Elizabeth Gaskell: Norden und Süden (North and South)

  • Proust ist ein ganzes Bündel, weil Proust von Anfang an gebündelt schreibt. Aber Gaskell liefert mal ein romantisches, mal ein sozialkritisches Kapitel. Wohl eine Schwäche der ursprünglichen Veröffentlichungsform...


    Heute will ich unbedingt weiterlesen.

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Du bist nicht nur ein guter Administrator, sondern auch ein sehr guter Moderator, das sieht man, wenn man im Archiv blaettert und auch hier. Du verstehst es, immer wieder Wegmarken zu setzen, die die Leute zum Nachdenken bringen und zum schreiben (ver-) fuehren. Du hast sicher recht, dass dem Buch in mancherlei Weise etwas Unentschiedenes anhaftet, aber ich finde, gerade das macht es interessant, liebenswert und verleiht ihm einen besonderen Charme. Ihr Herz wollte vielleicht eine Lovestory schreiben, ihr sehr gut geoelter Kopf hat sie dann dahingehend beraten, dass sie fuer die beiden etwas reales Unterfutter braucht, dazu gehoert dann auch die manchmal in den Vordergrund tretende Sozialkritik. Wunderbar ist doch, wie sie die drei Zuhause Margrets, das Idyll des Pfarrhauses, die Perfektion des Muessiggangs im Haus der vornehmen Tante in London und das Haus in Milton-Nord im Lande der Workaholiks und Malocher schildert, dazu sein kuehles Zuhause bei der Heldenmutter. Dann die wechselnden materiellen Lebensgrundlagen: Sie arm, er reich. Von Mr. Bell noch nicht gross die Rede. Dann erfaehrt man, er ist sein Paechter. Auf seinem Eigentum erwirbt und mehrt er mit seiner Tatkraft seinen Reichtum. Bell seinerseits "verdient" durch Throntons Wirken und das Steigen der Immobilienpreise dank des Fleisses aller "Werktaetigen" seinen Lebensunterhalt im Schlaf und kann dadurch als Schoengeist und Philanthrop voellig losgeloest von der Erde leben. Dann wendet sich das Blatt: Durch Bells Tod wird Margret reich und Throntons Grundeigentuemerin, die ihn vor der Pleite bewahrt. Lovestory auf interessanter materieller Grundlage. Ist doch schoen sowas. Und die Exkurse ins Sozialgefuege sind interessant und haben - nach meiner unmassgeblichen Meinung - fuer eine Pfarrerstochter der damalgen Zeit einen erstaunlichen Tiefgang, der sich nicht aufs Gefuehl beschraenkt. Thronton liefert immer wieder Insidergruende, warum alles so sein und bleiben muss, wie es ist; Higgins ein Selbstdenker trotz gelegentlichen Suffs, sucht Ansatzupunkte fuer positive Veraenderung, ohne sich selbst den Boden unter den Fuessen wegzuziehen. Dann die Kooperation der Beiden, aber fuer Friede, Freude, Eierkuchen sind die Themen der Gaskell doch zu ernst und zu komplex. Also die Frau hat trotz sicher vorhandener Widersprueche, Ungereimtheiten, ja gelegentlicher Klischees und Plattheiten, meine Hochachtung und Zuneigung.

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  • Hallo Volker


    Ich habe am Wochenende das Buch zu Ende gelesen. Ich brauche aber mehr Zeit, als ich hier gerade zur Verfügung habe, um Dir antworten zu können. Vielleicht heute Abend, vielleicht nächstes Wochenende, ja?


    Grüsse


    sandhofer

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  • Aus meiner Sicht gibt es bei Gaskell zwei Sorten von Geschichten. Die einen verfolgen ausdrücklich den Zweck der Sozialkritik. In Ruth beispielsweise bricht sie eine Lanze für Frauen, die trotz bester Absichten "auf Abwege" geraten sind. Gaskell fand es unerträglich, dass diese Frauen gleich zweimal bestraft wurden: einmal durch den "missratenen" Lebensweg (Opfer der Umstände) und dann auch noch durch die Verachtung der Gesellschaft (Opfer der öffentlichen Meinung). Die anderen Geschichten möchten eher unterhalten und schildern das Auf und Ab des täglichen Lebens, wozu ich Margarets Geschichte zählen würde. Da aber der christliche Glaube tief in Gaskells Leben verwurzelt war und nicht nur - um es einmal böse auszudrücken - für den sonntäglichen Kirchgang aus dem Schrank geholt wurde, lässt sie auch ihre religiösen Protagonisten Alltagsprobleme mit Hilfe des christlichen Glaubens lösen. Für uns mag es kitschig klingen, wenn Margaret, Mr. Hale und Higgins miteinander beten; aber ich kann mir vorstellen, dass es für Gaskell (wäre sie in einer solchen Situation gewesen) die natürliche und als ideal angestrebte Handlungsweise gewesen wäre, mit Higgins zu beten - aus der Überzeugung heraus, dass es allen geholfen hätte. Ein kleines bisschen missionieren will sie damit natürlich schon, aber sicher lange nicht so bewusst wie in anderen Erzählungen (z. B. manchen ihrer Kurzgeschichten).

  • so aehnlich hab ich mir das auch zusammengeeimt und sehe die "Schwaechen" des Buches als zeit- und "zugehoerigkeit"sbedingt. Melde mcih wieder. Mein Bildschirm ist um 90 Grad verdreht. Sehr unangenehm.

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  • Mein Bildschirm ist um 90 Grad verdreht. Sehr unangenehm.


    Bist Du aus Versehen auf die falsche Tastenkombination gekommen?



    Dies sind die häufigsten Tastenkombinationen oder Tastenkürzel zum Drehen des Bildschirm-Inhaltes:


    ◾STRG + Pfeiltaste
    ◾STRG + ALT + Pfeiltaste
    ◾STRG + SHIFT + Pfeiltaste
    ◾STRG + SHIFT + 9 (für 90° Drehung)



    Gefunden bei http://www.computerhilfen.de

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  • Im Übrigen bitte ich auch Dich, Macneth, um Geduld. Ich brauche mehr Zeit, als ich aktuell habe, um auf Deine Argumente einzugehen. Am Wochenende sollte es klappen...

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  • Vielen Dank, Sandhofer, nein, ich wollte einen anderen Bildhintergrund installieren und der lag falsch. Dann hab ich den gesamten "Schirm" gedreht. (Hab wenig Ahnung). Mein SEHR netter PC-Mann hat es ueber Ferndiagnose mit mir in Ordnung gebracht. Sein Einstieg war derselbe, den Du mir auch empfohlen hast. Aber DER klappte leider nicht. Er ist dann in meinen PC eingesiegen und hat es geregelt (Ich hab Vertrauen zu ihm).
    Hab gestern uebrigens wieder in dem Buch "Das Allte Testament" von Christoph Levin gelesen. ICH finde es SEHR gut.

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  • Sodele...


    Ihr Herz wollte vielleicht eine Lovestory schreiben, ihr sehr gut geoelter Kopf hat sie dann dahingehend beraten, dass sie fuer die beiden etwas reales Unterfutter braucht, dazu gehoert dann auch die manchmal in den Vordergrund tretende Sozialkritik.


    Ja. Und als Prinzip durchaus lobenswert. Die Eierschalen einer kapitelweisen Veröffentlichung in einer Zeitschrift bleiben leider haften. Schön brav werden verschiedene Verwicklungsstränge aufgebaut. Schön brav in verschiedenen Kapiteln, damit ich den Leser gleich mit mehreren Cliff-Hangern bei der Stange halten. Karl May hat ähnlich komponiert, vor allem in seinen ellenlangen Kolportageromanen, die bei Münchmeyer erschienen sind, und so ganz ist auch May diese schlechte Gewohnheit nicht losgeworden. Proust, ich habe es schon angedeutet, verflicht seine verschiedenen Stränge analog zur Art und Weise, wie ein Seil hergestellt wird. May und Gaskell verspleissen immer neue kurze Fasern hintereinander. So was trägt bedeutend schlechter. Ich kannte Gaskell bisher nur als Autorin von Kurzgeschichten; vielleicht lag ihr das mehr. Allerdings muss ich sagen, dass Gaskell, nachdem der Roman in der Mitte so ziemlich 'durchhing', einen fulminanten Endspurt hingelegt hat. Es liegen zwar etwelche Tote auf dem Weg unseres Liebespaars ins Glück, aber was soll's. Dafür ist die Schilderung der ziemlich hirn- und relativ herzlosen Verwandten in London gut gelungen.


    Lovestory auf interessanter materieller Grundlage.


    Was sie für mich tatsächlich auch interessanter macht als den frühen oder mittleren Dickens.


    Aus meiner Sicht gibt es bei Gaskell zwei Sorten von Geschichten. Die einen verfolgen ausdrücklich den Zweck der Sozialkritik. In Ruth beispielsweise bricht sie eine Lanze für Frauen, die trotz bester Absichten "auf Abwege" geraten sind. Gaskell fand es unerträglich, dass diese Frauen gleich zweimal bestraft wurden: einmal durch den "missratenen" Lebensweg (Opfer der Umstände) und dann auch noch durch die Verachtung der Gesellschaft (Opfer der öffentlichen Meinung).


    Ist geistig notiert, danke!


    Da aber der christliche Glaube tief in Gaskells Leben verwurzelt war und nicht nur - um es einmal böse auszudrücken - für den sonntäglichen Kirchgang aus dem Schrank geholt wurde, lässt sie auch ihre religiösen Protagonisten Alltagsprobleme mit Hilfe des christlichen Glaubens lösen. Für uns mag es kitschig klingen, wenn Margaret, Mr. Hale und Higgins miteinander beten; aber ich kann mir vorstellen, dass es für Gaskell (wäre sie in einer solchen Situation gewesen) die natürliche und als ideal angestrebte Handlungsweise gewesen wäre, mit Higgins zu beten - aus der Überzeugung heraus, dass es allen geholfen hätte.


    Letzteres ganz sicher, ja. Was aber nicht heisst, dass ich als Leser das goûtieren muss. Es klang sicher auch im 19. Jahrhundert weniger kitschig als heute, muss es aber auch damals gewesen sein. Wenn ich als Vergleich die Stelle gleich zu Beginn von Barchester Towers nehme, wo der Dean am Totenbett seines Vaters, des Bischofs kniet, und betet - wie anders, unsentimentaler und schon fast zynisch hat der nur 5 Jahre jüngere Trollope dieses Thema behandelt! Ich mag Gaskell, aber Trollope ziehe ich dennoch vor, auch wenn er ein starrköpfiger Konservativer war...

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  • Ich habe es also auch zu Ende gelesen, obwohl ich mich streckenweise zum Lesen zwingen musste. Die vielen Tode, das war mir teils zu melodramatisch.
    Realistisch geschildert und damit gut fand ich allerdings, wie Margaret auf den unerwarteten Tod des Vater, der sie noch dazu ziemlich allein zurückließ, viel schwerer genommen hat als den der Mutter.


    Was mich furchtbar genervt hat waren die Liebesverwicklungen zwischen Margaret und Mr Thornton, obwohl (oder gerade weil) ich mich in Margarets Alter ähnlich aufgeführt habe wie sie, allerdings mit weniger gutem Ausgang.


    Das Ende fand ich etwas schade, es war romantisch, ja, aber ich hätte zu gern gelesen wie die Londoner Verwandtschaft darauf reagiert hätte. Da wären noch ein paar köstliche Szenen drin gewesen.


    Habe ich schon erwähnt dass ich Dickens absolut nicht mag? Gaskell hat sich deutlich besser gelesen, gerade in den sozialkritischen Kapiteln, aber eine gewisse Verwandtschaft ist nicht zu leugnen.

  • Die vielen Tode, das war mir teils zu melodramatisch.


    Ja. Es kippte aber leider auch ein wenig ins Komische, wie da der Reihe nach alle Verwandten umfallen ... und die gute Margaret plötzlich reich ist. Mit Sentimentalität war allerdings das ganze Zeitalter wohl sehr beladen.

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Sandhofer, danke!
    Du hast da einigen viel besser auf den Punkt gebracht als ich es könnte.


    Auch wenn der Roman nicht ganz mein Geschmack war bin ich froh, dass ich ihn gelesen habe. Ein Blick in eine andere Welt, sozusagen.


    Das mit den realistischen männlichen Chrarakteren finde ich interessant und es stimmt. Wobeivcich zu meiner Schande sagen muss dass ich bisher weder von Jane Austen noch von den Bronte-Schwestern irgendwas gelesen habe.

  • Ja. Es kippte aber leider auch ein wenig ins Komische, wie da der Reihe nach alle Verwandten umfallen ... und die gute Margaret plötzlich reich ist. Mit Sentimentalität war allerdings das ganze Zeitalter wohl sehr beladen.


    Ja, gewiss, sentimental. Aber doch nicht ohne einen Schuss an emanzipatorischer Kritik. Denn Ms. Gaskell lässt ihre Liebenden erst dann zueinanderkommen, als sie sich auf gleicher Augenhöhe begegnen können. Damit wird das Thema des Aschenbrödels, das den reichen Prinzen findet, variiert. Margaret muss nicht von Thornton gerettet werden, und als sie ihn erhört, 'braucht' sie ihn auch nicht mehr. Die Gleichrangigkeit und die finanzielle Selbständigkeit der Frau als Basis für eine glückende Partnerschaft - finde ich trotz der hier konkret vorliegenden leicht slapstickhaften Einfädelung - ganz schön gut.

  • Ich habe inzwischen zum Vergleich auch Hard Times von Dickens gelesen (und auch die Einträge in der Leserunde, die vor eineinhalb Jahren stattgefunden hat). Dickens' Roman soll ja der erfolgreichere gewesen sein bei den Lesern von Household Words, was ich nicht so ganz nachvollziehen kann. Ich fand den Roman lesbar, aber es gibt bessere von Dickens, und die Industrialisierung ist eher eine Kulisse, groß thematisiert wird da nichts. Das finde ich aus der heutigen Perspektive schade, war aber vermutlich für den damaligen Leser nicht so von Bedeutung.


    Tenar: dann lies doch mal was von Jane Austen und am besten Jane Eyre von Charlotte Bronte. Es lohnt sich!


  • Ja, gewiss, sentimental. Aber doch nicht ohne einen Schuss an emanzipatorischer Kritik. Denn Ms. Gaskell lässt ihre Liebenden erst dann zueinanderkommen, als sie sich auf gleicher Augenhöhe begegnen können. Damit wird das Thema des Aschenbrödels, das den reichen Prinzen findet, variiert. Margaret muss nicht von Thornton gerettet werden, und als sie ihn erhört, 'braucht' sie ihn auch nicht mehr. Die Gleichrangigkeit und die finanzielle Selbständigkeit der Frau als Basis für eine glückende Partnerschaft - finde ich trotz der hier konkret vorliegenden leicht slapstickhaften Einfädelung - ganz schön gut.


    Das sehe ich genauso. Und hierin liegt - in Ergänzung zu thopas' Ausführungen - auch ein Unterschied zur Herangehensweise Dickens', der seine Frauen in der Regel mit deutlich weniger materieller Unabhängigkeit ausstattet, die sich zugleich auf ihr Handeln und ihre Selbstständigkeit auswirkt. Bei Dickens haben zwar die Frauen durchaus oft die "Hosen an" in ihren Beziehungen, aber das wird dann häufig ins Lächerliche gezogen. Was das Sentimentale angeht, da gibt es - neben Dickens und wirklich marginal bei diesem Gaskell-Roman - viele in der englischen Literatur und auch in anderen, das gehört auch einfach zum Teil zum 19. Jahrhundert dazu. Wenn's dann dabei bleibt, dann haben wir den Hintertreppenroman, aber solange Anderes im Vordergrund steht, sollten wir da nicht so geschmäcklerisch sein.

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Das ist doch schoen, dass hier noch so interessante Gedanken geaeussert werden. Die Bemerkung von Newman, dass sich die beiden erst kriegen, als Margret nicht mehr "gerettet" werden muss und die Ehe als Versorgungsinstitut nicht mehr braucht, finde ich sehr gut. Das hatte ich mir gar nicht sooo klar gemacht. Danke!
    Sandhofer war es - glaube ich - der irgendwann im Verlauf mal geschrieben hat, der Gaskell laegen moeglicherweise kurze Geschichten mehr. Obwohl mein literarisches Urteil eher wacklig ist, widerspreche ich da: Ich habe in der Wartezeit auf die Leserunde den noch dickeren Schinken Frauen und Toechter gelesen und bin ziemlich angetan von Ihrer Faehhigkeit ein weit verzweigteres Personaltableau mit viel krauseren Problemen "irgendwie" (ICH weiss nicht, wie sie es macht, es ist etwas wie Zauberei dabei) zu verknuepfen. (Uebrigens: nix Industrialisierung, nix moralische Aufruestung). Der Titel Farauen und Toechter ist mir ein Raetsel geblieben. Die kommen zwar vor, die Soehne und der alte Sqire sind aber gleichgewichtig. Der alte Squire und sein Anwesen haben mir uebrigens sehr gefallen.

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