Elizabeth Gaskell: Norden und Süden (North and South)

  • Hallo zusammen, lese nun doch auch mit, es geht sich zeitlich bei mir gut aus :smile:. Ich lese auch die Penguin Popular Classics Ausgabe von 1994. Habe das Buch vor ein paar Jahren schon mal gelesen und es hat mir damals sehr gut gefallen.


    Ich habe gestern die ersten sieben Kapitel gelesen und bin wieder sehr angetan. Es liest sich schon sehr wie eine Art "Vertreibung aus dem Paradies" die den Hales hier widerfährt, nachdem der Vater von der Kirche "abgefallen" ist. Die Beschreibung der Pfarrei bzw. des Hauses in Helstone kam mir zwar auch etwas bedrückend vor (v.a. wegen des ewigen Gemeckers der Mutter), aber das Drumherum, die Landschaft etc. sind doch wie ein richtiges Paradies beschrieben. Da leidet man richtig mit mit der armen Margaret, die das dann bald unverschuldet verlassen muss und in eine ganz andere Welt "verstoßen" wird.


    Ich melde mich später nochmal mit ausführlicheren Überlegungen.


  • Danke für die ausführliche Begründung.
    Ich habe heute auch etwas weitergelesen. Sie sind jetzt bei den Umzugsvorbereitungen, die
    Margaret mit den Hausangestellten alleine stemmen muß. Auch haben sie noch keine neue
    Bleibe gefunden. Der Vater scheint in praktischen Dingen nicht zu gebrauchen zu sein.


    Gruß, Lauterbach

  • Hoffentlich nehmt Ihr mir es nicht uebel, wenn ich wie bei der echternacher Springprozession nochmal einen Schritt zurueck mache. Zunaechst zu finsburys schoener Stelle (Du hast recht, zentral ist sie nicht, aber tatsaechlich SEHR schoen). Die Idee mit der Kuppel hat mich an ein beruehmtes Bild erinnert, zu dem ich einen Link hierhersetze:
    http://userpage.fu-berlin.de/h…s/jensd/16xx/anonymus.gif
    Dann hab ich gezielt nach einer schoenen ironischen Stelle gesucht. Du hast insofern recht, als sie nicht so schoen bissig ist, wie manchmal bei der Austin, aber schoen ironisch ist sie auch, finde ich jedenfalls:
    Kapitel 1, ziemlich zum Schluss, bei mir Seite 20: Jedoch war sie (Mrs. Shaw, die Tante Ms.) in juengster Zeit darauf verfallen, ihre eigene Gesundheit als eine Quelle der Beunruhigung zu sehen; wann immer sie darueber nachdachte, setzte bei ihr ein nervoeses Huesteln ein; und ein zuvorkommender Arzt verordnete ihr genau das, was sie sich wuenschte: einen Winter in Italien. Mrs Shaw hatte genauso ausgepraegte Wuensche wie andere Leute auch, aber es missfiel ihr, irgendetwas aus dem offen bekannten Motiv ihres eigenen Wohlgefallens und Vergnuegens heraus zu tun; sie zog es vor, durch die Anordnung oder den Wunsch einer anderen Person dazu genoetigt zu werden, sich etwas Gutes zu tun. Sie redete sich wahrhaftig ein, dass sie sich einer schwerwiegenden aeusseren Notwendigkeit beugte; und somit konnte sie auf ihre hoefliche Weise stoehnen und klagen, derweil sie in Wirklichkeit genau das tat, was ihr gefiel.

    if all you have is a hammer, all you see looks like a nail.

    Einmal editiert, zuletzt von Volker ()

  • Bei der Suche nach der Ironie, ist mir etwas aufgefallen, von dem ich denke, dass es in Werken dieser Zeit selten ist, naemlich ein Sinn fuer Absurdes:
    Kapitel 1, Seite 15: Die Szene, in der Margret die eigentlich fuer die schlafende Braut Edith bestimmten indischen Schals als scheinbares Aschenbroedel und Kleiderpuppe, in Wirklichkeit als wahre Prinzessin moeglichst passiv, von der Tante gedreht, zur Schau stellt. Der abrupte Klimawechsel beim Eintritt des Bruders des Braetuigams (Henry Lennox). Sie wird nicht mehr gebraucht (was sie nicht sofort bemerkt) und die Tante wendet sich dem neuen Gast zu. Dann der schoene Satz: "doch sie sah Mr.Lennox heiter und amuesiert an, als waehnte sie sich seines Mitgefuehls darueber sicher, in einer so laecherlichen Pose ueberrascht zu werden."


    Im Uebrigen bin ich sehr froh, hier mitmachen zu duerfen und bedanke mich fuer die interessanten Einsichten, vor allem auch fuer die Aufklaerung in Sachen Religion durch JNewman(?) (habe Angst zurueckzublaettern, vielleicht ist dann mein Text weg?)

    if all you have is a hammer, all you see looks like a nail.

    Einmal editiert, zuletzt von Volker ()

  • Danke, Volker, bezüglich deiner Beispiele für Ironie, die ja Gaskell gerade am Anfang tatsächlich bringt, im auktorialen Kommentar.


    Bin inzwischen weitergekommen und schon länger im industriellen Norden, hab aber unter der Woche wenig Zeit zum Lesen, geschweige denn zum Schreiben.

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Ich habe jetzt Kapitel 14 beendet.


    Bisher hat sich eine sehr schöne Konstellation eingestellt, die sehr interessante Konflikte erahnen lässt.


    Da ist Margaret, die im Sinne der alten aristokratischen Philanthropie auf die sozialen Probleme eingeht, die sich ihr in Milton präsentieren. Da ist der interessante Mr. Thornton, der ganz im Sinne der kapitalistischen Ethik (Sparsamkeit - Leistungswille - Lebensdisziplin) argumentiert. Und Mr. Higgins, der einen praktisch-rationalen Materialismus vertrirtt ("ich glaube nur an das, was ich weiß und sehe"), aber eine schwerkranke Tochter hat, die unter 'methodistischen Fantasien' leidet. :breitgrins:.


    Besonders schön fand ich auch eine Stelle am Ende eines der früheren Kapitel (war es bei der Übernachtung in London auf dem Weg nach Milton?), in der Margaret nach nach der Überlegung zum mitleidslosen Kosmos (wir hatten die Stelle oben besprochen) auch die Mitleidslosigkeit der Gesellschaft empfindet.


    Und noch eine Beobachtung: Beim Besuch bei den Higgins' erzählt Margaret Bess von ihrem Leben in Helstone - und es wird sofort deutlich, dass sie bisher nur eine Zuschauerin des Lebens war, während sie jetzt in Milton zu einer Handelnden wird.

  • Es ist beeindruckend, wie schnell und intensiv sich die Diskussion hier entwickelt!


    finsbury: Ja, es ist in Ordnung, aus der deutschen Übersetzung zu zitieren. Andernfalls wäre es enorm schwierig, sich im Detail mit einzelnen Passagen zu befassen.


    Die Stelle in Kapitel 5, wo Margaret in die Dunkelheit hinausstarrt, finde ich auch wunderschön formuliert und sehr berührend. Hier tritt Gaskells schriftstellerisches Talent deutlich zutage.


    Kirchtürme/englische Ausgaben: Die Kirche in Helstone könnte theoretisch einen oder auch zwei Kirchtürme haben. Es gibt drei Stellen, an denen von dem Kirchturm/den Kirchtürmen die Rede ist. Zwei davon sprechen in der Ausgabe der "Penguin Popular Classics" von einem Kirchturm (S. 52 und 69), die dritte von zweien (S. 52). Höchstwahrscheinlich ist die Mehrzahl an der zweiten Stelle falsch und wurde deshalb in anderen englischen Versionen korrigiert.
    Es gibt also durchaus Abweichungen zwischen verschiedenen englischen Ausgaben. Meine Referenz war "Penguin Popular Classics", die ich teilweise mit der von "Wordsworth Classics" verglichen habe.


    Mr. Hales "Zweifel": Es ist ein wenig unbefriedigend für den Leser, dass nicht klipp und klar gesagt wird, warum genau Mr. Hale denkt, er könne kein Pfarrer mehr sein. Schließlich ist der Wegzug der Familie Hale aus Helstone der Ausgangspunkt für die gesamte nachfolgende Handlung. Anfangs war ich von der Erklärung aus der BBC-Verfilmung beeinflusst und dachte, es ginge um spezielle Formulierungen in der Liturgie, mit denen sich Hale nicht mehr identifizieren kann. Aber das Zitat des Mr. Oldfield und Mr. Hales Aussage, dass er die Kirche so liebe, haben mich dazu gebracht, zu glauben, dass es um pure Selbstzweifel geht. Mr. Hale hält sich nicht mehr für würdig und dazu berufen, anderen Menschen im Namen Gottes zu predigen und sie zu segnen.
    Wie gesagt, geht der eigentliche Grund m. E. nicht eindeutig aus dem Text hervor. Bemerkenswert ist jedenfalls die Tatsache, dass die Macher der BBC-Verfilmung es für nötig gehalten haben, den Punkt auszuschmücken und zu verdeutlichen.

  • Interessant wäre, ob ein Leser der damaligen Zeit die Gründe für Mr. Hales Zweifel nachvollziehen hätte können. Oder hat Gaskell einfach nur einen Grund benötigt, der es unumgänglich macht, dass die Hales relativ weit weg gehen müssen und damit dann in den Norden kommen, den Gaskell dann in Kontrast zum Süden setzen kann?


    Es erscheint am Anfang ja alles ziemlich plakativ (Süden = schön, paradiesisch, entspannte Menschen vs. Norden = düster, unheimlich, angespannte und verbissene Menschen), wird sich dann aber mit der Zeit vermutlich immer mehr differenzieren. Es wirkt ja nicht nur so, als ob die Hales in einer völlig fremden Welt landen, auch Thornton sieht v.a. Margaret wie ein Wesen aus einer fremden Welt (sie wird ja wie eine Art Elfe beschrieben; die elfenbeinfarbene Haut, die weichen, runden Hände; vermutlich alles im Gegensatz zu den ausgemergelten Frauen, die in den Baumwollspinnereien arbeiten).

  • Mr. Hales "Zweifel": Es ist ein wenig unbefriedigend für den Leser, dass nicht klipp und klar gesagt wird, warum genau Mr. Hale denkt, er könne kein Pfarrer mehr sein. Schließlich ist der Wegzug der Familie Hale aus Helstone der Ausgangspunkt für die gesamte nachfolgende Handlung. Anfangs war ich von der Erklärung aus der BBC-Verfilmung beeinflusst und dachte, es ginge um spezielle Formulierungen in der Liturgie, mit denen sich Hale nicht mehr identifizieren kann. Aber das Zitat des Mr. Oldfield und Mr. Hales Aussage, dass er die Kirche so liebe, haben mich dazu gebracht, zu glauben, dass es um pure Selbstzweifel geht. Mr. Hale hält sich nicht mehr für würdig und dazu berufen, anderen Menschen im Namen Gottes zu predigen und sie zu segnen.
    Wie gesagt, geht der eigentliche Grund m. E. nicht eindeutig aus dem Text hervor. Bemerkenswert ist jedenfalls die Tatsache, dass die Macher der BBC-Verfilmung es für nötig gehalten haben, den Punkt auszuschmücken und zu verdeutlichen.


    Ah, interessant! :winken:


    Die BBC-Verfilmung kenne ich nicht. Dass das alles etwas unmotiviert daher kommt, finde ich auch, zumal jetzt in den folgenden Kapiteln das Thema gar nicht mehr angeschnitten wird (aber da kommt vielleicht noch mehr).


    Mr. Hale erwähnt in seinem Offenbarungsgespräch mit Margaret ja eine Option, die er geprüft habe: die angebotene neue Pfarrstelle auszuschlagen und still in Helstone als Geistlicher seine Tage zu beschließen. Dies hätte ihn der Notwendigkeit enthoben, die 'conformity to the Liturgy' noch einmal zu erklären. Allerdings verwirft er diese Option aus Gründen der Wahrhaftigkeit. Dass es immerhin eine Option war, scheint mir darauf hinzudeuten, dass es nicht nur um Selbstzweifel geht, sondern doch um Zweifel an irgendetwas, das in der Declaration of Assent benannt wird, das also liturgischer oder dogmatischer Natur ist.


    Aber was dann in der Tat verwundert: Mr. Hale scheint keinerlei Anschluss an andere Dissenter zu suchen. Sollte er in die unitarische Richtung tendieren, könnte er doch in Milton ein entsprechende Gemeinde aufsuchen... Es bleibt also ein bisschen rätselhaft.


  • Interessant wäre, ob ein Leser der damaligen Zeit die Gründe für Mr. Hales Zweifel nachvollziehen hätte können. Oder hat Gaskell einfach nur einen Grund benötigt, der es unumgänglich macht, dass die Hales relativ weit weg gehen müssen und damit dann in den Norden kommen, den Gaskell dann in Kontrast zum Süden setzen kann?


    Für mich sind Mr. Hales Zweifel für den Roman/die Handlung vor allem eins: Der Auslöser, wieso ein nicht ehrgeiziger Pfarrer mit Familie vom schönen Süden in den tristen Norden zieht ... Da bietet sich eine "Glaubenskrise" (wie immer sie geartet ist) ja an. :zwinker:


    Ich habe jetzt erst Kapitel 8 beendet.


    In Kapitel 7 hat die Familie Helstone verlassen und macht in dem Badeort Heston Zwischenstation. Sind Euch auch die Namen aufgefallen? Heston - nicht mehr Helstone und noch nicht Milton. In Heston sieht alles "zweckmäßig" aus und auch sonst ist es wie ein Vorbote der Industriestadt:
    - "... mehr Eisen und weniger Holz und Leder am Zaumzeug; ..."
    - "Die Farben wirkten graustichig - beständiger, nicht so bunt und hübsch."
    - Auch die weit geschnittenen Bauernkittel sieht man nicht mehr: "... sie behinderten rasche Bewegungen und verfingen sich leicht in Maschinenteilen ..."


    In Kapitel 7 auch Margarets erste Begegnung mit Mr. Thornton, geprägt von Stolz und Vorurteil ... :zwinker:


    In Kapitel 8 die erfolglose Suche nach einem Dienstmädchen: Dadurch wird die neue Situation, die veränderte Stellung der Hales eindringlich dargestellt. Und am Ende des Kapitels kommt Margaret doch in Milton an - sie lernt die Higgins kennen.


    Gruß, Gina

  • Das mit Heston als Übergangsort ist eine sehr schöne Beobachtung, @Gina!
    Und JHNewman ganz herzlichen Dank für die zeitgenössischen weltanschaulichen Hintergründe.


    Macneth, ich kann nicht ganz glauben, dass sich Mr. Hale nur persönlich für unwert hält, zu predigen. Ich nehme schon an, dass er meint, dies nicht mehr im Namen der Kirche von England zu können, also muss er doch ein Problem mit deren Liturgie haben. Aber ich habe im Moment keine Zeit, meine Meinung am Text zu belegen, hole ich morgen nach.

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Ich bin nicht sehr viel weiter gekommen.


    Kapitel 15 ist aber für mich ein erster großer Höhepunkt des Romans: Ein Streitgespräch zwischen Margaret und Mr. Thornton zur 'Klassenfrage'. Hier prallen die Positionen ganz hart aufeinander. Mr Thornton vertritt den Standpunkt des autoritären Kapitalisten, der die von ihm abhängigen Schichten despotisch beherrschen will und sogar vor dem unsäglichen Vergleich mit Cromwell nicht zurückschreckt ("ein Cromwell wäre der richtige, um die Lage zu beherrschen" - sinngemäß).


    Margaret hingegen denkt in den Kategorien einer partnerschaftlichen Beziehung zwischen den Klassen - Fabrikanten und Arbeiter sind voneinander abhängig. Die einen brauchen Lohn und Arbeit, die anderen die Arbeiter, um ihre Fabriken zu betreiben. Daher wäre ein Verhältnis der gegenseitigen Fürsorge und Verantwortung angemessen. Auch erwähnt sie das Konzept des 'stewardship' i.e. den Reichen ist ihr Reichtum nur anvertraut, es ist somit nicht in ihr Belieben gestellt, wie sie damit verfahren, sie sind letztlich einer höheren Autorität verpflichtet. In Margarets Argumentation klingt der christliche Gedanke durch, wie er etwa durch John Wesley und den Methodismus sehr stark in den sozialen Konflikten der britischen industriellen Revolution vertreten wurde.


    Auch wenn sie angesichts der sozialen Probleme möglicherweise etwas naiv erscheint, so kommt Mr Thornton doch in erster Linie hart und selbstgerecht daher. Trotz der harten sachlichen Gegensätze scheint am Ende so etwas wie Sympathie zwischen den beiden auf.


    Im folgenden Kapitel 16 bewahrheiten sich dann die schlimmsten Befürchtungen hinsichtlich des gesundheitlichen Zustandes von Mrs. Hale. Bemerkenswert finde ich aber, dass in diesem Kapitel das Gegenmodell zu den autokratischen Herrschaftsvorstellungen von Mr Thornton gezeigt wird: Trotz aller Konflikte zwischen Dixon und der Familie wird doch deutlich, dass die Hausangestellte und ihre Arbeitgeber in einer fürsorglichen Beziehung zueinander stehen.

  • Was ich ganz interessant finde, ist, dass die Hales sich ja als etwas besseres vorkommen, weil sie aus dem "aristokratischen Süden" sind und diese Atmosphäre harter Arbeit nicht kennen. Sie sind ja auch ein bißchen irritiert über die Vergangenheit der Thorntons, auch wenn Margaret anerkennt, dass John Thornton sich aus eigener Kraft nach oben gearbeitet hat. (Wobei Mrs Hale an der alten Spitze, die Mrs Thornton trägt, erkennt, dass die Familie doch einmal wohlhaben gewesen sein muss.)


    Im Gegensatz dazu denken die Thorntons (v.a. Johns Mutter), dass sie die weitaus höher gestellten sind, da Hale ja nur ein Hauslehrer ist und quasi schon fast zu den Dienstboten gehört. Also hält sich jeder für besser als es der andere ist...

  • Meine Bewundereung fuer die Gaskell wird mit jedem Mal Lesen groesser:
    Im Kapitel 14, Meuterei, werden nicht einfach Briefstellen zitiert, ein sicher auch damals bekannter "Kunst" griff, sondern Mutter und Tochter referieren die Stellen oder sie werden von der Verfasserin referiert. Darauf muss man erst mal kommen!
    Das Thema Frederick mag aus manchen Gruenden bis jetzt aufgespart worden sein, EIN Grund ist doch sicher, dass es hier in die Naehe des Streiks rueckt. Navy und Industrie, beides fuer England "stilbildend", einmal traditionell und einmal hoch modern. In beiden Sphaeren laesst das Verhaeltnis von oben und unten zu wuenschen uebrig. Die gerechte Rebellion ist ueberhaupt m.E. ein roter Faden im Buch: Der sanfte Mr. Hale kann sich - aus welchen Gruenden auch immer - nicht mehr mit "seiner" Kirche identifizieren, Frederick lehnt sich gegen die Ungerechtigkeit bei der Navy auf, die Arbeiter wollen nicht warten, bis alles "von selbst" besser wird, wie es offenbar Mr. Thronten und Kollegen glauben und Margret stellt auch gerne die Stacheln.

    if all you have is a hammer, all you see looks like a nail.


  • Was ich ganz interessant finde, ist, dass die Hales sich ja als etwas besseres vorkommen, weil sie aus dem "aristokratischen Süden" sind und diese Atmosphäre harter Arbeit nicht kennen. Sie sind ja auch ein bißchen irritiert über die Vergangenheit der Thorntons, auch wenn Margaret anerkennt, dass John Thornton sich aus eigener Kraft nach oben gearbeitet hat. (Wobei Mrs Hale an der alten Spitze, die Mrs Thornton trägt, erkennt, dass die Familie doch einmal wohlhaben gewesen sein muss.)


    Im Gegensatz dazu denken die Thorntons (v.a. Johns Mutter), dass sie die weitaus höher gestellten sind, da Hale ja nur ein Hauslehrer ist und quasi schon fast zu den Dienstboten gehört. Also hält sich jeder für besser als es der andere ist...


    Thopas, das finde ich auch bemerkenswert. Es gibt ja auf beiden Seiten einen gewissen Dünkel und ein leicht aggressiv gefärbtes 'Klassenbewusstsein'. Auch die Arbeiterklasse und die Schicht der Industriellen (the Masters) beharren jeweils forsch auf ihrer Identität und grenzen sie gegenüber den aristokratisch geprägten 'Southerners' ab.


    Aus einer bürgerlich deutschen Sicht ist dies schon etwas ungewöhnlich. Einen Konflikt zwischen Aristokratie, Bürgertum und Industrie im Hinblick auf das Standesbewusstsein kannte man hier sicherlich auch (man denke nur an die hinreißenden Passagen in Fontanes 'Frau Jenny Treibel'), aber ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein der Arbeiterklasse VOR den großen sozialen Bewegungen wie Kommunismus und Sozialdemokratie war aber m. E. doch eher ungewöhnlich.

  • Es wird ja, von John Thornton glaube ich, auch gesagt, dass es im Norden viel einfacher ist, sich hochzuarbeiten und reich zu werden, wohingegen man im Süden eher von der Herkunft (und Bildung) her geprägt ist.


    Die beiden Beresford-Schwestern sind ja gute Beispiele: währen Tante Shaw einen älteren, aber reichen Mann geheiratet hat (den sie allerdings nicht liebte) und so ihrem Stand gemäß leben kann, ist Mrs Hale eine Liebesheirat eingegangen mit einem Landpfarrer, der zwar Bildung hat, aber sonst leider nicht so viel. Darunter leidet sie ja ihr ganzes Leben. Die Hales sprechen ja auch in Helstone davon, dass es kaum Leute in der Nachbarschaft gibt, die angemessene Gesellschaft für sie sind.


    In Kapitel 18 (?) spricht Margaret mit Bessy über ihre Einladungs zum Dinner bei den Thorntons und Bessy ist überrascht, dass die Thorntons die Hales überhaupt einladen. Für Margaret ist es selbstverständlich, denn für sie zählt allein Bildung, nicht Geld. Im industriell geprägten Norden ist es allerdings nicht selbstverständlich. Hier zählt allein die Arbeitsleistung bzw. der Erfolg und das Geld, nicht die (klassische) Bildung. Thornton ist ja auch eher eine Ausnahme dadurch, dass er die klassische Bildung nun bei einem Hauslehrer nachholt (was seine Mutter als verschwendete Zeit ansieht).

  • Inzwischen bin ich in Kapitel 23 angelangt.


    Aber zunächst zu meiner Äußerung von unten, dass Mr. Hale sein Amt niederlegte, weil er mit der Liturgie der Anglikanischen Kirche ein Problem habe.


    Es ist keinen Monat her, dass mir der Bischof eine andere Stelle angeboten hat, wenn ich sie angenommen hätte, dann hätte ich bei meiner Amtseinführung meine Konformität mit der Liturgie von neuem erklären müssen.


    Das spricht für meine These. Andererseits, Macneth, hat deine These auch sehr viel Rückhalt im Buch, da Hale immer wieder erklärt, wie wichtig ihm auch die Kirche ist, und dass er dieser nicht schaden will:


    O Margaret, wie sehr ich die heilige Kirche, von der ich ausgeschlossen werden soll, liebe. (beide Stellen Kap. 4)


    Das ist nicht zu entscheiden. Anscheinend hat Mr. Hale ein exklusives Problem, das uns Normalsterblichen verschlossen bleibt und in der Tat im Wesentlichen die Funktion hat, die Handlung in Gang setzt.


    Aber nachdem ich nun richtig im Roman angekommen bin, spielt das alles nur eine marginale Rolle, ebenso wie meine Kritik an der mangelnden ironischen Haltung der Autorin.


    Endlich bin ich auf einen Roman gestoßen, der sich der Probleme der Industrialisierung dezidiert annimmt, zwar aus dem Geist der Zeit und ohne unser historisches Wissen von heute, aber dennoch, hier wird endlich mal Tacheles geredet. Zwar stehen in diesem frühviktorianischen Roman immer noch die Vertreter der aristokratischen Klasse im Mittelpunkt, aber die Arbeiter und die Fabrikbesitzer kommen raumgreifend zu Wort und es geht um soziale Themen, die weitgehend kitschfrei, ohne Melodramatik, abgehandelt werden.
    In meinem Vorurteil befangen erwartete ich einen weiteren eleganten, satirischen Roman à la Austen, Eliot und anderer, aber das ist nicht das, was die Autorin will. Sie setzt nicht die sterbenden Klassen in den Focus, deren Niedergang sie ironisch beleuchtet, sondern beschäftigt sich mit dem Aufstieg der neuen. Dabei ist sie sehr vorsichtig, beleuchtet die Meinungen und Hintergründe von Arbeitern und Fabrikbesitzern, sieht aus Margarets Sicht die Argumente beider Seiten und zeigt wirkliches (für uns heute historisches) Handeln im zeitgenössischen Kontext auf, ohne sich in melodramatischen Szenen zu verlieren. Da kann sich ein Dickens nur verbeugen: Der kann Satire und tiefste menschliche Betroffenheit, aber - in Bezug auf den "Klassenkampf" - die Analyse nicht, die beherrscht dagegen Gaskell im Rahmen ihrer Zeigenossenschaft.
    Der Roman hat mich völlig gewonnen: Natürlich hat er auch "Gartenlauben"-Elemente, aber die sind relativ zurückhaltend. Denn hier geht es um die harten Themen der Zeit und man erfährt, was Arbeiter und Unternehmer bewegte und erkennt ihre weltanschauliche Zeitgebundenheit.
    Interessant, dass Gaskell zwar bekannt ist, jedoch insbesondere für ihre Bronte-Biografie und ihren satirischen Cranford-Roman, aber dass "Norden und Süden" auf dem Kontinent nie richtig angekommen sind. Ein Schelm, der Böses dabei denkt. Vielen Dank, Macneth, dass du uns Fremdsprachenfaule in den Besitz dieser Perle setzt.

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

    Einmal editiert, zuletzt von finsbury ()


  • In meinem Vorurteil befangen erwartete ich einen weiteren eleganten, satirischen Roman à la Austen, Eliot und anderer, aber das ist nicht das, was die Autorin will. Sie setzt nicht die sterbenden Klassen in den Focus, deren Niedergang sie ironisch beleuchtet, sondern beschäftigt sich mit dem Aufstieg der neuen. Dabei ist sie sehr vorsichtig, beleuchtet die Meinungen und Hintergründe von Arbeitern und Fabrikbesitzern, sieht aus Margarets Sicht die Argumente beider Seiten und zeigt wirkliches (für uns heute historisches) Handeln im zeitgenössischen Kontext auf, ohne sich in melodramatischen Szenen zu verlieren. Da kann sich ein Dickens nur verbeugen: Der kann Satire und teifste menschliche Betroffenheit, aber - in Bezug auf den "Klassenkampf" die Analyse nicht, die beherrscht dagegen Gaskell im Rahmen ihrer Zeigenossenschaft.
    Der Roman hat mich völlig gewonnen: Natürlich hat er auch "Gartenlauben"-Elemente, aber die sind relativ zurückhaltend. Denn hier geht es um die harten Themen der Zeit und man erfährt, was Arbeiter und Unternehmer bewegte und erkennt ihre weltanschauliche Zeitgebundenheit.
    Interessant, dass Gaskell zwar bekannt ist, jedoch insbesondere für ihre Bronte-Biografie und ihren satirischen Cranford-Roman, aber dass "Norden und Süden" auf dem Kontinent nie richtig angekommen sind. Ein Schelm, der Böses dabei denkt. Vielen Dank, Macneth, dass du uns Fremdsprachenfaule in den Besitz dieser Perle setzt.


    Danke, finsbury! Wenn der Roman nicht so einen inhaltlichen Reichtum hätte und die Übersetzung nicht so eine Herausforderung gewesen wäre, hätte ich mich der Aufgabe wahrscheinlich nicht angenommen. Es war durchaus eine Ehre.
    Davon einmal abgesehen, dass ein problembeladener "Norden und Süden" schwerer zu verdauen ist als beispielsweise eine lebenslustige "Emma", ist die mangelnde Popularität Gaskells sicher auf das Fehlen von Übersetzungen zurückzuführen gewesen. Auch für mich ist der Roman eine Perle. Erstaunt und ernüchtert hat mich die Reaktion eines Verlages, dem ich meine Übersetzung angeboten hatte. Ich hatte argumentiert, dass "North and South" den Vorteil gegenüber den Austen-Romanen hat, dass er nicht nur eine Liebesgeschichte auf Umwegen beinhaltet, sondern gleichzeitig ein Porträt der frühen Industriegesellschaft zeichnet. Der Verlag sah das hingegen als Nachteil - nach dem Motto: der Leser bevorzugt die leichte Kost.
    Ich kenne Menschen, die lieber eine Biografie lesen als einen Roman, weil es um echte Personen und wirkliche Geschehnisse geht. So gesehen hätte ein Roman, der ein realistisches Bild seiner Zeit zeichnet, die Chance, sowohl den Realisten als auch den Liebhabern erfundener Geschichten zu gefallen.


    Meine besondere Bewunderung hat Gaskell dafür, dass sie die Männer (wie Thornton, Higgins und Bell) genauso lebensecht und charakterlich passend sprechen lässt wie die Frauen. Und das, obwohl sie sich dafür auch noch in die unterschiedlichsten Lebensweisen hineinversetzen musste: Fabrikbesitzer, Arbeiter, Pfarrer, Universitätsprofessor, Arzt, Rechtsanwalt, Seemann, Pfarrerstochter, Arbeitertochter, Fabrikantenmutter und -schwester, wohlhabende Witwe etc. Vor soviel Einfühlungsvermögen ziehe ich den Hut!