Lese-Fundstück

  • Moin, Moin!


    Es sollen ja dustere Winkel in der bayrischen Hauptstadt existieren, da tappst du morgens tramhappert vors Häusl und könntest auf der Stelle jemanden derschlagen – einfach weil das bestens zum Umgebungsmenü harmoniert. Da wär der Mord eine kreative Anpassungsleistung. (Roland Krause: Fuchsteufelswild)


    "Weißt, früher hab ich als Krankenschwester gearbeitet, in Garmisch. Aber mir hat’s ned gelangt, die Leut immer nur technisch zu versorgen und ned palliativ, verstehst du. Des hat mich verrückt gemacht. Wenn so eine arme Haut niemand in den Arm nimmt und du bloß Infusionen neipresst und Spritzen, so verhaut kannst du gar ned gelebt haben, dass du so verrecken musst." (Roland Krause: Fuchsteufelswild)

  • Zitat

    Ich schaute den Mond an und erinnerte mich, dass ich ihn zum ersten Mal durch ein Teleskop gesehen hatte, als ich...bereits vierzig war. In jener weißen und friedhofartigen Landschaft hatte ich die Schatten ungeheurer Berge gesehen, und das Blut war mir erstarrt. Es ging mir nicht in den Kopf, dass ich eine Landschaft bewunderte, die nicht von dieser Erde war, und es kam mir vor, als müsste ich diese Kühnheit mit dem Wahnsinn bezahlen


    Felisberto Hernández, Lucrezia


    F.H. pflegte stets eine Perspektive auf die Gegenstände, die bis an die Grenzen der Entstellung reichte. Bei diesem Zitat hat die Merkwürdigkeit allerdings die Front gewechselt, vom Betrachter zum Objekt: es zeigt die reale Ungeheuerlichkeit eines alltäglich gewordenen oder empfundenen Anblicks.


    "Magic realism is fantasy written by people who speak Spanish"

    Einmal editiert, zuletzt von Gronauer ()

  • Das Lob des José Maria Eca de Queiroz sang ich ja schon öfter. "Stadt und Gebirg" gehört vielleicht nicht in die allererste Reihe seiner Schriften, aber auch hier gibt es unvergleichliche Kabinettstückchen, zum Beispiel dieses hier:


    Der Ich-Erzähler logiert gegen Ende des 19. Jahrhunderts bei einem Freund, der zwar ebenfalls aus einem portugiesischen Geschlecht stammt, aber von Geburt an in Paris lebt, umgeben von jedem erdenklichen Luxus und allen Annehmlichkeiten der Zivilisation. Unter anderem pflegt er auch den spleen, sich eine gigantische Bibliothek nebst der dazu gehörenden Belesenheit aufzubauen, und so überschwemmt eine Flut von Büchern die noble Behausung. Der Erzähler verfällt darüber in einen Traum, der ihn auf einem Bücherberg bis in den Himmel klettern lässt, und dort trifft er seinen Hergott so an:


    Zitat

    ...saß der Allerhöchste zwischen tiefen, goldenen, mit Gesetzesbüchern vollgepfropften Bücherregalen, auf uralten Folianten, die Flocken seines unendlichen Bartes über Stößen von Broschüren, Flugschriften, Zeitungen und Katalogen ausgebreitet, und - las. Die supergöttliche Stirn, die die Welt konzipiert hatte, ruhte in der superstarken Hand, die die Welt geschaffen hatte - und der Schöpfer las und lächelte. Ich wagte unter heiligem Schauer über seine strahlende Schulter hinwegzuspähen. Es war ein broschierter Dreifrankenband. Der Ewige las Voltaire in einer billigen Ausgabe und lächelte.


    Herrlich!

  • Moin, Moin!


    Das Lob des José Maria Eca de Queiroz sang ich ja schon öfter. "Stadt und Gebirg" gehört vielleicht nicht in die allererste Reihe seiner Schriften, aber auch hier gibt es unvergleichliche Kabinettstückchen,


    "Stadt und Gebirg" gehört zu jener nicht gerade überbordenden Anzahl von Büchern, bei denen ich noch exakt weiß, unter welchen Umständen ist es las. Ich saß damals sommers in einem Park und genoß dieses hübsche Manesse-Büchlein sehr.

  • @ Dostoevskij:


    Du Glücklicher! Warum habe ich am falschen Ende gespart?


    Ich hatte die schlichte rote Paperback-Ausgabe aus dem Outlook-Verlag in der Hand, und von ihr kann ich, so leid es mir tut, nur abraten. Nach der Notiz auf dem Vorsatzblatt handelt es sich um eine Reproduktion des "Originals", was immer man bei einer deutschen Ausgabe als "Original" bezeichnen will. Eine Reproduktion ist es ganz offensichtlich in dem Sinne, als man ein Texterkennungssystem über eine Vorlage in Frakturschrift zog. Anders sind vielfach und systematisch wiederkehrende Schreibfehler nicht zu erklären - insbesondere die häufige Verwechslung der Kleinbuchstaben s und f, die in Fraktur tatsächlich einander ähnlich sehen, ebenso bei den Großbuchstaben G und S. Mit dieser Einsicht war es zumindest möglich, einige der ansonsten völlig sinnfreien Buchstabenfriedhöfe in diesem Buch aufzulösen. In einigen anderen Fällen half nur die Referenz bei dem Text, der online im Projekt Gutenberg hinterlegt ist. An zwei Stellen tauchen mitten im Text Seitenzahlen - anscheinend aus der Vorlage schlampig mitgescannt - auf. Es ist mir schleierhaft, wie derartige Dinge bei einer Anpassung an die neue Rechtschreibung durch die Lappen gehen konnten. Ohne jegliche Textpflege sind solche Editionen einfach nur ärgerlich.


  • Ich hatte die schlichte rote Paperback-Ausgabe aus dem Outlook-Verlag in der Hand, und von ihr kann ich, so leid es mir tut, nur abraten. ... Ohne jegliche Textpflege sind solche Editionen einfach nur ärgerlich.


    Bei amazon gibt es eine Vielzahl solch zweifelhafter Verlage/Editionen. In der Regel handelt es sich dabei um schlampig gescannte Texte ohne Urheberrecht, an denen die "normale" Verlagswelt kein Interesse mehr hat. Ein gutes Beispiel sind viele Werke Wielands, die von seriösen Häusern nicht mehr nachgedruckt werden und deshalb ein lohnendes Feld für diese Pseudoverlage sind.

  • Moin, Moin!


    Es ist ja eben kein Aufenthalt in dieser Welt bei den besten Dingen - und bei den besten Freunden auch nicht; und wenn alle Lebenskunst am Ende nur darauf hinausläuft, sich unabhängig von den mitlebenden Menschen und Dingen zu machen, so ist das eigentlich gar keine Kunst, sondern uns allen höchst natürlich. (Wilhelm Raabe: Alte Nester)


    Wenn der Vetter eben noch behauptete, bereits gefrühstückt zu haben, so könnte ihm ein magenkranker Millionär dreist zwei Drittel von seiner Million für den Appetit bieten, mit dem er in unserer liebenswürdigen Gesellschaft frisch von neuem ans Werk geht. (Wilhelm Raabe: Alte Nester)


    Daß man ein "Frauenzimmer" heiraten könne, war mir in dem Kreise meiner Vorstellungen als etwas Mögliches und vielleicht auch zu Erstrebendes noch nicht deutlich und faßlich. (Wilhelm Raabe: Alte Nester)


    "Wie es dem Menschen zumute ist, wenn er sich so an seine Sorge anklammern muß und um seinen Willen gar nicht gefragt wird dabei!" (Wilhelm Raabe: Alte Nester)


    Was ich gebraten sehen kann,
    Seh ich nie als 'ne Mordtat an!
    (Wilhelm Raabe: Alte Nester)

  • In José Maria Eca de Queiroz' Roman "Die Maias" gibt es eine Person namens Joao da Ega, der sich mit dem Vorhaben trägt, einen Roman zu schreiben mit dem Titel "Autobiografie eines Atoms", in dem dieses Atom von seiner Laufbahn durch die verschiedensten Körperlichkeiten berichten soll. Zufällig stieß ich kürzlich in einem Wikipedia-Artikel auf folgende erstaunliche Information:


    Zitat

    Heutzutage hat, zumindest in Industrienationen, ca. 40 % des im menschlichen Körper enthaltenen Stickstoffs schon einmal an der Haber-Bosch-Synthese teilgenommen.


    Das eröffnet natürlich ganz neue poetische Horizonte: wir sind nicht nur Sternenstaub, sondern auch Kunstdünger!

  • Moin, Moin!


    Da uns das Wetter derzeit fast alle bewegt:


    Zitat

    Nachdem so ungefähr alle garstigen Wetterarten an der Reihe gewesen waren, setzte Glatteis ein. Es war wirklich das letzte, was dem Winter noch einfiel. Das Heimtückischste vom Heimtückischen. Glatteis. Freund Winter hatte alles aus sich herausgepreßt, hatte sich völlig verausgabt, sich kopfüber unter Null fallen lassen... alles wieder auftauen... alles wieder gefrieren lassen... Und jetzt, da die Straßen mit einer undefinierbaren dumpfgrauen Kruste überzogen waren - Staub, Asche, Straßenschmutz, Hundekacke, alles war darin enthalten -, wurde eine Schicht Firnis darübergeklatscht, um das Zeugs gründlich in Lack zu tauchen, es ordentlich glänzen zu lassen und noch etwas länger zu konservieren. Kurz und gut, die Vernissage des Winters, im Freien und ohne billigen Wein. (A.F.Th. van der Heijden: Unterm Pflaster der Sumpf)

  • Moin, Moin!


    Treibel wiegte den Kopf. "Ja, sehen Sie, Krola, Sie sind nun ein so gescheidter Kerl und kennen die Weiber, ja, wie soll ich sagen, Sie kennen sie, wie sie nur ein Tenor kennen kann. Denn ein Tenor geht noch weit übern Lieutenant. Und doch offenbaren Sie hier in dem speziell Ehelichen, was noch wieder ein Gebiet für sich ist, ein furchtbares Manquement. Und warum? Weil Sie's in Ihrer eigenen Ehe, gleichviel nun, ob durch Ihr oder Ihrer Frau Verdienst, ausnahmsweise gut getroffen haben. Natürlich, wie Ihr Fall beweist, kommt auch das vor. Aber die Folge davon ist einfach die, daß Sie - auch das Beste hat seine Kehrseite - daß Sie, sag' ich, kein richtiger Ehemann sind, daß Sie keine volle Kenntnis von der Sache haben; Sie kennen den Ausnahmefall, aber nicht die Regel. Über Ehe kann nur sprechen, wer sie durchgefochten hat, nur der Veteran, der auf Wundenmale zeigt ... (Theodor Fontane: Frau Jenny Treibel)


    "... Und die schlimmsten Ehen sind die, lieber Krola, wo furchtbar "gebildet" gestritten wird, wo, wenn Sie mir den Ausdruck gestatten wollen, eine Kriegsführung mit Sammethandschuhen stattfindet, oder richtiger noch, wo man sich, wie beim römischen Carneval, Confetti ins Gesicht wirft. Es sieht hübsch aus, aber verwundet doch (...)" "Kein Donnerwetter, nur kleine Worte mit dem Giftgehalt eines halben Mückenstichs, oder aber Schweigen, Stummheit, Muffeln, das innere Düppel der Ehe, während nach außen hin das Gesicht keine Falte schlägt. Das sind so die Formen." (Theodor Fontane: Frau Jenny Treibel)

  • Im Juli 1855 notierten die Goncourt-Brüder im Tagebuch:


    "Monsieur und Madame Charr nach dem Tod ihres einzigen, geliebten Sohnes ... dem Leben entfremdet, in der Schwebe, entwurzelt, zwei alte Menschen, die ein Jahr nach Konstantinopel gehen, ein weiteres nach Ägypten."



    In "Renée Mauperin" (1864) heißt es am Ende:


    "Wer weit reist, ist ...., ein Jahr in Rußland, das nächste in Ägypten, zwei Alten begegnet, einem Mann und einer Frau, die vor sich hin zu gehen scheinen, ohne sich umzuschauen und ohne etwas zu sehen. Das ist das Ehepaar Mauperin. ... Sie sind allein. Das Kind, das ihnen noch geblieben war, ... gestorben.


    ... Es geht ihnen wie entwurzelten Dingen, die dem Wind preisgegeben sind. ..."


    Gruß, Gina


  • danke für den Hinweis, Gina! Im Nachwort meiner Renée Mauperin -Ausgabe wird auch mehrfach hervorgehoben, wie stark die Brüder Miterlebtes, Gehörtes oder Nachrichten aus der Gesellschaft verarbeiteten. Legitim wie ich finde, sogar besonders berührend.

  • danke für den Hinweis, Gina! Im Nachwort meiner Renée Mauperin -Ausgabe wird auch mehrfach hervorgehoben, wie stark die Brüder Miterlebtes, Gehörtes oder Nachrichten aus der Gesellschaft verarbeiteten. Legitim wie ich finde, sogar besonders berührend.


    Ja, sehr berührend. Diese wahre Begebenheit haben sie im Roman wunderbar ausgeführt.
    Auch wenn ich im Tagebuch noch nicht weit gekommen bin, ist es ein Riesenfundus an Bildern, Geschichten, Gedanken, Ideen. Die Brüder waren ganz ausgezeichnete Beobachter.


    Gruß, Gina

  • Moin, Moin!


    "Schon 1912 hatte Mina (Tobler) ihm gesagt, dass es ein schlimmer 'Druckfehler des Lebens' sei, dass er, Max (Weber), nicht deutscher Reichskanzler geworden sei. Daraufhin hatte er schnoddrig befunden, 'in diesem Fall sei das Pech mehr auf Seiten Deutschlands als auf seiner Seite'." (<a href="http://www.zeit.de/2014/08/max-weber-erster-weltkrieg">ZEIT Spezial zum WWI</a>)

  • Süss ... zu der Zeit wollte jeder zweite halbwegs Prominente in Deutschland Reichskanzler werden: Hugo Eckener überlegte es sich und tat es dann doch nicht; Stefan George hätte, wenn man ihn gefragt hätte ... Weber wusste ich noch gar nicht.

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Moin, Moin!


    Herr Schramm hat Familie. Aber wie das so ist. Und Frauen? Im Sommer hat er die Frauen ein letztes Mal abgewogen, pro und kontra. Hat sich umgesehen. Aber in seinem Alter und mit seiner Geschichte. Und bei uns, wo kaum einer sagt, was er fühlt. Schwierig. Witwen höchstens. Aber die Witwen macht die Einsamkeit im Alter gläubig. Schwierig. (Sasa Stanisic: Vor dem Fest)


    "Hast du den Ausweis mit?"
    "Wozu denn?"
    "Ich hab meinen nicht dabei. Keinen Führerschein, gar nichts. Du könntest mir Zigaretten besorgen. Wenn nicht, könntest du den Ausweis holen und dann Zigaretten besorgen."
    "Warum holen Sie nicht Ihren?"
    "Das schaff ich vor dem Selbstmord zeitlich nicht mehr."
    (Sasa Stanisic: Vor dem Fest)

  • Moin, Moin!


    Von der <a href="http://de.wikipedia.org/wiki/Sozialistische_Reichspartei">Sozialistische Reichspartei</a> (SRP) als quasi Nachfolgerpartei der NSDAP lese ich bei Per Leo zum ersten Mal. "1951 errang die SRP bei der Landtagswahl in Niedersachsen 11% der Stimmen." Gruseln am späten Nachmittag. 1952 wurde sie verboten, wozu Leo schreibt: "Das junge Bundesverfassungsgericht jedenfalls muss sich gefühlt haben wie ein Schulkind, das sich endlich traut, dem dreisten Pausenhofbrutalo, statt ein weiteres Mal sein Butterbrot rauszurücken, einfach die Faust in die Fresse zu schlagen."

  • Ja, da kann man das Gruseln bekommen. Und in einigen Bezirken hatte diese Partei sogar über 20 Prozent.
    Der Roman ist wohl sehr gut und hat wohl auch unter Historikern eine große Beachtung gefunden??? Wurde Ich habe heute die ersten Seiten bereits gelesen und fand es schon einmal sehr gut geschrieben - literarisch eben.
    Ich denke, dass ich wohl am kommenden Wochenende dazu kommen werde, viel zu lesen. ich freue mich schon darauf, denn das Thema interessiert mich - und auch das Genre autobiographisch essayistischer Bildungs- bzw. Familienroman mit dem Handlungsort im Norden reizt mich.
    Autobiographische Familienromane sind ja meistens sehr gut: ich denke da zum Beispiel an Walter Kempowskis "Tadellöser & Wolff - wobei jeder Roman natürlich wiederum in gewisser Weise einzigartig ist.

  • Hallo Els Lin,


    mir hat das Buch von Per Leo sehr gut gefallen. Es hat mich auch zu weiterer Lektüre angeregt, u.a. in seiner Dissertation (Wille zum Wesen), dann zu Goethe und Gottfried Benn und Rudolf Steiner. Das gesamte Thema der Charakterologie, das er bearbeitet und das zum geistigen Leben der bürgerlichen Schichten vor 1933 dazugehörte, finde ich sehr interessant, auch wenn man angesichts mancher Überzeugungen heute den Kopf schüttelt. Gerade las ich Arno Geigers Roman 'Es geht uns gut' (Deutscher Buchpreis 2004?) -- und selbst dort begegnete mir Ludwig Klages erneut…