Mit krankheitsbedingter Verzögerung nun endlich die versprochene„Fortsetzung“ bzw. Schlussbetrachtung:
Ist euch zwei oder drei Fahrten zuvor die Unterbrechung des Erzählstils aufgefallen?
Ja, ich finde auch, dass sich der Ton in den letzten Kapiteln verändert. Die Themen werden ernster, der Klamauk, das Clowneske treten in den Hintergrund.
Erstaunlich modern und seiner Zeit voraus mutet die Kritik an Utilitarismus, Materialismus bzw Kapitalismus der Bewohner Ulrichsschlags an(10. Fahrt. )So sieht Giannozzo sie inklusive seines Onkels schon über die Optimierung der menschlichen Gliedmaßen und die Abschaffung des Schlafs zum Zwecke der Arbeits- und Gewinnmaximierung nachdenken, sieht den Menschen zum „emsigen Sitz- und Greif-Fleisch“ degradiert, und „die heilige Psyche.... zum Küchenjungen des Magensacks“. Ähnliches habe ich erst wieder bei Böll in seinen Wirtschaftswunder-Satiren ( etwa in: Es wird etwas geschehen) gelesen.
Weder hier noch an anderer Stelle finde ich Giannozzo zynisch@finsbury. Zynisch ist das, was er sieht, hört und beobachtet. Der Leichenfledderer im ach so idyllischen Italienkapitel, der aus dem Tod noch Kapital zu schlagen versucht, ist z. B. ein Zyniker, nicht Giannozzo, der das beobachtet und sich darüber empört. Ein Zyniker würde sich nicht empören oder gar wie Giannozzo traurig sein, sondern mit einem Schulterzucken und einem flotten Spruch zur Tagesordnung übergehen... Wenn bei Giannozzo etwas zynisch klingt, dann in seinen „uneigentlichen“ Reden, in denen er Leute parodiert, ihnen einen Spiegel vorhält, so wenn er als Galgenpater am Schluss sagt.:Nun lasset uns diesen Galgen verlassen, wenn wir miteinander gerufen haben: er lebe, denn er lässet leben.«Das erinnert fatal an das zynische „viva la muerte“ der Faschisten.
Im vierzehnten letzten Kapitel wird Giannozzo mit dem desaströsesten und dümmsten menschlichen Fehlverhalten, dem Krieg, konfrontiert. Ich höre die dumpfen Axtschläge, womit der Tod sein Schlachtvieh trifft Er sieht Kämpfende, das Schlachtengetümmel, aber auch „Kolateral“ -Szenerien:
Soldatenhaufen sprengen über Hügel – Landleute rennen – ein Dorf brennt als Wachfeuer – in einem Garten seh' ich tote Pferde, und ein Kind trägt einen abgerissenen Arm fort.
Während er hier in fast expressionistischem staccato protokolliert, schreibt er verblümt, in fast biedermeierlicher Sprache darüber, zu wessen Nutzen Kriege geführt werden:
Ich sah mich um nach dem Schlacht-Gewölke, und mein Auge weinte zornig, da ich mir die Tränentropfen der Völker dachte, die sich für hineinleuchtende Kronen als ein stolzer Triumph- und Siegesbogen zusammenwölben. Machterhalt der gekrönten Obrigkkeiten, erkauft durch das Leid und Elend der Völker...
Giannozzos letzter Gedanke , den er protokolliert, ist folgender:
Ach das Schlechteste an der Menschheit oder Unmenschheit ist, daß kein Mensch, kein Fürst, keine Zensur, und sei sie auch noch so tyrannisch oder unverschämt, die bitterste Rüge des Krieges vewehrt, und daß doch die Ehre und die Dauer desselben darum nicht kleiner wird.
Wow, das ist es doch! Den Satz musste ich zweimal lesen und verstehe ihn in etwa so :
Obwohl der Krieg eigentlich von jedermann geächtet oder jedenfalls verbal abgelehnt wird, werden Kriege doch immer wieder gerechtfertigt und geführt. Diese Widersprüchlichkeit, dieses double bind, diese Heuchelei(?) ist für Giannozzo das Schlimmste. Da tönt so ein Satz durch die Jahrhunderte und macht bewusst, dass in all der Zeit mit all ihren Lektionen sich nichts geändert hat ... Ist das nicht zum In- die- Luft- gehen?
Dieses Büchlein hat dem gefrorenen Meer in mir einige Axthiebe versetzt, um es mit finsburys Motto zu sagen. Es ist wegen seiner Sprache, seines Witzes, seiner Brisanz, seiner Aktualität und der wunderbaren Figur des Luftschiffers für mich ein Meilenstein(chen) der deutschen Literaturgeschichte, den/das ich im Rahmen der Leserunde entdecken durfte. :winken:
Es bleiben Bilder zurück, wenn man J.P. liest, die man nicht so schnell, oder die nie mehr vergessen werden.
Das bestätigt eine zufällig gefundene wunderbare Stelle aus einem „Kultbuch“, die auch zeigt, dass der Luftschiffer Giannozzo eine literarische Figur von großer Strahlkraft ist:
War ich auch ein verirrtes Tier, das seine Umwelt nicht begriff, so war doch ein Sinn in meinem törichten Leben, etwas in mir gab Antwort, war Empfänger für Anrufe aus fernen hohen Welten, in meinem Gehirn waren tausend Bilder gestapelt:
Giottosche Engelscharen aus einem kleinen blauen Kirchengewölbe in Padua, und neben ihnen gingen Hamlet und die bekränzte Ophelia, schöne Gleichnisse aller Trauer und alles Mißverständnisses in der Welt, da stand im brennenden Ballon der Luftschiffer Gianozzo und stieß ins Horn, trug Attila Schmelzle seinen neuen Hut in der Hand, stieß der Borobudur sein Skulpturengebirg in die Lüfte. Und mochten alle diese schönen Gestalten auch in tausend andern Herzen leben, es waren noch zehntausend andere, unbekannte Bilder und Klänge da, deren Heimat und sehendes Auge und hörendes Ohr einzig in mir innen lebte....
Preisfrage:Um welches Buch handelt es sich? :eis: