Herman Melville: Moby Dick oder Der Wal

  • In Kapitel 73 lässt sich der Erzähler ih launiger Weise über die Verarbeitung des erlegten Wals aus. Es wird - über mehrere Kapitel - eingehend dargelegt, wie der getötete Wal am Schiff festgemacht wird, der Walspeck quasi abgeschält und am Ende derr Kopf vom Rumpf getrennt wird, um einzelne Teile am Kopf noch zu "ernten". Melville behält dabei einen launigen Erzählton bei, zieht immer wieder lustige Vergleiche zum Alltag und stellt sogar Augenblicke höchster Lebensgefahr, wie im Kapitel "Die Affentamp", als amüsante Episode dar.

    Ein reizvoller, geradezu shakespearischer Kontrast zu dem tiefen Ernst, der Ahabs Leidenschaft charakterisiert.

    Im letzten Absatz des 53. Kapitels betrachtet der geheimnisvolle Fedallah den Walkopf und vergleicht die Furchen in der Haut des Wals mit den Linien seiner Hand, was die arbeitende Mannschaft, die ihn mit einem Auge beobachtet, zu "lappländischen Mutmaßungen" veranlasst - ein Ausdruck, den ich noch nie gehört habe. Liegt das auf einer Linie mit der berühmten deutschen Gründlichkeit, der jüdischen Hast und dem polnischen Abgang ...?

  • Eben habe ich schallend losgelacht. Daran möchte ich euch teilhaben lassen.

    Auszug aus "The Confidence Man", von Delbanco zitiert:

    "Ich halte mich lieber an Maschinen. Zum Beispiel meine Apfelmostmaschine - die würde mir gewiß nie meinen Apfelmost stehlen, wie? Odeer meine Mähmaschine - die läge sicher nie bis Mittag im Bett, nicht wahr? Oder meine Maisaushülsmaschine - die käme mir bestimmt nicht frech, oder? Nein (...), sie alle verrichten getreulich ihre Arbeit. Und dabei sind sie uneigennützig, kriegen weder Kostgeld noch Lohn, und doch tun sie uns ihr Leben lang nur Gutes ..."


    Das Buch erschien 1857.

    Wie heißt es über 150 Jahre später über den Döner-Schneideroboter:

    „Der Gerät wird nie müde, der Gerät schläft nie ein, der Gerät ist immer vor der Chef im Geschäft und schneidet das Dönerfleisch schweißfrei.“


    :D:D:D

  • Sehr schön :lachen:, und von wem ist das Döner-Zitat?


    Das Zitat über Abdallah habe ich nicht gefunden, kannst du dich vielleicht im Kapitel geirrt haben?

    Die vielen Wal-Verarbeitungskapitel waren tatsächlich aufgrund der "launigen" Darstellung gut zu lesen. Interessant finde ich, wie hoch Melville sein Opfer schätzt, er stilisiert es ja fast ins Göttliche. Dennoch schien damals - auch bei ihm - nicht das Bewusstsein dafür da zu sein, dass man diese großartigen Tiere dezimiert und vielleicht sogar ihrem Untergang zuführen könnte, obwohl er mehrfach erwähnt, dass die Wale sich inzwischen anders verhalten und die Tiere auch schwerer zu finden sind. Geärgert habe ich mich in dem Zusammenhang auch über den deutschen Kapitän der "Bremen", der im Brass der Wettjagd seinen Gegnern die gerade erbettelte Ölkanne an den Kopf wirft, erstens wegen des Verhaltens gegenüber seinen Wohltätern und auch wegen der Nichtachtung des Tieres, von dem dieses Produkt stammt.

    Inzwischen bin ich bei Kapitel 83 angelangt und ganz froh, dass hier wieder die Waljagd ansteht, nachdem sich die vorherigen Kapitel zwar in witziger, aber insgesamt doch etwas ermüdender Weise den Einzelteilen des Pottwals gewidmet haben.

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Sorry, ich habe tatsächlich die Kapitelzahlen verwechselt. Was dadurch begünstigt wurde, dass die Kapitelzahlen bei mir römisch sind, ich bin nicht gerade sattelfest in römischen Zahlen. Es ist das Kapitel 73 "Stubb und Flask töten einen Glattwal".

    Bei mir heißt Ahabs geheimnisvoller Freund übrigens Fedallah und nicht Abdallah.

    Das Döner-Zitat stammt von Duran Kabakyer, einem gelernten Koch, der ein automatisches Döner-Schneidegerät erfunden hat und produziert (das ist kein Witz!). Der Alkadur-Schneideroboter wird tatsächlich unter dem Namen "Der Gerät" vermarktet.


    Ich stecke immer noch in Walbetrachtungen, Kapitel 75. Dafür habe ich die Biographie ausgelesen. Delbanco betrachtet "Billy Budd" als Meisterwerk und widmet ihm eine geradezu hymnische Besprechung. Ich kenne das Buch nicht, weiß nur, dass Benjamin Britten eine Oper dazu komponiert hat; die Titelrolle schrieb er seinem Lebensgefährten Peter Pears, einem Countertenor, "auf den Leib".

    Edit, stimmt so nicht, siehe unten!

  • Dafür habe ich Fedallah mit Abdallah verwechselt. Ich halte im Moment in Kapitel 90 und werde in den nächsten Tagen wohl nicht besonders viel weiterkommen, weil jetzt wieder Arbeitshochzeiten beginnen. Da hast du genügend Zeit aufzuschließen, insbesondere weil du den Delbanco jetzt durchhast. Die Kapitel 89 und 90 sind übrigens sehr witzig und voll des englischen Humors.

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Ich sehe gerade, dass ich einen dussligen Fehler gemacht habe. Die Titelrolle des Billy Budd ist eine Baritonrolle, und Peter Pears war auch kein Countertenor, sondern ein Tenor. Gleich zwei Fehlleistungen auf einmal.

    Ich habe Billy Budd mit Peter Grimes verwechselt. Das ist eine Tenorpartie, die Britten für Pears geschrieben hat.

    Das nur am Rand, gehört ja nicht wirklich her, ich wollte nur den Fehler nicht stehen lassen. .

  • Kapitel 95 "Die Soutane":
    Was für ein Teil des Wals ist das, dem da die Haut abgezogen wird, um sie als Umhang zu tragen?
    In meiner Übersetzung wird dieser Teil "Grandissimus" genannt. Könnte es sich um den Penis des Wals handeln?

    In dem vorhergehenden Kapitel "Die Trankocherei", wo es um das Durchkneten des Walrats geht, hat Delbanco übrigens prompt jede Menge sexueller Anspielungen ausgemacht.

  • Es steht ja vorher im Text, dass dieser Grandissimus bzw. in die Form dieses Grandissimus gebrachte Steine oder Hölzer, in früheren Zeiten als Idole verehrt wurden. Jetzt darfst Du dreimal raten...

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Ja , da bin ich auch gerade, in Delbancos Biographie. Als ich das Kapitel vorhatte, habe ich daran nicht gedacht und mich gewundert, welches Aufhebens Melville darum macht. Das Kapitel aus der Biografie, das sich mit Moby Dick beschäftigt, habe ich mir seitwärts jetzt auch vorgenommen. Es ist erstaunlich, wie stark Ideen der Romantik, die Unendlichkeit des Unbewussten, das Genie des Dichters, noch in die Mitte des 19. Jahrhunderts- auch in Amerika - ragen.


    Das Schicksal Pips, schon im Mittelpunkt zweier Kapitel, aber dennoch bewusst an den Rand gerückt, ergreift mich als Inländer besonders. Seine Angst ist verständlich und seine Reaktion auch. Ich denke, Melville sieht das auch so und will an seinem Beispiel die Unbarmherzigkeit der Seefahrt verdeutlichen. Nach dieser zweimaligem Todeserfahrung und Demütigung ist Pip für den Unbedachten nicht mehr bei sich, für den Autor noch mehr bei Gott, d.h. für mich bei der Einsicht in die inneren Zusammenhänge. Melville kommt äußerlich nicht raus aus dem Rassismus seiner Zeit, gibt aber dennoch gerade den ethnisch scheinbar unterlegenen Individuen wie Quiqueg und Pip die zum Teil tiefsten Gedanken ein. Allerdings steht zu befürchten, dass er damit diesen Einsichten nur ein naturnahes Entspringen unterstellen will, was wiederum ein Zeichen von kultureller Überheblichkeit ist.


    Ich befinde mich in Kapitel 104 und bin wieder etwas gelangweilt von den enzyklopädischen Kapiteln des Romans. Nun also zu den ollen Fossilien Leviathans, dann geht es hoffentlich wieder weiter mit Handlung.

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Das Schicksal Pips empfinde ich auch als quälend. Schlimm genug, dass so ein Zwerg mit einer Bande ausgewachsener Seemänner jahrelang aufs Schiff muss, aber was hat er denn im Fangboot zu suchen? Da kann er doch niemandem nützen.

    Die Waljagd wird ja bis heute immer wieder mal diskutiert, und manchmal frage ich mich, ob Melville ahnen konnte, dass er irgendwann mal Leser haben wird, die bei der Lektüre der Walfangszenen "für den Wal" sind. Auch wenn Naturschutz und speziell Schutz der Meeresfauna damals kein Thema waren, klingt bisweilen eine leise Verachtung durch, wenn er anmerkt, dass die unter Todesgefahr erjagten Wale zur Parfümherstellung und für Korsett-Fischbeinstäbe verramscht werden.

  • Auf den letzten Metern … . Immer mehr entpuppt sich der Roman als ein antikes Drama mit Verzierungen und Aufbauten aus verschiedenen anderen Epochen und Geisteshaltungen. Und jetzt am Ende fällt aber all dieser Zierrat ab, und die blanke Tragödie treibt unaufhaltsam auf ihr Ende zu. Die Hybris von Ahab entpuppt sich als tiefes Bewusstsein der Unabänderlichkeit des Kommenden.
    Dennoch ist das für das moderne Bewusstsein kaum zu ertragen: Die abgelehnte Hilfeleistung für die "Rahel", die zweimalige Warnung durch die ersten beiden Begegnungen mit Moby Dick, dagegen wehrt sich die eigene Vernunft, aber die ist hier wohl nicht gefragt.

    Bevor die drei Begegnungen mit Moby Dick beginnen, gibt es auch so einen typischen Verweis auf das antike Drama: Das Kapitel 132 "Zusammenklang" ist das retardierende Moment, bringt die Annäherung von Starbuck und Ahab, und kurz schöpft man Hoffnung, aber trotz des herrlichsten Wetters und einer kurzen Weiche in Ahabs Herz, das Ende lässt sich nicht aufhalten. Es ist ja auch von Anfang an klar.

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Der finale Zusammenstoß mit Moby Dick kommt recht lakonisch daher, als ob der Autor nach der hohen Sättigung des Romans mit düsteren Vorausdeutungen keine Lust mehr hatte auf einen riesigen Spannungsaufbau. Moby Dick hebt sein runzliges Haupt, lässt es gegen die Pequod krachen und das war's. Danach zieht er noch Ahab in den Abgrund. Grausig, wenn auch ebenfalls üppig angedeutet, fällt Fedallahs Abschiedsvorstellung an der Flanke des Wals aus, sicherlich der Höhepunkt des dreitägigen letzten Aktes. Dass Ismael überlebt, ist nur noch ein paar Sätzchen wert.

    Ein beeindruckender Roman, wenn es mir auch schwer fällt, diese Getriebenheit Ahabs nachzuvollziehen und diese Abenteurerwelt mit ihren grausigen Schlachten gegen die Wale. Viele einzelne Szenen werden mir dagegen aufgrund ihrer erzählerischen Dichte im Gedächtnis bleiben.

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Aber was für welche!

    Welche meinst du denn? Dass er durch Quiquegs Sarg, der als Rettungsboje dient, überlebt, ist natürlich eine super Idee, aber auch schon so aufdringlich vorausgedeutet, dass die Überraschung fast ausbleibt. Die Ismael ruhig begleitenden Haie sind auch ein schönes Bild für die nun gesättigte Natur, aber so außerordentlich finde ich diesen Schluss sprachlich nicht, außer eben gerade wegen dieser Lakonie.

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Ich fand den letzten Satz in seiner unendlich trostlosen Wucht immer niederschmetternd:


    On the second day, a sail drew near, nearer, and
    picked me up at last. It was the devious-cruising Rachel, that in her retracing search after her missing children, only found another orphan.


    (Ich hab’s in der Rathjen-Übersetzung gelesen, bin aber gerade unterwegs und zitiere daher das Original ;-))

  • Ich habe natürlich die finale Waljagd in einer "bereinigten Ausgabe" schon vor x Jahren kennen gelernt - aber wie aussichtslos sich diese Jagd von Anfang an ausnimmt, habe ich erst diesmal wirklich wahrgenommen. Ahab kommt mir so chancenlos vor wie jemand, der miit einem Schälmesser einem Tiger nachstellt.

    In irgendeiner Inhaltsangabe habe ich mal gelesen, auch Moby Dick ginge bei dieserJagd zugrunde. Das hatte ich jetzt die ganze Zeit im Hinterkopf, aber keinen Beleg dafür gefunden. Hattet ihr den Eindruck, der Wal sei tot?



    Ein Zitat aus D.H.Lawrence' Aufsatz über Moby Dick, der in meiner Ausgabe abgedruckt ist:
    "So endet eines der seltsamsten und schönsten Bücher der Welt, indem es sein Geheimnis und seinen gequälten Symbolismus zum Abschluss bringt. Es ist ein Epos des Meeres, wie es bisher noch kein Mensch geschaffen hat; und es ist auch ein Buch voll esoterischem Symbolismus von tiefer Bedeutung - und beträchtlicher Eintönigkeit."

    Weiter geht es: "Melville (...) wusste, dss seine Rasse dem Verderben geweiht war. Seine weiße Seele, dem Verderben geweiht. Seine große weiße Epoche, dem Verderben geweiht. (...) Der Idealist, der Geist, dem Verderben geweiht."

    Moby Dick stehe für "das tiefste Blut-Sein der weißen Rasse, (...) unser tiefstes Blut-Wesen. Und er wird gejagt vom manischen Fanatismus unseres weißen Verstandesbewusstseins. (...) Und in dieser manisch-bewussten Jagd nach uns selbst lassen wir uns von dunklen und hellen Rassen helfen, von Roten, Gelben und Schwarzen, (...) sie alle holen wir zu Hilfe bei dieser gespenstischen manischen Jagd, die unser Verderben und unser Selbstmord ist. Die letzte phallische Jagd des weißen Mannes.

    (...)

    Die Pequod war das Schiff der weißen amerikanischen Seele. Sie ging unter und nahm Neger, Indianer und Polynesier, Asiaten und Quäker, gute geschäftssinnige Yankees und Ishmael mit sich.
    (...)

    Wenn der Große Weiße Wal das Schiff der Großen Weißen Seele 1851 versenkt hat, was ist dann seither eigentlich geschehen? Postmortale Phänomene vermutlich."

    Mir sträubt sich da alles. Vielleicht hat es aber unter all dem Rassengeschwurbel eine Spur von einem wahren Kern - wenn es eine "phallische Jagd des weißen Mannes" gibt, dann blüht die wohl mehr als je zuvor in USA ... .