Beiträge von xenophanes

    Wagners Ring ist wohl das strukturell komplexeste Kunstwerk der Kulturgeschichte überhaupt. Nur wenige bringen die intellektuelle Energie auf, sich da adäquat einzuarbeiten.


    Zweigs Selbstmord im sicheren Exil war mir immer unverständlich, im Gegensatz zum Suizid Walter Benjamins, der sich vor der sicheren Verhaftung durch die Gestapo sah.


    Tom


    Wenn man glaubt, die menschliche Zivilisation geht komplett zu Grunde, scheint mir das ein sehr guter Selbstmordgrund zu sein...

    Eine meiner größten Buchentdeckungen der letzten Jahre ist das furiose Testament des Jean Meslier. Zwar kannte ich ihn dem Namen nach schon seit meiner Studienzeit als Vertreter der französischen Frühaufklärung, zu einer näheren Beschäftigung mit ihm inspirierten mich aber erst Philip Bloms Böse Philosophen.


    Die erste Überraschung: Eine der brillantesten Religionskritiken der Geistesgeschichte wurde von einem Pfarrer geschrieben! Welche großartige Ironie! 1664 geboren schlug Meslier eine klassische klerikale Karriere ein. Obwohl er von seinem Bischof mehrmals wegen Aufsässigkeiten bestraft wurde, übte er Zeit seines Lebens brav sein Amt aus. So nachlässig wie möglich, wie er in seinen ketzerischen Memoiren betont. Er ist ein brillanter Kopf und durchschaut das Kirchen- und Adelswesen, welches die Armen in Frankreich gemeinsam unter der Knute hält. Ab 1719 setzt er sich bis zu seinem Tode 1729 fast jeden Abend hin und schreibt sein Memoir of the Thoughts and Sentiments of Jean Meslier nieder. Das Ergebnis ist ein hochgradig intelligenter und origineller Text, wie ihn die Geistesgeschichte bis dahin noch nicht kannte. Ein Geistesverwandter war Montaigne, dessen Essais er oft zitiert und dessen Art des Schreibens und Denkens ihn sehr beeinflusste.


    Das Faszinierende an dem knapp sechshundert Seiten langen Buch ist seine Vielfalt: Scharfsinnige philosophische Argumente wechseln sich mit furioser Polemik ab. Das Tempo variiert. Man spürt in jeder Zeile die Empörung des Jean Meslier über die argen Zustände in der Welt. Trotz dieses Ärgers ist sein Denken scharf wie ein Rasiermesser. Das Testament ist eine Enzyklopädie der Religionskritik. Alle bis heute gültigen Argumente gegen Religion im allgemeinen sowie gegen das Christentum im speziellen werden mustergültig dargelegt: Die zahllosen textimmanenten Widersprüche in der Bibel und die gescheiterten Versuche der Theologen, diese weg zu interpretieren. Die zahlreichen schamlosen Übernahmen des Christentums aus anderen Religionen und das Abstreiten dieser Diebstähle. Die abstrusen Dogmen. Die verlogene Ethik. Die unzähligen Widersprüche zwischen Theorie und Praxis.


    Jean Meslier verwendet in erster Linie simple Logik zur Entlarvung. Dabei argumentiert er, trotz seiner Wut, mit einer intellektuellen Sorgfalt, die bewundernswürdig ist. Viele seiner Argumente setzen von innen an: Er greift religiöse Behauptungen auf und widerlegt sie intrinsisch. Er baut kein atheistisches Kartenhaus daneben auf, sondern zieht solange die Karten aus dem religiösen Kartenhaus, bis es zusammenstürzt. Ein weitere Strategie ist eine historische: Er stellt das Christentum in den geschichtlichen Kontext mit anderen Religionen und geschichtlichen Entwicklungen. Schließlich zeigt er immer wieder überzeugend auf, welchen wahren Interessen die Religion dient und wie diese zur Machterhaltung von Monarchen und Tyrannen systematisch verwendet wird.


    Mehr zu dem Buch gibt es hier:


    http://www.koellerer.net/2012/…onskritiker-jean-meslier/

    Moin!


    Ein kurzer Hinweis: Ich habe hier in den letzten Jahren viel auf meine Notizen verlinkt, und mehrmals pro Woche werden Links aufgerufen (es lebe Web Analystics), die dann ins Leere laufen. Ich sehe das und aktualisiere die Links dann jeweils. Es gab durch die Umstellung auf das Blogformat einen Bruch in der Verlinkungssystematik.


    CK

    Franz Schubert: Briefe. Tagebuchnotizen. Gedichte.
    Joseph Roth: Der stumme Prophet.
    Simon Sebag Montefiore: Jerusalem: The Biography.
    Laurence Sterne: Leben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentleman.
    Christopher Hitchens: Arguably: Selected Essays.
    Jean Meslier: Testament. Memoirs of the Thoughts and Sentiments of Jean Meslier.


    Weiß schon, etwas viel auf einmal :breitgrins: