Ich bin nun mit dem Ersten Teil durch und bin von dem abschließenden 5. Kapitel ganz hingerissen. Es erinnert mich an den Finalakt eines Theaterstücks [...]
Ich finde das macht den Eindruck als wäre man als Theaterzuschauer dabei, aber direkt auf der Bühne! [...]
Ja, Klaus, das ist für mich auch das Entscheidende, was Dostojevskijs Qualität ausmacht: Seine Werke bauen sich als ein riesiger Dialog auf, selbst die spannendsten Handlungen werden meist, wie im antiken Theater, im "Botenbericht" geschildert, [...]
Dostojewski als verhinderter Dramatiker ... Vladimir Nabokov hat dazu Folgendes zu sagen:
Es scheint, als sei er von der russischen Literatur schicksalhaft bestimmt gewesen, Russlands bedeutendster Dramatiker zu werden, aber er schlug einen falschen Weg ein und schrieb Romane.
"aber er schlug einen falschen Weg ein" ... Nabokov, der bekanntlich nie ein Blatt vor dem Mund nahm, macht mehr als deutlich, dass er von Dostojewski, dem Prosaautor, nicht besonders viel hält. Ihrer literarischen Bedeutung nach ordnet er die russische Prosa folgendermassen ein: an erster Stelle steht Tolstoi, dann folgen Gogol, Tschechow und Turgenjew. Sein Urteil über Dostojewskij fällt vernichtend aus:
Dostojewski [ist] kein bedeutender Autor, sondern eher mittelmässig mit dem gelegentlichen Aufblitzen brillanten Humors, aber, ach!, mit Wüsteneien literarischer Plattheiten dazwischen.
Dostojewskis Mangel an Geschmack, die eintönige Art, mit der er immer wieder Menschen darstellt, die an präfreudianischen Komplexen leiden, die Art, mit der er sich in den tragischen Missgeschicken menschlicher Würde suhlt - all dies ist nur schwer zu bewundern.
Wer eines seiner Werke [...] gründlich liest, erkennt, dass der natürliche Hintergrund und alles, was mit Wahrnehmungen der Sinne zu tun hat, kaum existiert. Was es an Landschaft gibt, ist eine Landschaft der Ideen, eine moralische Landschaft. Das Wetter gibt es in seiner Welt nicht, also spielt es auch keine Rolle, wie seine Gestalten sich kleiden. [...] Nachdem er seine Gestalt einleitend beschrieben hat, geht er in Szenen, in denen sie auftritt, nicht mehr auf deren körperliche Erscheinung ein - das ist eine altmodische Technik. Dies ist nicht die Art eines Künstlers wie beispielsweise Tolstoi, der seine Gestalten beständig vor Augen hat und genau weiss, welche Bewegung sie in diesem oder jenem Augenblick vollführen werden.
Was er ihm hier ankreidet, ist aber genau das, was mir an Dostojewski so gefällt ... Keine ellenlangen Landschaftsbeschreibungen, keine minutiöse Darlegung wie die Charaktere aussehen oder sich kleiden ... Lauter Informationen, die Film oder Fotografie doch eh viel besser transportiern und in einem Roman oft regelrecht verschwendet sind - jedenfalls an einen Leser wie mich ... Als letztes habe ich z. B. Anna Karenina gelesen, wenn ihr mich aber fragt ob Lewin blond oder braun war, korpulent oder schmächtig, ob er einen Bart hatte oder nicht ... Keine Ahnung. Auch wenn ich überzeugt bin, dass Tolstoi darauf eingegangen ist ... Dabei habe ich aber trotzdem das Gefühl, ein ziemlich deutliches Bild dieser Figur im Kopf zu haben. Ein Bild, das sich weniger auf sein Äusseres bezieht als auf seine psychische Konstitution. Es würde mir schwer fallen, Lewin zu zeichnen (mal abgesehen von meinem Zeichentalent ...), aber ich könnte ein ziemlich deutliches Psychogramm des Mannes erstellen und das erscheint mir weitaus wichtiger.
Schatow, der immer wegrennt, wenn eine Situation ihn verlegen macht, der immer seinen Blick zum Boden richtet und von anderen als grundehrlich bezeichnet wird. Liputin ist ein Dummschwätzer und Intrigant, unterwürfig und hinterhältig. Kirillow, der Nihilist, der Liputins Geschwätz nicht ausstehen kann und selber in einem seltsamen Stakkato seine Gedanken ausbreitet.
Die Dinge, die Klaus hier beschreibt, dass sind genau die Dinge, die mir von einer Figur in Erinnerung bleiben. Körperliche Merkmale hingegen - ausser wenn sie besonders bezeichnend oder auffällig für eine Person sind, wie das Hinken und die grelle Schminke der Marja Timofejewna Lebjadkina - bleiben mir nicht lange haften. Und wenn zig Seiten nur aus Dialogen bestehen, dann mag das zwar an Theaterstil erinnern, aber man fühlt sich den Charakteren als Leser gleich viel näher und unmittelbarer in die Handlung involviert, als wenn das Ganze von einem Erzähler zusammengefasst und vermittelt wird. Ich persönlich steh jedenfalls auf sowas.
Nabokov kritisiert ebenfalls, dass Dostojewskis Charaktere so statisch seien und keine innere Wandlung durchlebten:
Das einzige, was sich entwickelt, hin- und hertaumelt, unerwartete Wendungen macht, [...] ist die Handlung. Wir wollen stets daran denken, dass Dostojewski letzten Endes ein Verfasser von Kriminalromanen ist, bei denen alle einmal eingeführten Gestalten bis zum bitteren Ende mit allen Merkmalen und persönlichen Gewohnheiten bleiben, wie sie sind [...]. Durch den spannenden Aufbau seiner Handlungen gelingt es Dostojewski, die Aufmerksamkeit des Lesers gefangen zu halten [...]. Wer aber eines seiner Bücher noch einmal liest, also mit den Überraschungen und der Kompliziertheit der Handlung vertraut ist, merkt sofort, dass die Spannung des ersten Lesens dahin ist.
Ich lese Böse Geister nach ungefähr zehn Jahren zum zweiten Mal und habe bisher nichts von einem Spannungsverlust gemerkt, was aber auch gut an meinem schlechten Gedächtnis liegen mag, und dass die Handlung des vorliegenden Romans doch ziemlich vertrackt ist. Ob die Helden wirklich keine Entwicklung durchmachen, darauf muss ich mal genauer achten.
Nabokov stört zudem, dass Dostojewski sich hauptsächlich für krankhafte und abnorme Charaktere, sprich "Psychopathen", zu interessieren scheint ... Er erstellt sogar eine Liste, in der er Dostojewskis Gestalten nach Geisteskrankheiten einstuft: Epilepsie (ist das überhaupt eine 'Geisteskrankheit?), Altersschwachsinn, Hysterie ...
Und natürlich kommen auch Dostojewskis (zu recht kritisierbare) Glaubensbekenntnisse und Ideologieen zur Sprache, die so oft unangenehm in seine Romane überschwappen, wie z. B. sein "reaktonär politisches Slawophilentum" oder dass das Heil der Welt aus Russland und der orthodoxen Religion entspringen wird.
Als einziges Meisterwerk, ja, als "vollkommenes Kunstwerk", lässt er Dostojewskis Erzählung Der Doppelgänger gelten, das ich bisher noch nicht gelesen, mir aber - dank Nabokov - bereits vorgemerkt habe.
Enthalten sind Nabokovs Gedanken zu Dostojewski übrigens in: Die Kunst des Lesens [kaufen='3596902800'][/kaufen], in dem seine Vorlesungen zu verschiedenen Meisterwerken der europäischen und russischen Literatur versammelt sind.
Gruss
riff-raff