Auch wieder ein absichtlicher Bruch der Formalismen: Am Ende des 28.Hpt kommt nun endlich die Vorrede zum dritten Heftlein, das bereits seit 80 Seiten andauert.
Wie der im eilften Hundposttag versteckte zweite Schalttag, die mit dem vierten Schalttag "verschweißte" Vorrede zum zweiten Heftlein, (auch die Vorrede zum dritten wird dann mit dem anfallenden Schalttag gleichgesetzt), überhaupt die nachgetragenen Vorreden, die alphabetische Ordnung der „Extraschösslinge“, die schon beim Buchstaben H über den Haufen geworfen wird, die diversen Extrablätter etc - all diese System- und Ordnungseinteilungen scheinen nur eine Funktion zu haben, nämlich sich selbst ad absurdum zu führen und Verwirrung zu stiften.
Leser kann man nicht genug betrügen, und ein gescheiter Autor wird sie gern an seinem Arm in Mardereisen, Wolfgruben und Prellgarne geleiten
heißt es im 12. Hundposttag. Kein Wunder, dass Jean-Paul meint, seine Leser foppen, täuschen und dadurch quasi wachrütteln zu müssen, stellt er doch über sie später, im 26.Hundposttag, fest:
Wenn man überhaupt selber zusieht, wie sie einen lesen - nämlich noch fünfmal elender, gedankenloser, abgrissener als man schreibt[ …]
Natürlich gehört diese Klage mit zu dem Spiel mit dem Leser und ist ein literarischer Topos…
Mein anfängliches Urteil, Jean Pauls Äußerungen über Frauen seien misogyn, muss ich revidieren. Ich kann jetzt auch verstehen, dass zeitgenössische Frauen den Hesperus liebten. Im Laufe der Lektüre, besonders um den 6.Schalttag herum, wird immer deutlicher, dass Jean Paul das “verkochte, verwaschene und verputzte Leben“ der Frauen dauert, dass er sehr realistisch und gerecht den sozialen Druck sieht, unter dem Frauen stehen, und ihn anprangert, wobei er eine gewisse Mitverantwortung der Frauen mit einschließt, ähnlich wie viel später sein Namensvetter Jean-Paul Sartre die Frau als Opfer und als Komplizin des Systems (A moitié victime, à moitié complice, comme tout le monde) ansehen wird.
Beispiel aus dem 21. Hundposttag:
die Eltern ärgern mich, die Seelenverkäufer sind; dieTöchter dauern mich, die Negersklavinnen werden - ach ists dann ein Wunder, wenn die Töchter, die auf dem westindischen Markt tanzen, lachen, reden, singen mussten, um vom Herrn einer Pflanzung heimgeführt zu werden, wenn diese, sag ich, ebenso sklavisch behandelt werden, als sie verkauft und eingekauft wurden? Ihr armen Lämmer!- Und doch, ihr seid ebenso arg wie eure Schaf-Mütter und Väter - was soll man mit seinem Enthusiasmus für euer Geschlecht machen, wenn man durch deutsche Städte reiset, wo jeder Reichste und Vornehmste, und wenn er ein weitläufiger Anverwandter vom Teufel selbst wäre, auf dreißig Häuser mit dem Fingerzeigen und sagen kann: Ich weiß nicht, soll ich mir aus dem[…] oder aus dem[…] oder etwan aus dem[…]Hause eine holen und heiraten: offen stehen die Kaufläden alle? - Wie ihr Mädchen, ist denn euer Herz so wenig wert[,…]!
Und es folgt ein Loblied auf auf die einsame stolze Heldin, die Unverheiratete…
Und überhaupt, der sechste Schalttag, diese Magna Carta, aus der finsbury ja schon zitiert hat! Ich las sie im Zug von Bologna nach München. Während sich ab Verona der Zug allmählich mit eritreischen Flüchtlingen füllte, (die in Rosenheim von der Polizei in Empfang genommen wurden), las ich Sätze wie diese:
Das gestörte Gleichgewicht der eigenen Kräfte macht den einzelnen Menschen elend, die Ungleichheit der Bürger, die Ungleichheit der Völker macht die Erde elend.
Bei der fürchterlichen Ungleichheit der Völker in Macht, Reichtum, Kultur kann nur ein allgemeines Stürmen aus allen Kompass-Ecken sich mit einer dauerhaften Windstille beschließen. Ein ewiges Gleichgewicht von Europa setzt ein Gleichgewicht der vier übrigen Weltteile voraus[…] Ein Volk muss das andere aus seinen Tölpeljahren ziehen.
Das in einem mehr als 200 Jahre altenText!
Der 29. Hundposttag beginnt mit einer wunderschönen schwierigen Metapher: Der Mensch ist der Doppelspat der Zeit…Dann folgt das bisherige Geschehen in der Erinnerung Viktors im Schnelldurchlauf wie um dem Leser noch mal vorzuführen, wie vergleichsweise banal und simpel die Handlung des Romans ist. Wir steuern auf ein happy end zu und finsbury hat Viktors Zukunfsvision vom Lebensstrom mit den Schönheitslinien und den Goldfischen der glücklichen Momente darin zitiert. Ich finde ja, dass Jean Paul zu poetischer Höchstform aufläuft, wenn er schwarze Stimmungen und Momente schildert. Daher sei zuguterletzt an eine Stelle erinnert, die Viktor liebeskrank und depressiv zeigt, wo ihm wie Werther im Liebeskummer die Welt platt wie ein Abziehbild erscheint :
Steht nicht der Mensch vor der Brust eines Menschen wie die Turteltaube vor dem Spiegel und girret wie diese sich heiser vor einem toten flachen Bilde darin, das er für die Schwester seiner klagenden Seele hält? –
Ein Bild wie aus Bonaventuras Nachtwachen, aus Leonce und Lena , von Baudelaire oder Rilke.