mann seine Form der Ironie hauptsächlich durch Über- und Untertreibungen. Falls jemand den Text lesen möchte, hier der Link dazu: http://www.uni-bielefeld.de/li…ke/ironie/uebersicht.html Es finden sich darin auch einige Beispiele aus den Joseph-Romanen.


    Gruss


    riff-raff


    Was bedeutet übrigens der einsame und etwas schroffe Fremde, der Joseph auf dem letzten Stück seines Weges zu den Brüdern begleitet und dann noch einmal als "Wächter" vor dem leeren Brunnenverlies auftaucht?


    Ich kann dazu leider nur Wiederkäuen, was ich in Hermann Kurzkes "Mondwanderungen" gelesen habe. Laut Kurzke handelt es sich bei der Figur um einen Engel. Ich weiss nicht, ob mir das selber auch aufgefallen wäre - wahrscheinlich eher nicht -, aber wenn man es mal weiss, kann man die verstreuten Hinweise kaum mehr übersehen, z.B. als Joseph dem Fremden das Angebot macht, auf seinem Esel zu reiten, was dieser dankbar annimmt, weil ...


    "Ich bin vorübergehend gewisser Erleichterungen im meinem Fortkommen beraubt", setzte er hinzu und rückte die Schultern. :smile:


    Auch die ständigen Seitenhiebe des Fremden auf das perfide Menschengeschlecht werden erst einleuchtend, wenn man sich die alte Aversion/Eifersucht? der Engel gegenüber ebendieser Schöpfung Gottes vor Augen führt.


    Wie an anderen Stellen auch, vermischt Mann hier auch mehrere Mythen miteinander. Die Tatsache, dass der Fremde stiehlt, deutet auf den ebenfalls geflügelten griechischen Hermes hin, der ja nicht nur der Gott der Kaufleute und Reisenden war, sondern auch der Diebe.


    Gefallen hat mir aber auch Losts Assoziation mit dem Fährmann Charon, der in der griechischen Mythologie die Geister der Toten über den Unterweltfluss Styx führt. Das eine Mal führt er Joseph sicher durch die Nacht zu seinen Brüdern. Ein Weg, der für Joseph geradewegs auf den Grund des Brunnens führt, was Mann als Tod und Wiederauferstehung inszeniert. Ein andermal ist er es, der die reisenden Kaufleute - und mit ihnen Joseph - unbeschadet durch die Wüste nach Ägypten führt. Mal abgesehen von der Wüste selbst, welche schon Tod evoziert - wird nicht an einigen Stellen im Buch Ägypten als Totenreich bezeichnet?


    Ich verfolge übrigens eure Kommentare mit grossem Interesse. Habe diese Woche mit dem dritten Band angefangen ...


    Gruss


    riff-raff


    Wollen wir weiterlesen? Ich bin fast durch mit dem ersten Band. Der zweite liegt bereit, ich werde ihn direkt im Anschluss lesen. Wer macht mit?


    Also ich bin auf jeden Fall dabei ... - Habe mit dem zweiten Band begonnen.


    Einige haben jetzt schon länger nichts mehr geschrieben (betrifft mich selbst zwar auch ... :rollen:) Hoffe aber, ihr seid alle noch dabei. Wie weit seit ihr denn mit der Lektüre?


    Gruss


    riff-raff

    Hallo Sir Thomas!


    Schön, dass du dich uns anschliesst :klatschen:


    Du scheinst ja ganz schön bewandert zu sein in Sachen Thomas Mann ... - Ich, zu meiner Schande, muss gestehen, dass "Joseph" mein erster Mann-Roman ist; bislang kannte ich nur die kürzeren Sachen von ihm wie "Tod in Venedig", "Tonio Kröger" usw.


    Warum bezeichnest du eigentlich Jaakob als Ehebrecher? Weil er mehrere Frauen hatte? Oder weil er sich an deren Mägde hielt, wenn diese ihm nicht genügend Nachwuchs bescherten? Das scheint zu jenen Zeiten gang und gäbe gewesen zu sein. Jedenfalls machte das Abraham auch schon so. Andere Zeiten, andere Sitten ...


    Gruss


    riff-raff

    Hallo zusammen!


    Das Buch wimmelt nur so von Götternamen ... Man kriegt das Gefühl, jede Sippe, jede noch so kleine Gemeinschaft hat ihren eigenen Götterreigen, dem sie huldigt. Dabei fällt mir auf, dass überhaupt kein Fundamentalismus oder Sektiererei zwischen den verschiedenen Glaubensanhängern zu herrschen scheinen. Keiner, der dem anderen seine Götter schlecht macht oder ihn zur eigenen Religion zu bekehren versucht. Da ist viel Toleranz und friedliche Koexistenz spürbar.


    Besonders erstaunlich, selbst Jaakob greift in Extremsituationen schon mal auf heidnische Götter zurück. Bei der vermeintlichen Hochzeit mit Rahel, hebt er wiederholt den bestickten Brautschleier und küsst das nackte Bildnis der Ischtat. Bei Rahels erster Niederkunft hat er nichts gegen allerlei magische Pülverchen und Salben einzuwenden und beteiligt sich sogar selber an einigen recht sonderbaren Praktiken (das rituelle Zerschlagen und Vergraben der Labartustatuette). Als Rahel mit Benjamin in den Wehen liegt, der ihr das Leben kosten wird, murmelt er unwillkürlich "einen Text, mit dem man zu Naharin Ea anging in Nöten" ...


    Wie soll man das verstehen? Als ein Rückfall in archaische Muster? Als vorübergehende Glaubenschwäche? Als schierer Prakmatismus im Sinne von, wenn's nicht hilft, schaden kann's auch nicht? Oder die Überzeugung, dass alle Götter nur Emanationen des Einen, des Vollkommenen sind?


    Jaakob scheint in seinem Glauben noch nicht richtig gefestigt zu sein. Irgendwo im Text heist es, glaube ich, dass er an seinem Gottesbilde immer noch arbeite ...


    Gruss


    riff-raff


    Hier würde mich einmal interessieren, wie diese Begebenheit in der Thora geschildert wird. Ich kann mir vorstellen, dass doch einige Unterschiede zu den Büchern Mose aus der Bibel bestehen.


    Hallo Freund Hermann :winken:


    Ehrlich gesagt, ich musste erst mal nachschlagen um überhaupt zu wissen, was die Thora ist ... - Einige scheinen die Thora und die fünf Bücher Mosis (welche den Anfang des Alten Testaments bilden und in jeder handelsüblichen Bibel zu finden sind) einfach gleichzusetzen. Wenn da aber doch Unterschiede sein sollten - vor allem im Zusammenhang mit der Geschichte um Dina -, würde mich das natürlich auch interessieren. Eine deutsche Online-Ausgabe der Thora gibt es anscheinend nicht; hab jedenfalls nix gefunden.


    Gruss


    riff-raff