Ups, nun ist passiert, was ich befürchtet hatte, Ihr seid (fast) durch und ich komme mit meinen Kommentaren zu spät. Ich poste trotzdem mal, was ich vor einpaar Tagen begonnen habe zu schreiben:
Zwar immer noch nicht ganz genesen, möchte ich eine halbwegs klare Phase zum Posten nutzen, bevor Ihr mit dem Luftschiffer durch und auf und davon seid.
Es ist Pferdearbeit, einen Sterne, einen J. Paul zu lesen(Vischer,Ästhetik 1858) im Vergleich zur Hesperus -Lektüre finde ich es diesmal- trotz Fieber und Brummschädel- bedeutend einfacher, was an der additiven Form des Werks, den quasi in sich abgeschlossenen kurzen Kapiteln liegen mag.
Zum derzeitigen Lesestand:
Zitat von finsburyErstmal sind der Brocken und der Harz insgesamt ja wichtige Topoi in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts
Zitat von mariaHeine und Goethe kamen mir auch sogleich in den Sinn bei der 6. Fahrt.
Ja, das Brocken- Kapitel mit seiner Schauerromantik weckt allerlei Reminiszensen. Im Goethezeitportal gibt es unter der vielversprechenden Rubrik Orte kultureller Erinnerung ein schön gemachtes Kapitel über den Brocken wo allerlei erklärt wird, z.B. auch das Phänomen des Brocken-Gespenstes, und Literaten Erwähnung finden, die dort waren bzw am Mythos Brocken mitgestrickt haben. Jean Paul mit seinem Giannozzo ist, soweit ich sehe, nicht dabei. Mir völlig unverständlich!
Apropos Gespenst/ Gespensterglauben:
Zitat von MariaInteressant was über den Aberglauben dort gesagt wird, dass Jean Paul diesen nicht ablegen konnte, er fürchtete sich vor Gespenster, obwohl man anderes hätte erwarten können. In seiner Zeit fielen die geistigen Bewegungen der Aufklärung, des Sturm und Drang, der Klassik, der Romantik.
Zitat von ginaIch hätte auch nicht gedacht, dass Jean Paul abergläubisch war. Mit seinem kritischen Blick wirkt er so aufgeklärt, fast modern - da passen Gespenster nicht recht ins Bild.
Von Aberglauben würde ich nicht sprechen, weil der Begriff die Existenz eines allgemein anerkannten, allein seligmachenden Glaubensinhalts voraussetzt .J.P.s Vorliebe für und Furcht vor Geistererscheinungen steht auch nicht unbedingt im Gegensatz zu seinem modern anmutenden Skeptizismus. Am Ende des Spuks auf dem Brocken heißt es:Mich schauderte dieses tragisch-komische Konterfei und Fieberbild des Lebens und die äußere Nachäffung meiner Gedanken. Geistererscheinungen sind für J.P. also eher Produkte , quasi nach außen gestülpte Teile der eigenen Psyche. Auch Dein Zitat, Maria geht ja in die Richtung:
Zitat von mariaWie findet ihr diesen Satz..." und das Ich sagte zu sich selber: ich bin gewiß der Teufel; schrieb ich nicht vorhin? -" (6. Fahrt)Ich finde, das ist überrascht modern gedacht für die damalige Zeit über das Ich-Bewußtsein nachzudenken, oder?
Ja , das mutet „modern" an,besonders auch die Selbstverständlichkeit und Beiläufigkeit, mit der der Teufel zu einem Teil des menschlichen Innenlebens deklariert wird. Was das Giannozzio'sche Brockengespenst angeht, so tanzt es - dem Ort gar nicht angemessen - Menuett, ihm wächst ein Zopf, es schickt sich an zu minaudieren – eine Karikatur des verhassten „ancien regime“ !?
Weiter bin ich dann damals nicht gekommen, habe aber inzwischen bis zur neunten Fahrt weitergelesen. Ich mach mal da weiter:
Zitat von finsburyFrech ist auch der Angriff mit der Marseillaise auf die Festung Blasenstein während der neunten Fahrt
Ja, frech ist der richtige Ausdruck.Ich muss sagen, dass mir das Büchlein wegen solcher Stellen außerordentlich gut gefällt.Unfassbar, dass es so wenig bekannt ist.Ich kannte es nicht mal dem Namen nach.Dabei steht es als Satire auf die politisch sozialen Zustände am Anfang des neunzehnten Jahrhunderts in der deutschen Literatur sicher allein und einmalig da! Nicht nur die Kleinstaaterei,Duodezfürstentümer, die man bei einmal Wasserlassen überfliegen kann, werden aufs Korn genommen, auch die höfisch provinzielle Gesellschaft, das spießige Bürgertum, die lauen Aufklärer kriegen ihr Fett weg. Jean Paul nennt seinen Giannozzo zwar irgendwo einen Mysanthropen. Aber ist jemand , der wie er Ungerechtigkeit, Ausbeutung und Unterdrückung anprangert, nicht eher ein Menschenfreund?
[quote= Jean Paul, Giannozzo, 2. Fahrt] Schon drunten war ich oft imstande, tagelang die Stube auf- und abzulaufen und die Faust zu ballen, wenn ich [... ]über Ungerechtigkeit und Aufblasung reflektierte und mir die greuliche Menge der Schnapphähne und der Krähhähne vorsummierte, die ich in so vielen Ländern und Zeiten muß machen lassen, was sie wollen, [...] ungestraft saugen, stechen, stoßen und rupfen; – wie sie[...] sogar den Schrei des Menschenschmerzes in das Brüllen einer wilden Tierstimme verkehren?[/quote]
Klingt das nicht fast nach "Friede den Hütten ,Krieg den Palästen"? Menschenfreundlich ist auch die bittere Satire auf die Todesstrafe durch Erhängen in der fünften Fahrt.Und dann im siebten „idyllischen“ Kapitel der Flug über das Schlachtfeld, übersät mit Leichen,(die auch noch gefleddert werden)!Das hat mich sehr beidruckt undan alle möglichen Kriegsschauplätze(auch heutige) denken lassen!Danke @ Maria für die Erwähnung der Scheiterhaufen, die G. vom Brocken aus lodern sieht.Alles was die 'Menschheit schindet, kommt in dem schmalen Band zur Sprache!und lässt den Luftschiffer immer wieder „abheben“ ...Fortsetzung folgt