Beiträge von Gontscharow


    Zu Weidermann: Ich hatte eine Novelle erwaret. Frag mich nicht, warum. Irgendwoher hatte ich im Kopf, dass er eine Novelle zu Stefan Zweig und Joseph Roth geschrieben habe.


    Zum Glück hat er das nicht! Mir sind solche Fiktionalisierungen äußerst suspekt, "parasitär" hat Luis Borges sie einmal genannt. Weidermann hätte für meinen Geschmack noch sachlicher und distanzierter schreiben können; er erzählt streckenweise romanhaft, und verfällt schon mal - altmodisch anmutend - in die erlebte Rede. Beispiel:


    Sie hieß Marcelle…Eine phantastische Frau. Nichts zum Heiraten, um Himmels Willen, nein, es war eher eine novellistische Sache. Eine Geschichte, über die man später einmal würde schreiben können usw.


    Das von dir, Newman, zitierte Beispiel für „Schönschreiberei“ geht in dieselbe Richtung. Da wird etwas überflüssigerweise aufgemotzt, was per se äußerst interessant, berührend und erschütternd ist.
    Über Roth und die anderen, ihre Zeit in Ostende, ihren weiteren Lebensweg etc. habe ich nichts erfahren,was ich nicht schon vorher wusste, bis auf einige Details vielleicht, z.B. dass Tollers Freundin strickte. :zwinker:
    Am interessantesten fand ich das letzte Kapitel, das beschreibt, wie Ostende heute aussieht, was es alles nicht mehr gibt etc . Ich möchte festhalten, dass Weidermann die empörende Tatsache an den Schluss seines Buches stellt, dass Überlebende wie Hermann Kesten u.a. später von der Gruppe 47 abgelehnt wurden, ähnlich wie wir das hier im klassikerforum für Celan,Thelen, Raeber festgestellt haben!

    Ich bin schon seit Jahrzehnten(?) eine glühende Joseph Roth-Verehrerin. Den Radetzky-Marsch halte ich neben Hiob für einen seiner besten Texte, wenn nicht für den besten.. Aber auch (fast) alles andere von ihm finde ich wunderbar, vor allem den Leviathan, das falsche Gewicht, Tarabas und Juden auf Wanderschaft,sein Essay über das osteuropäische Judentum.
    Bei der Lektüre Isaak Babels jetzt kürzlich war ich fasziniert von der Tatsache, dass der Erzählzyklus Reiterarmee aus dem polnisch-russischen Krieg zum größten Teil dort zu verorten ist, wo auch Joseph Roths Erzählungen spielen, nämlich in den Schtetln Galiziens und dass Namen fallen wie Lemberg, Brody (Roths Geburtsort) etc… Eine der eindrucksvollsten Figuren aus der Reiterarmee, der Sohn des Rabbi (aus der gleichnamigen Erzählung), der Rotarmist geworden ist, kommt fast genauso in Tarabas von Roth vor...

    Zitat von Zitat von: GinaLeseratte am 1. Februar 2015

    Staunen im positiven Sinn hoffe ich, oder?


    Ja. Schon lange wollte ich Isaak Babel lesen. Meine ohnehin positiven Erwartungen sind weit übertroffen worden. Mein Staunen gilt der poetischen, expressiven, wenn nicht gar expressionistischen Sprache Babels in Kombination mit seiner schonungslosen Berichterstattungsprosa, der politischen Brisanz seiner Themen, seinem bei aller scheinbaren Kaltschnäuzigkeit immer humanen empathischen Blick auf die Menschen.


    Zitat von Newmanam 1. Februar 2015

    Isaak Babel ist hervorragend. Ich habe aber davon Abstand genommen, diese neue Sammlung zu erwerben, weil ich bereits die 'Reiterarmee' in einer wunderschönen Ausgabe von der Friedenauer Presse habe. Die Erzählungen der 'Reiterarmee' sind aber in diesem Band auch enthalten, daher war es mir zuviel Doppelung.


    Ja, der Zyklus Reiterarmee in der hervorragenden Übersetzung von Peter Urban, zuerst in der Friedenauer Presse erschienen, ist das Herzstück der Sammlung, macht aber nur etwa ein Drittel des Volumens aus! Die übrigen „sämtlichen“ Erzählungen und ein Romanfragment sind neu und „einheitlich“, soweit ich das beurteilen kann, ebenfalls hervorragend übersetzt von Bettina Kaibach. Sie sind mindestens so lesenswert wie die wunderbare „Reiterarmee“. Unglaublich, wie vielseitig Babel war. Bürgerkrieg Revolution, Zwangskollektivierung, Vernichtung der Kulaken, Hungersnot und vieles mehr, was man vage aus Geschichtsbüchern kennt, wird konkret, bekommt ein Gesicht in der schlaglichtartigen Schilderung von Einzelszenen und -Schicksalen… Ab Mitte der dreißiger Jahre verstummte Babel, 1939 wurde er verhaftet und1941 in der Lubjanka exekutiert, seine Manuskripte (wahrscheinlich) verbrannt.
    Mich würde interessieren, wie Russland mit dem literarischen Erbe umgegangen ist bzw. umgeht, ob Babel aufgelegt und gelesen wird…

    Nein, die Biographie von Alexis Schwarzenbach kenne auch ich nicht. Angeregt durch Eure Beiträge und weil ich meinte, von jemandem gleichen Namens schon einmal irgendwo etwas gelesen zu haben, kramte ich meine Annnemarie-Schwarzenbach-Bücher hervor. Und was finde ich säuberlich zusammengefaltet in dem schönen Bildband Unsterbliches Blau über ihre Reise nach Afghanistan? Einen Zeit-Artikel aus dem Jahre 2008 verfasst vom Historiker Alexis Schwarzenbach über seine Großtante. Er beginnt so:


    Zitat von Zeit-Artikel 2008

    Bevor ich mit fünfzehn zufällig auf ein Buch von Annemarie Schwarzenbach gestoßen bin, wusste ich nicht, dass die Schwester meines Großvaters Schriftstellerin war. Sie sei früh an den Folgen eines Fahrradunfalls gestorben, hieß es nur. Ich hatte keine Ahnung, dass sie 1939 in einem Ford Cabriolet von Genf nach Kabul gefahren war. Und dass sie lesbisch, drogensüchtig und sehr zum Leidwesen ihrer hitlerbegeisterten Mutter [Renée Wille], Antifaschistin gewesen ist, wusste ich erst recht nicht…


    Ein informativer, anrührender, intelligenter Artikel, der Lust auf mehr macht!



    hallo Gina,
    nein, dieses Biographie kenne ich noch nicht. [...]wäre zu überlegen, ob ich mir diese zulege.
    ....



    Hallo Maria,
    bei der Überlegung bin ich auch angelangt. Die Verlockung ist groß.
    ...


    Jetzt bin ich auch angefixt. :zwinker:


    P.S: Ein Buch, von dem in diesem Thread, soweit ich sehe, noch nicht die Rede war: A.S.: Insel Europa. Reportagen und Feuilletons 1930-1942. hrsg. von Roger Peret. Lenos Verlag.
    Sehr lohnend! Z. B. berichtet A.S. über den Schriftstellerkongress 1934 in Moskau, den sie mit Klaus Mann besucht oder sie schreibt über den Anschluss Österreichs, den sie als Augen-und Ohrenzeuge miterlebt und über eine Fahrt durch das “befreite“ Österreich

    Eine recht interessante positive Rezension von Houellebeqcs neuem Roman unter dem Titel: Abgesang auf das abendländische Europa
    jetzt auch beim vertrauenswürdigen deutschlandradio kultur:


    …Dieser Roman[…]beschreibt auch eine Huysmans-Nachfolge in der Dialektik von Décadence und Bekehrung[…]. Islam deshalb, weil er ein bequemes Leben verspricht. Die Glaubensinhalte selbst sind ganz unwesentlich.
    Die Listigkeit dieses Romans, seine Doppelbödigkeit als polemische Zukunftsphantasie und literaturgeschichtlich inspirierte Huysmans-Kontrafaktur, seine unerwarteten Volten, schließlich die ihm jäh zugewachsene politische Brisanz, über der man seinen Witz nun erst recht nicht vergessen darf: all das macht "Unterwerfung" zu einer ebenso auf- wie anregenden Lektüre.


    Der ganze Artikel: http://www.deutschlandradiokul…ml?dram:article_id=308835


    :klatschen:


    Jau, schon klar :breitgrins::
    [i]Kein rechter Deutscher mag den Franzen leiden/ doch seine Weine trinkt er gern…[/i]( Auerbachs Keller)
    :trinken:


    Welches Selbstmarketing meint Ihr? Für den zeitgleich mit Erscheinen seines neuen Buches geschehenen Terroranschlag kann Houellebecq nichts. Und aus der Öffentlichkeit hat er sich danach zurückgezogen.


    Genau, und die Promotion seines Buches ausgesetzt.
    Ich halte ihn überhaupt für unterschätzt und verkannt. Gut, durch sein Auftreten und provokante Äußerungen hat er vielleicht selbst zu dem Negativimage beigetragen, das ihm anhaftet. Dieser Artikel aus der taz versucht gegenzusteuern und spricht mir aus der Seele.
    Houellebecqs Buch Plattform, eine bitterböse Satire auf die Kompliziertheit von Liebesbeziehungen in unseren Breiten, fand ich damals recht amusant und mehr als das. Soumission habe ich bestellt. Schon, dass der Protagonist, ein frustrierter vereinsamter Literaturwissenschaftler, der sich mit Huysmans(!) beschäftigt, zum Islam konvertiert, weil das sein(Liebes-) Leben vereinfacht ( so in etwa), finde ich reizvoll.
    Erstmal lese ich aber das kleine Büchlein Lettre ouverte a ma femme von vor zwanzig Jahren noch mal. Text und Zeichnungen von Wolinski, einem der getöteten Zeichner von Charlie Hebdo.


    Was muss man im Zweitberuf sein, um sich auf diese Weise echauffieren zu können - Deutschlehrer, Leserbriefschreiber? Ein nachlässiges Lektorat kann natürlich ärgerlich sein, noch seltsamer will mir aber dieses freudige Sich-Einnässen beim Finden eines Grammatik-Syntax-Orthographie-Fehlers erscheinen. Gut, ich war auch stolz, als ich als 8jähriger in der Volksschule eine Urkunde bekam für meine Rechtschreibkünste. Aber im fortgeschrittenen Alter sein Selbstbewusstsein durch das Aufdecken echter oder vermeintlicher Grammatikfehler aufzupolieren? usw.


    Hallo JHNewman und alle anderen Beiträger des Sammelthreads zur Rettung der Kasuskongruenz!


    Wer sich hier in Wahrheit freudig einnässt, weil er etwas gefunden hat, worüber er sich echauffieren und woran er sein Selbstbewusstsein aufpolieren kann, ist sb oder orzifar aus dem Nachbarforum, der nun schon zum wiederholten Male in der oben zitierten Art hier und dort Mitglieder beleidigt, vergrault und zum Schweigen gebracht hat. Das möge hier bitte nicht geschehen!


    Ich liebe Sprachen mit casus wie Deutsch, Russisch, Latein und Griechisch. Fälle bereichern die Sprache und machen sie poetisch und geschmeidig. Den schleichenden Niedergang der Fälle im Deutschen, der wahrscheinlich nicht aufzuhalten ist, sehe ich mit Bedauern. Deshalb bin ich froh, dass sich hier ein Fähnlein aufrechter Sprachhüter und -liebhaber gefunden hat. Bitte macht weiter! :klatschen:


    P.S.
    In einigen Fällen bin auch ich der Meinung, dass es sich um elliptische Formulierungen handelt, bei denen eine Inkongruenz des Falles möglich ist.


    Hat jemand den Artikel gelesen? Falls ja, ist er lesenswert?


    Ja. Neues über Kafka hab ich zwar nicht erfahren, aber die Biographie von Stach scheint gut zu sein. Und Volker Hages Besprechung ist informativ, klar und vernünftig, vernünftiger als der reißerische Titel vermuten lässt.

    Zitat von Karamzin« am: Gestern um 22:04 »

    Caroline von Wolzogen,:herz:die eine so begnadete Schriftstellerin war, dass Friedrich Schlegel annahm, ihre "Agnes von Lilien" sei von Goethe - haben wir eigentlich schon einen Thread für sie, hat noch jemand Caroline von Wolzogen gelesen?


    Wie Du vielleicht bemerkt hast, existiert, um nicht zu sagen, dümpelt im Nachbarforum litteratur.ch seit anderthalb Jahren eine Leserunde zu den Horen vor sich hin. Wir sind jetzt ( quasi zeitgleich) im Augustheft 1796. Im Oktober beginnt Agnes von Lilien von Caroline von Wolzogen. Da wir im Laufe der Horen-Lektüre den Eindruck gewonnen haben, dass mit fortschreitendem Bestehen der Zeitschrift immer mehr literarisch Zweitrangiges dort Aufnahme findet, sahen wir dem Roman mit einigen Befürchtungen entgegen. Dass Du ihn hier empfiehlst, gibt ja zu hoffen! :klatschen:
    Willst Du ab Oktober nicht mitmachen?


    Das habe ich ehrlich gesagt nicht verstanden wie man sich so beeinflussen lassen kann.


    Schon mal was von dem Phänomen „selffullfilling prophecy“ (http://de.wikipedia.org/wiki/S…%C3%BCllende_Prophezeiung)
    gehört? So sollen wir das wohl verstehen. Der Erzähler 'wundert' sich übrigens selbst einige Male über die "prophetische" Namensgebung bzw Totemwahl der Pfadfinder, läßt im übrigen aber offen, ob die Übereinstimmungen zwischen Bruder und Totemtier prophetisch schicksalhaft im Sinne eines Omens oder zufällig oder sonst was sind.
    Dieses Jonglieren mit bedeutungsschwangeren Bezügen ist es unter anderem, was mir an dem Buch nicht behagt..


    Ich habe heute mit Koala von Bärfuss angefangen. Wenn man sich erst mal an die Verschachtelung der Sätze gewöhnt hat ...


    Der Ich- Erzähler verfällt am Anfang wohl in den hypotaktischen Stil Kleists, über dessen Selbstmord (und Hypotaxe) er einen Vortrag halten muss. Das gibt sich im Laufe des Buches. Es kommt alles ganz anders.
    Habe das Buch eben ausgelesen, will nicht vorgreifen und bin gespannt, wie es Dir gefällt.


    Was ist denn mit Euch los? Die Dame ist gerade mal 66 Jahre alt. Verwechselt Ihr sie vielleicht mit Gertrud Fusenegger (1912-2009)??


    Danke @newman. Du bist mir zuvorgekommen. Ich hatte diese Antwort auf Lager:



    Was soll das? Die Frau ist 66. Bei z.T. zwanzig und mehr Jahre älteren männlichen Kollegen wie Grass, Walser, Lenz, die hier anstandslos gelesen werden, wird die Frage nicht gestellt. Ich weiß, sandhofer, Du mochtest Deine Landsmännin schon vor dreißig Jahren nicht…


    Werde jetzt mal in ihren Panischen Frühling, von dem Ihr befallen zu sein scheint, hineinlesen. :zwinker:

    [quote= finsbury, 9. Juni 2014, 19:22]Was ist mit den anderen LR_Teilenehmern eigentlich? Alle schon fertig?[/quote]


    Nun will ich mich auch endlich zurückmelden. Die Wanderjahre habe ich schon vor etwa drei Wochen ausgelesen. Mindestens zwei Wochen war ich aus verschiedenen Gründen vom Internet und damit von der Leserunde abgeschnitten. Umso erfreuter war ich jetzt festzustellen, dass noch Leben in der Bude, die Leserunde noch nicht geschlossen ist.


    Euren Kommentaren kann ich in (fast) allem zustimmen. Wie Ihr, finsbury und karamzin, staune ich über die Aktualität Goethischer Kritik am Wirtschafts- und Finanzwesen und der kulturellen Kurzatmigkeit seiner Zeit und freue mich an der Treffsicherheit von Formulierungen wie „Durchrauschen des Papiergeldes“ „veloziferisch“ u.ä.

    Ich teile Dein Unbehagen am dritten Buch,@ newman, an der Auswanderungs- und Umsiedlungseuphorie und -rhetorik, die, wenn nicht unfreiwillig komisch, dem heutigen Leser eher peinlich ist:

    Wer gehorchet der erreicht es,/ Zeig ein festes Vaterland./ Heil dem Führer!/ Heil dem Band...

    Faschistoides findet sich allerdings in utopischen Texten häufig (auch bei Plato, auch bei Campanella etc). Goethe war kein Demokrat, das zeigt sich wieder z. B. an seinen Betrachtungen zur „Volkheit“ (scheußliche Wortschöpfung), aber immerhin gilt für die Wanderjahre: die wichtigste, allumfassende Maxime der päd.Provinz, die oberste vierte(!) Ehrfurcht lautet: Ehrfurcht des Menschen vor sich selbst.


    Ja, ich empfinde wie newman Makariens Archiv( und die Betrachtungen im Sinne) als Höhepunkt.


    [quote=JH Newman,12. Juni 2014, 10:15]Hier kommt Goethe wieder zu dem, was er im Tiefsten sagen will.
    [/quote]
    Und hier reflektieren sich die Wanderjahre. Im Grunde könnte man eine Interpretation der WJ schreiben entlang der Aphorismen:

    Alles ist gleich, alles ungleich, alles schädlich und nützlich…... Und was man von einzelnen Dingen bekennt, widerspricht sich öfters.
    (Zum Thema Widersprüchlichkeit in den WJ)


    Es ist nicht genug zu wissen, man muss auch anwenden, es ist nicht genug zu wollen, man muss auch tun.
    ( zur Wertschätzung des Handelns in den WJ)


    Eine allgemeine Ausbildung dringt uns jetzt die Welt ohnehin auf… das Besondere müssen wir uns zueignen.
    (Wilhelm, die Oberen, Montan)


    Steine sind stumme Lehrer, sie machen den Beobachter stumm, und das Beste, was man von ihnen lernt, ist, nicht mitzuteilen.
    (Montan)


    Man wird nie betrogen, man betriegt sich selbst.
    ( Die pilgernde Törin, Der Mannn von fünfzig Jahren etc)


    Was einem angehört, wird man nicht los, und wenn man es wegwürfe.
    ( (Leonardo und Nachodine u.a, die Kästchen und Schlüssel.)


    Die Reihe ließe sich fortsetzen. Dies sind jetzt nur einige, vergleichsweise flache Reflexionen. An die wirklich"tiefen" ( über die Analogie alles Existierenden, zarte Empirie und das reine Anschauen u.a.) und ihre Entsprechungen in den Wanderjahren traue ich mich nicht, wäre auch zu langatmig.


    Ich habe die Wanderjahre gerne gelesen. Sie strahlen eine wunderbare Ruhe aus - selten bin ich über einer Lektüre öfter eingeschlafen - nach dem (geheimen) Motto : Alles ist gut, wie es ist, auch wenn es sich hier um einen Bildungs-und Erziehungsroman handelt: der Mensch in seinem dunklen Drange kennt und findet seinen Weg ohnehin und sowieso. Hat man sich eigentlich schon mal Gedanken darüber gemacht, warum der seine Lehr- und Wanderjahre absolvierende Wilhelm ausgerechnet Meister heißt?

    Es ließe sich noch unendlich viel zu dem Roman sagen. Ich hoffe auf Karamzins Fazit und, wer weiß, vielleicht gibt ja der eine oder andere Leserundenteilnehmer noch etwas zum besten.

    Zur Passage Am Lago Maggiore (II,7):
    Die Passage ist stark autobiographisch eingefärbt: eine Italienische Reise en miniature . Z. B. wird Wilhelm von einem Maler begleitet, der Eindrücke im Bild festhält. Diese Konstellation haben wir auch in der Italienischen Reise. Goethe reiste nach Sizilien mit Christoph Heinrich Kniep. Er sollte die Eindrücke zeichnerisch „sichern“ .
    Wilhelms Maler wird am Ende mit den Bildern zu Natalie geschickt. Erinnert an Goethes Korrespondenz nach Weimar, wohin regelmäßig Eindrucks- und Befindlichkeitsberichte gingen.


    Zur Pädagogischen Provinz (II,8)
    Goethe nimmt sein Verwirrspiel, die drei Oberen betreffend, wieder auf. Finsbury zitierte aus der ersten Pädagogischen Provinz-Passage und monierte die Unlogik:

    Da sich der Obere nicht erreichen ließ, sagte der Aufseher: … doch will ich euch zu den Dreien bringen, die unsern Heiligtümern vorstehen… und sie zusammen stellen den Obern vor.


    Jetzt heißt es:


    Hier vernahm er nun, dass der Obere sich gegenwärtig bei den Heiligtümern befinde, dort unterweise, lehre, segne, indessen die Dreie sich verteilt um sämtliche Regionen heimzusuchen …..


    Stärker als im ersten Zitat, wird hier deutlich, dass Goethe, wie bereits vermutet, die drei „Oberen“ als Vierer-Ordnung, als Quaternio aufgefasst wissen will. Ich habe inzwischen in Brandts klugem Buch Die Macht des Vierten ( siehe mein posting vom 11. Mai) geblättert. Es gibt einen Beitrag über Goethe. Besonders im Märchen, in Faust II und in den Wanderjahren sowie in der Farbenlehre soll das Denkmodell 123/4 vorherrschend sein. Dein Zitat, finsbury ,wird u.a. als Beleg zitiert! :zwinker:


    Wenn ich ehrlich bin, ist mir die Pädagogische Provinz mit ihrer totalitären Reglementierung und Gängelei nicht geheuer. Vielleicht tu ich ihr unrecht, aber ich musste manchmal an die Strafkolonie, an Arbeit macht frei und Jedem das Seine denken. Wie geht man mit einem Satz wie diesem um:


    ,,,eine müßige Menge, vielleicht gar einen Pöbel […], dergleichen sich bei uns nicht findet; denn solches Gelichter wird, wenn es nicht selbst sich unwillig entfernt, über die Grenze gebracht.


    Festung Europa. Schön, dass wenigstens die Verteufelung des Theaters nicht ganz kritiklos hingenommen wird:

    Mag doch der Redakteur dieser Bogen hier selbst gestehen: dass er mit einigem Unwillen diese wunderliche Stelle durchgehen lässt…


    Und mit einer gewissen Erleichterung habe ich gelesen, dass Ihr, finsbury und karamzin, eine gewissen Ironie in dem Bericht zu spüren meint.


    Die in einen Tag zusammengedrängten Jugenderlebnisse, die Wilhelm im Brief an Natalie (II,11) schildert, sind wirklich stark, erschütternd, herzergreifend. Es sind Urerlebnisse, das „erste Aufblühen der Außenwelt“, ein erstes intensives Wahrnehmen der Natur, der Schönheit des menschlichen Körpers, auch des eigenen gespiegelt im Blick des anderen, das Vorgefühl von Freundschaft und Liebe, das Gefühl von Schuld, „leidenschaftlichem Schmerz“ und schließlich Verlust und Tod.


    Zitat von finsbury)

    Die Szene mit dem Fischerssohn hat schon fast etwas Homoerotisches


    Warum fast? Die Szene lässt an Intensität und Eindeutigkeit doch nichts zu wünschen übrig, sie schildert das Entdecken von Nacktheit und Erotik, Homo-und auch Autoerotik, in wilder gefährlicher Umgebung in einer Intensität, dagegen wirkt der Hetero- Flirt mit der standesgemäßen Pfarrerstochter in der Geborgenheit des wohlbestellten Gartens zahm, fast wie eine Pflichtübung. Wie dem auch sei, mir gefällt außerordentlich, was Goethe da geschrieben hat, vor allem die Toleranz und Souveränität, mit der er das Thema angeht , das möchte ich nicht schmälern und verwischen.


    Die Übergangs-Aphorismen-Sammlung hat mir gut gefallen. Ich mag Aphorismen allgemein und speziell die von Goethe. Inwiefern diese Betrachtungen zu Kunst, Ethischem und Natur allerdings im Sinne der Wanderer sind, hat sich mir nicht erschlossen.


    Ich beginne jetzt mit dem dritten Buch.
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    Die andere Lektüre ist aber so interessant, dass ich jetzt vorläufig entgültig mit dem Wandern aufhöre.


    Schade, Lost. Aber "vorläufig endgültig" lässt ja hoffen! :zwinker: