Auf welcher Lesung seid / wart ihr gerade?

  • Könnt ihr Euch vorstellen, wie es sich anfühlt, wenn man seine eigene Frau oder sein eigenes Kind nach einer Pause auf einer Autobahnraststätte versehentlich zurücklässt?


    Ihr werdet sagen, dass gibt es doch gar nicht. Dennoch höre ich ab und zu eine entsprechende Meldung in den Radionachrichten. Und bis zum gestrigen Tag konnte ich mir auch nicht vorstellen, dass so etwas jemandem passieren kann. Ist es aber (wenn auch in ganz anderer Weise, aber dazu später mehr).


    Gestern fand der literarische Salon mit Paul Nizon in Köln statt. Also 4 Bücher, 2 Bildbände, 1 Autorensammelband sowie mein Fotoalbum nebst Kamera eingepackt. Da Köln nicht gerade um die Ecke liegt, mehr als 2,5h Puffer für die Anfahrt eingeplant. Und alles hat super geklappt. Ich mache auf den Lesungen inzwischen recht professionelle Fotos mit einer Kamera, die auch lautlos trotz Kunstlicht auslösen kann. Dadurch gelingen tolle Schnappschüsse auch während des Gesprächs. Gestik erzeugt lebendige Bilder, die ich dann im Nachgang in mein Fotoalbum klebe. Am Abend selber lasse ich die Autoren das entsprechende Albumblatt unterzeichnen.


    Der fast 90jährige Nizon ist ein Erlebnis, wirkt geistig sehr frisch, ist oft witzig, schlagfertig und man merkt ihm an, dass er gern von Frauen bewundert wird und bei diesen wohl auch viel Erfolg hatte. Sexualität ist ein wichtiges Thema in seinen Werken, wenn er das heute nochmals schreiben würde, dann würde er wohl dafür verfolgt werden. Seine Journale, die neben den Romanen stehen, und jeweils ein Jahrzehnt abdecken, sind nur ein kleiner Bruchteil der vielen Tausend Seiten, die zunächst geschrieben werden. Zusammen mit dem Verleger werden dann (kleine) Teile davon publiziert. Nizon tippt das so runter, eigentlich weiß er gar nicht, was da drin steht. Man muss das nicht glauben. Er liest den Zuhörern im Kölner Stadtgarten seinen persönlichen Kanon der ihn prägenden Literatur vor, ich habe nicht mitgeschrieben, aber deutsche Autoren wie Mann oder Musil fehlen vollkommen, auch Proust war nicht enthalten, dafür jedoch viele andere namhafte Werke von Dostojewski bis hin zu Perec,


    Grass mag er so gar nicht, und so manchen anderen Autor, der in gleicher Weise solch lineare Geschichten schreibt auch nicht. Weil es solche Geschichten nicht gibt. Nun bin ich kein Nizon-Kenner, um den Stil des Autors hier eindeutig charakterisieren zu können. Ich freue mich auf sein erstes Erfolgsbuch "Das Jahr der Liebe". Über Kunst und Künstler hat Nizon bedeutende Essays geschrieben, ein Buch über Goya ist in der Insel-Bücherei mit schöner Bebilderung herausgegeben. Moderate 12,90 Euro, aber der Band ist mit 76 großzügig gesetzten Seiten auch schnell durchgelesen. Moderiert wurde der Abend durch die Schriftsteller Navid Kermani und Guy Helminger. Stets geistvoll, auch wenn sich Nizon auf diese erzwungene Tiefe des Gesprächs oft nicht einlassen wollte.


    Am Ende hat Nizon fleißig signiert, und ich habe mir mein Fotoalbum gleich von Kermani signieren lassen. Und dann ging es in die lange Schlange mit Nizon, der bereitwillig auch die größten Bücherstapel sogar mit Widmungen versehen hat, wenn gewünscht. Doch als ich wieder zu Hause war, stand meine Frau noch auf dem Rastplatz ... na ja, nur im übertragenen Sinne, die Unterschrift von Nizon in meinem Fotoalbum fehlte. Alle andere Bücher waren immerhin signiert. Ich rätsele immer noch, wie das passieren konnte. Aber das fragt sich der Mann, der seine Frau am Rastplatz zurückließ, sicher ebenso :-)


    Schöne Grüße, Thomas

  • Am Samstag stellte Felicitas Hoppe ihr neuestes Prosawerk "Prawda" in der Alten Feuerwache Mannheims vor. Angekündigt wird sie als eine der wenigen Autorinnen, die noch ganze, korrekte Sätze schreiben können. Moderiert wurde der Abend von Dennis Scheck, der viel Bewunderung für ihre Sätze aufbrachte. Dem Roman liegt eine historische Folie zugrunde. Ilf und Petrow, zwei russischer Schriftsteller, waren 80 Jahre vor Hoppe durch Amerika unterwegs und wurden zu Kultfiguren. Hoppe, die ihr Studium in Amerika absolviert hat und dort viele Jahre gelebt hat, reist nun in der Neuzeit diese Stationen der beiden Russen nach. Nur New York lässt sie dabei aus, darüber wollte sie nicht schreiben. Aus ihrer eigenen Reisen und der nur literarisch nachempfundenen Reise der beiden Russen baut Hoppe ihre Geschichte. Drei Lesestellen gibt es zu hören, da besucht man die Fordwerke, erlebt einen Twister und ist im Weißen Haus zu Gast. Mich lassen die von Scheck so gelobten Sätze jedoch ausgesprochen kalt, sie wirken mir zu konstruiert, zu leblos. Ganz anders hingegen ihr Essay-Band "Sieben Schätze" mit Vorlesungen zum Literaturschaffen, die 2009 in Augsburg gehalten wurden, in denen sie gekonnt durch persönliche Erfahrungen kleine bibliomane Meisterwerke schafft.

  • Ich kenne Frau Hoppe nicht, aber zu behaupten, es gäbe "wenige Autorinnen, die noch ganze, korrekte Sätze schreiben können", scheint mir reichlich vermessen.

    Vielleicht schreiben viele Autorinnen kein schönes Deutsch, das ist Geschmackssache, aber korrekte Sätze schreiben können die meisten doch wohl. Ich auch, zum Beispiel.

  • Andreas Maier in Darmstadt. Ein aufschlussreicher Abend. Der Autor erzählt über sein Projekt "Ortsumgehung" welches auf 11 Bände angelegt. Band 6 "Die Universität" ist gerade erschienen und beleuchtet auf großzügig gesetzten 150 Seiten die Studentenzeit des Ich-Erzählers. Maier erläuterte, dass ihm moderne deutsche Bücher, Thomas Mann ist damit also explizit ausgenommen, suspekt sind, wenn sie denn so lückenlos eine Geschichte erzählen. Maier macht in seinem 6. Band große Sprünge, er läutert, dass er für das vorliegende Buch 500 Seiten geschrieben habe und nur 150 sind dann für das Buch übrig geblieben. Er gibt aber auch zu, dass auch wirtschaftliche Überlungen dazu geführt haben, an einem dickeren Buch nicht vier bis fünf Jahre zu arbeiten. Das stärkste Kapitel, welches er auch als Lesestelle ausgewählt, behandelt seinen Studentenjob bei der dementen Witwe Theodor Adornos. Maier erzählt noch viel über sein Leben, wie er zum Autor wurde, wie er auf die Idee zur Ortsumgehung gekommen ist und welche Szene den Nukleus des ganzen Projektes darstellt.

    All dies wird auf hr2 nachzuhören sein. Der Sendetermin ist noch nicht bekannt.

  • Éric Vuillard, der frz. Prix Goncourt Gewinner, in Frankfurt/Main. "Die Tagesordnung" heißt sein dünnes Büchlein. Der zweite Weltkrieg bildet den Hintergrund. Kurze Szenen machen die damalige Zeit lebendig. Dabei changiert das Buch zwischen Sachbuch und Roman, denn die dort geschilderten Begnungen, z.B. zwischen Hitler und dem österreichischen Bundeskanzler Schussnigg, gab es wirklich und sind historisch mit Quellen belegt. Ebenso wie ein Treffen mit Industriellen. Vuillard greift das auf und macht ein unglaublich gutes Buch daraus. Das liegt am Stil, der auf der einen Seite mit seiner wörtlichen Rede Hitler gerade zu auferstehen lässt, auf der anderen Seite dann wieder nüchterne sachliche Beschreibungen. Beim gestrigen Leseabend hatte man den Eindruck, dass Buch sei im Original auf Deutsch geschrieben, Vuillard schreibt natürlich auf Französisch, auch der Moderator lobte die Übersetzung ausdrücklich.


    Leseempfehlung!

  • Danke für den Bericht!


    Ich habe das Buch gerade diese Woche gelesen - es war wirklich exzellent mit einigen brillanten Abschnitten. Vor allem, wie er Schuschnigg im Laufe des Buches immer mehr dekonstruiert - bis hin zu der Passage, in der er ihm zuruft: Du kannst nicht auf der Leiche der Freiheit tanzen und dann hoffen, dass sie dir zu Hilfe eilt (aus dem Gedächtnis zitiert). Auch dieses Buch liest sich wie ein Kommentar zum heutigen Zeitgeschehen. Parallele zu Andreas Maier: viel zu kurz.

  • Cees Nooteboom in Heidelberg mit einem sperrigen Buchtitel: "533 Tage. Berichte von einer Insel." Kein Moderator auf der Bühne. Nur der Autor, der aus seinem Buch liest. Es geht los mit Kakteen, die Nooteboom in den Garten seines Hauses auf Menorca züchtet. Er beschreibt Details, schweift dann ab, gleitet zum nächsten kruden Thema über, den Schildkröten. Weiter hinten dann im Buch die Geschichte zweier Spinnen, die sich im Haus niederließen und Kannibalen-Eigenschafen zeigen. Zum einen eine humorvolle Lektüre, die sich dann Gedanken über die großen Fragen des Lebens macht. Manchmal nicht explizit hingeschrieben - aber beim Zuhörer arbeitet das Hirn. Nooteboom hört Radio - deutsches Radio - SWR 2. Kennt natürlich auch der (kulturbeflissene) Heidelberger. Dort verfolgt er die Sendung "Wissen" - über NASA-Rentner, die heute noch in einem Nebengebäude sitzen und den Flug der Voyager 1 und 2 verfolgen. Voyager 1 hat das Sonnensystem inzwischen verlassen, aber sendet noch immer Positionsdaten zur Erde. Das Ende der Stromversorgung der beiden Sonden ist in naher Zukunft absehbar, sie werden durch den Sonnenstrom weiter ins Weltall getrieben bis sie in 40.000 Jahren auf den ersten Stern treffen.


    Am Ende gab es noch einige Gedichte aus dem noch nicht erschienenen Band "Mönchsauge". Zweisprachige Ausgabe mit 33 streng geformten Gedichten. Mit sehr schönen Bildern von Matthias Weischer. Das begründet den recht hohen Preis von 24 Euro. Es war also eine exklusive Premiere des Textes und das Buch gab es käuflich zu erwerben. Am Ende gab es Signaturen und Nooteboom nahm sich die Zeit jeweils Ort und Datum hinzuzufügen. Und seine mitgereiste Frau Simone Sassen signierte auch, sie ist für die Fotos in den Bänden verantwortlich, beispielsweise in Tumbas (über Schriftstellergräber) oder in Saigoku (über Reisen zu 33 japanischen Tempeln eines Pilgerwegs).


    Literatur kann man nicht schöner erleben. Wie Fußball in der Champions-League.

  • Herta Müller in der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt/Main. Sie bekommt den Ovid-Preis für ihr Lebenswerk. Laudatio, Musik mit Cello und Geige. Müller liest dann doch relativ lange aus ihren Collagen. Diese aus der Zeitung ausgeschnippelten Worte werden kunstvoll zu kleinen Mini-Gedichten geformt. Wenn Müller ihre Zeilen liest, dann fangen sie an zu schwingen (und klingen). Kein Bücherverkauf, keine Signierstunde, die meisten Gäste waren ohnehin ohne Buch gekommen. Die wenigen Signierwünsche wurden dann jedoch freundlich bedient.

  • Das erste Halbjahr 2018 ist um, und noch nie war ich so exzessiv auf Lesungen:


    Besuchte Lesungen: 44

    Autoren-Kontakte auf Lesungen: 46

    Signierte Bücher (nur 2018): 61

    Signierte Blätter im Fotoalbum (nur 2018): 42 (mit 44 Autoren)

    Signaturen im Ohlbaum-Bildband: 111 (+7)

    Signaturen im Mangoldt-Bildband: 92 (+5)

    Signaturen im Koelbl-Bildband: 13 (+2)

    Signaturen Barbara Klemm-Bildband: 3 (+0)

    Signaturen im Abireden-Band: 10 (+6)

    Signaturen im "Erstes-Buch"-Band: 22 (+10)

    Signaturen in Gomringer #poesie-Anthologie: 2 (+2)

    Signaturen in Leseproben Deutscher Buchpreis 2018: 0

  • Wie hat Dir die Lesung gefallen? Ich habe das Buch vor einigen Monaten gelesen und fand es ganz ordentlich, wie üblich bei Ondaatje atmosphärisch recht intensiv, aber von der Handlung her doch ein wenig dürftig... Erinnert mich ein wenig an Michael Frayns 'Spies' oder auch 'Sweet tooth' von Ian McEwan.

  • Am Sonntag stellt Martin Walser sein neues Buch (Buchpremiere) in Stuttgart vor. Für mich ist es Lesung No 103 in diesem Jahr.

    Am Dienstag, 20. Nov., kommen die Herausgeber der Kafka-Faksimile-Ausgabe nach Schwetzingen. Sie lehren beide an der Uni Heidelberg. Darauf freue ich mich ganz besonders.