Elizabeth Gaskell: Norden und Süden (North and South)

  • JHNewman. Auch ich finde Fellow Bell ganz besonders gut gelungen. Außerdem tut er einem einfach gut zwischen allen diesen Gutmenschen mit seinem fröhlichen praktischen Sinn, der auch mal moralisch Fünfe gerade lassen kann.


    Volker:
    Dieses Rumhacken auf der Umarmung ist typisch viktorianischer Frauenroman, insbesondere aber auch ein Element des Kolportageromans jener Zeit. Körperkontakt zwischen Jungfrau und Mann war ja nur über Handkuss und Tanz (mit sittsamem Abstand) machbar, eine volle Umarmung, bei der sich augenblicksweise die Körper aneinanderschmiegen, war schon ein ganz heftiges Abweichen von der Regel. Es war die Zeit, wo in Gartenlaubenromanen (Fortsetzungsromane in deutschen Illustrierten des 19. Jahrhunderts) die Männer schon Speichelfluss bekamen, wenn sie nur einen Strumpfansatz des Zieles ihres Begehrens sahen. Insofern war das für beide, Margaret und Thornton, schon eine außerordentliche Situation, die sehr verwirrend war.

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Es war die Zeit, wo in Gartenlaubenromanen (Fortsetzungsromane in deutschen Illustrierten des 19. Jahrhunderts) die Männer schon Speichelfluss bekamen, wenn sie nur einen Strumpfansatz des Zieles ihres Begehrens sahen.


    Du meinst den Knöchel, oder?

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Ja, der Knoechel wird gemeint gewesen sein. So aehnlich, Newman (ich denke, Du bist es oder ist es doch finsbury?; ich bin leider nicht faehig, hier zurueckzuschauen), wie Du das schreibst, hatte ich mir das auch gedacht. Was ich so interessant finde, ist aber nicht so sehr das "Rumhacken", sondern der totale Umdeutungsversuch von Margret. Das Ganze hat fuer mich schon viel Freudmaessiges und erninnert mich an Stellen in Joseph und seine Brueder (Potiphars Frau). Ich kenne kaum etwas aus der Zeit und aus England nur Jane Austen, aber solche Passagen in der Vielschichtigkeit und Vertracktheit werden wohl selten gewesen sein(?).
    Es freut mich SEHR, dass Ihr beiden nicht von der Fahne gegangen seid, sondern uns Nachzueglern (Lauterbach, Tenar und Volker) als "Begleiter" erhalten bleibt. Es ist sehr schoen fuer mich, hier mitmachen zu duerfen.
    Uebrigens, als ich auf die Leserunde gewartet habe, habe ich Frauen und Toechter von Elizabeth Gaskell gelesen. ein herrlicher Schmoeker, auch sehr gekonnt, aber (jedenfalls vordergruendig) nicht so problembehaftet. Kann man empfehlen. Die Uebersetzung liest sich auch gut.

    if all you have is a hammer, all you see looks like a nail.

  • Ich bin diese Woche unerwartet viel zum Lesen gekommen und habe den Roman jetzt auch beendet.



    Was ich koestlich finde ist die Beschreibung wie so jeder, Arbeiter, Fabrikanten und die Hales,ihren Stolz haben und den anderen ungerechtfertigten Hochmuth (mehr oder weniger) vorwerfen.


    Da habe ich mich auch sehr amüsiert. Jede Partei ist natürlich durch Herkunft und Erziehung geprägt, aber die gegensätzlichen Ansichten sind anfangs schon sehr deutlich und es gibt nur Ablehnung für die andere Seite. Aber letztendlich zeigt Gaskell auch sehr schön, dass keine Seite der anderen überlegen ist - alle haben ihre Stärken und Schwächen.



    Sind Margaret und ihr Vater wirklich so in ihren jeweiligen Glauben "verbohrt", dass sie nicht erkennen können, dass es Bouchers Frau wirklich sowas von egal ist, ob die Seele ihres Mannes durch den Selbstmord gefährdet ist, wenn sie selbst und die sechs Kinder sehen müssen, wo sie etwas zu essen herbekommen ohne Versorger? Hier sind die Missionierungsversuche auch etwas fehl am Platze.


    Das hat mich auch ein wenig gestört. Mrs. Boucher hat in der Situation nun wirklich andere Sorgen. Die tatkräftige Unterstützung (die Kinder erstmal auf die Nachbarn zu "verteilen") war hilfreicher.



    Uebrigens, als ich auf die Leserunde gewartet habe, habe ich Frauen und Toechter von Elizabeth Gaskell gelesen. ein herrlicher Schmoeker, auch sehr gekonnt, aber (jedenfalls vordergruendig) nicht so problembehaftet. Kann man empfehlen. Die Uebersetzung liest sich auch gut.


    "Frauen und Töchter" hab ich noch ungelesen im Regal. Mal sehen, wann ich Zeit dafür finde.


    Gruß, Gina

  • Hallo Gina,
    nun hattest Du mir das SOOOO schoen erklaet mit dem Zitieren, aber ich bin doch zu dooof: Mir gelingt es zwar, die Stelle zu markieren und auf Zitat oder zitieren zu klicken , aber wenn ich dann das Feld fuer die Antwort aktivieren will, funktioniert es nicht und alles ist weg......
    Ich wollte auf den Schlussatz von Newman auf Seite 4(?) eingehen wo es (IN ETWA) heisst: Enie leichte Enttaeuschung stellte sich ein, bei dem Gespraech Mr. Hale, Higgins, Margret.....
    Einerseits verstehe ich das. ANDERERSEITS: Es ist eines der laengsten und kompliziertesten Kapitel (28) und die Autorin hat sich vermutlich mit diesem Kapitel am meisten gequaelt und sich die meiste Muehe damit gegeben. Es behandelt ja die beiden grundlegenden Fragen Religion und Verhaeltnis der "Klassen". Dass die Autorin beide Fragen in einem Roman, der ja, zunaechst(?) der Unterhaltung dient, gueltig und stringent beantwortet, wird niemand erwarten. Dass die einzelnen Fragen interessant sind und die ausgetauschten Argumente, hat sie aber - denke ich geschafft und damit dem Leser Stoff gegeben fuer eigenes Nachdenken -oder? Sie ist auch m.E. nicht der Versuchung erlegen ins Ungefaehre oder Ruehrselige abzudriften und bringt im Gegenteil harte Fakten, von denen ich zumindest vorher nie etwas gehoert hatte, z.B. die Methoden der Gewerkschaftsmitglieder, die nicht beitrittswolligen auszugrenzen.
    Dass Higgins der wahre glaeubige Mensch ist, fand ich ueberraschend, habe es aber - wie auch seine Entruestung ueber die Zweifel bei Mr. Hale - noch gar nicht richtig kapiert. Ich werde die Stelle nochmal lesen.
    Gina und thopas, zu Euren interessanten Beitraegen wollte ich auch was schreiben, aber ich hab die nicht vor mir, weil ich nicht zu wechseln verstehe....sorry. Schoen, dass Ihr alle noch "da seid", obwohl Ihr schon zu Ende gelesen habt.

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  • Ich war die letzten Tage beruflich unterwegs (leider in diesem Jahr nicht in Leipzig... :sauer: ) und konnte daher nicht weiter schreiben.


    Nachdem sich der Roman jetzt bei mir ein paar Tage setzen konnte, lasse ich die Handlung Revue passieren. Der Roman beschreibt insgesamt einen Prozess des Erwachsenwerdens und des Reifens, der zugleich eine Vertreibung aus dem Paradies darstellt. Margaret verlässt das Paradies von Helstone, das Paradies der Sorglosigkeit und der Unschuld, wird aus dem Paradies der Familie vertrieben - parallel dazu löst sich die Gesellschaft aus dem (vermeintlichen) Paradies des sozialen Gleichgewichts der alten Ordnung und tritt in das Zeitalter neuer sozialer und wirtschaftlicher Konflikte ein. Margaret wird selbst mit einer neuen wirtschaftlichen und metaphysischen Unsicherheit konfrontiert, aber sie muss auch selbst ihren eigenen 'Dämonen' stellen. Sie begehrt zum ersten Mal einen Mann und sie verliert moralisch gesehen durch die Lüge ihre 'Unschuld'. Die Umarmung, auf die Du Volker anspielst, ist der selbst für Margaret überraschende Ausbruch einer Leidenschaft, derer sie sich noch gar nicht bewusst ist. Sie selbst ist ja ebenso verwirrt wie die Umstehenden und versucht daher, das Geschehene zu negieren bzw. ihm einen anderen Sinn zu geben. Aber auch die Lüge über ihre Anwesenheit am Bahnhof in der Dämmerung ist so ein Moment, das Margaret in eine neue Lebensphase bringt.


    Margaret muss lernen, für sich selbst, ihr Verhalten und ihre Impulse Verantwortung zu übernehmen, mithin einfach: erwachsen zu werden. Das finde ich doch sehr gelungen und überzeugend dargestellt. Und erst als sie diesen Prozess des Erwachsenwerdens durchlaufen hat, ist sie frei für ihre Bindung mit Mr Thornton. Das ist eigentlich auch ein sehr moderner Gedanke.


    Und dass der Roman mit einem nachgeradezu Bell'schen Augenzwinkern beendet wird und nicht mit einer großen kitschigen Umarmung, hat mir auch sehr gut gefallen. :zwinker:

  • Danke JHNewman für diese schöne Gesamtdarstellung der Handlung!


    Zum "Paradies von Helstone" fällt mir gerade auf, wie klug es von Mrs. Gaskell war, nachträglich für die Buchausgabe Margarets Besuch in Helstone - zusammen mit Mr. Bell - zu ergänzen: Dort wird das "Paradies" aus Margarets Kindheit/Jugend ein wenig entzaubert, denn auch Helstone hat sich zwischenzeitlich verändert. Dadurch kann Margaret vielleicht mit dem Ort "abschließen".


    Gruß, Gina

  • JA , JHNewman hat's mal wieder auf den Punkt gebracht. Ob Gaskell die Parallelen ihrer Romanhandlung zur gesellschaftlichen Entwicklung selbst so klar gesehen hat, will ich gar nicht unbedingt annehmen. Aber groß macht ein Werk immer, dass es viel mehr enthält, als sein Schöpfer vielleicht selbst intendierte, und in diesem Sinn haben wir hier ein großes Buch.


    Übrigens noch mal zu Margarets Konflikt wegen ihrer Lüge. Ich habe diese Stelle einfach nicht kapiert, und tendiere wie Bell dazu, hier mal Fünfe gerade sein zu lassen. Ich kann überhaupt nicht verstehen, warum Margaret sich so zerquält. Zum Zeitpunkt der Lüge konnte sie nicht damit rechnen, dass ihr Bruder schon in Sicherheit ist, und deswegen steht für mich der Schutz ihres Bruders, auch wenn er sich später als unnötig erwies, viel höher als der Wille zur Wahrheit. Margaret folgt hier der Kanteschen Ansicht, der auch für die Wahrheit plädiert, wenn das andere das Leben kosten könnte. Ich halte hier - wenn auch sonst eher nicht - mit den Utilitaristen: Das größere Wohl wird durch die Lüge erzeugt, so stellt es sich jedenfalls in dem Moment dar.

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Gina, finsbury, Newman,
    alles, was Ihr "gesehen" und geschrieben habt, gefaellt mir. Ja, ich denke auch, es ist ein grosses Buch und die Englischstuemper unter uns (wie ich einer bin) sind Frau Neth zu grossem Dank verpflichtet, dass sie es uebersetzt hat. Dass sie das auf eigene Faust machen musste, waehrend das viel dickere Buch Frauen und Toechter einen Verleger gefunden hat, ist eines der absonderlichen "Wunder", die einen gelegentlich erstaunen.
    Gell, Ihr bleibt aber alle "dran", bis wir alle fertig sind(?)

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  • JA , JHNewman hat's mal wieder auf den Punkt gebracht. Ob Gaskell die Parallelen ihrer Romanhandlung zur gesellschaftlichen Entwicklung selbst so klar gesehen hat, will ich gar nicht unbedingt annehmen. Aber groß macht ein Werk immer, dass es viel mehr enthält, als sein Schöpfer vielleicht selbst intendierte, und in diesem Sinn haben wir hier ein großes Buch.


    Übrigens noch mal zu Margarets Konflikt wegen ihrer Lüge. Ich habe diese Stelle einfach nicht kapiert, und tendiere wie Bell dazu, hier mal Fünfe gerade sein zu lassen. Ich kann überhaupt nicht verstehen, warum Margaret sich so zerquält. Zum Zeitpunkt der Lüge konnte sie nicht damit rechnen, dass ihr Bruder schon in Sicherheit ist, und deswegen steht für mich der Schutz ihres Bruders, auch wenn er sich später als unnötig erwies, viel höher als der Wille zur Wahrheit. Margaret folgt hier der Kanteschen Ansicht, der auch für die Wahrheit plädiert, wenn das andere das Leben kosten könnte. Ich halte hier - wenn auch sonst eher nicht - mit den Utilitaristen: Das größere Wohl wird durch die Lüge erzeugt, so stellt es sich jedenfalls in dem Moment dar.


    Das sehe ich ganz ähnlich. Margaret tut in dem Moment das, was ihren Bruder schützt. Insofern erscheinen uns heute die moralischen Skrupel und das schlechte Gewissen, die sie dann plagen, ein wenig seltsam.


    Aber mein Verdacht ist, dass es der Autorin gar nicht unbedingt um das konkrete Fehlverhalten geht oder um die Frage, ob Margaret da wirklich etwas 'Schlimmes' getan hat. Vielleicht geht es eher darum, die Hauptfigur in eine Situation zu bringen, in der sie die moralische Komplexität der Welt erfährt. Sie erkennt, dass sie schuldlos (wider Willen oder trotz ihres Willens, recht zu handeln) schuldig wird, oder anders gesagt: dass es ein einfaches schuldloses Sein in der Welt für den Menschen nicht gibt.


    In der klassischen christlichen Theologie ist das die Auswirkung der 'Erbsünde' - der Mensch kann nicht schuldlos in der Welt sein, er hat die Fähigkeit verloren, nicht zu sündigen, er kann nicht nicht sündigen (non posse non peccare). Dieser Zustand ist die Folge des Sündenfalls und der Vertreibung aus dem Paradies, die Margaret (literarisch) gerade durchlebt. -- Vielleicht hat hier Elizabeth Gaskell einfach ein bisschen klassische Dogmatik von ihrem Herrn Papa gelernt und kreativ literarisch verarbeitet? :zwinker:


  • Danke JHNewman für diese schöne Gesamtdarstellung der Handlung!


    Zum "Paradies von Helstone" fällt mir gerade auf, wie klug es von Mrs. Gaskell war, nachträglich für die Buchausgabe Margarets Besuch in Helstone - zusammen mit Mr. Bell - zu ergänzen: Dort wird das "Paradies" aus Margarets Kindheit/Jugend ein wenig entzaubert, denn auch Helstone hat sich zwischenzeitlich verändert. Dadurch kann Margaret vielleicht mit dem Ort "abschließen".


    Gruß, Gina


    Ja, Gina, das fand ich auch ein tolles Kapitel. Margaret sieht Helstone mit anderen Augen und hat durch ihren Reifeprozess einen klareren Blick auch für die Begrenzungen des alten Lebensumfelds. An einer Stelle wird sie ja auch mit dem Aberglauben und der Rückständigkeit der Dorfbewohner konfrontiert (die geröstete Katze!!).

  • Ich bin gerade in diesem Kapitel mit der gerösteten Katze... Ich denke auch, dass Gaskell dieses Kapitel dazu nutzt, Margaret leichter mit Helstone abschließen zu lassen. Der Umbau des Pfarrhauses und die neue Pfarrersfamilie (so ganz anders als die ruhigen, angenehmen Hales) zeigen, dass die "gute, alte Zeit" unwiderbringlich vorbei ist. Der Gentleman, von dem die Rede ist, der Helstone besucht hat, wird sich vermutlich als Mr Thornton herausstellen...


    Mr Bell finde ich auch eine sehr angenehme und positive Person. Mich hat mit der Zeit diese trübsinnige und hoffnungslose Atmosphäre in Milton schon etwas "heruntergezogen". Als Leser kann man da richtig die Verzweiflung von Margaret mitfühlen. Mr Bell bringt dann wieder etwas Schwung hinein und wirkt dadurch schon fast wie ein "deus ex machina", der die festgefügten Verhältnisse in Milton aufbricht und die Handlung wieder in Gang bringt.


    (Ich habe das Buch ja vor einigen Jahren schon einmal gelesen, wußte auch noch, dass Mr Hale stirbt, aber dachte, dass es erst später in der Handlung ist. Insofern war ich wieder total überrascht, dass er bei dem Besuch in Oxford einfach einschläft.)


    Mir geht es übrigens auch so, dass ich nicht verstehen kann, warum sich Margaret über ihre Lüge so aufregt, die ja zu diesem Zeitpunkt ihren Bruder schützen sollte. Ein bißchen schwingt vermutlich auch noch mit, dass sie vor Thornton gut dastehen möchte, da sie ja inzwischen schon Interesse an ihm hat, sich aber die genaue Art dieses Interesses noch nicht eingestehen will.

  • Ich war acht Tage lang unterwegs und konnte die spannende Diskussion leider nur am Rande verfolgen.



    Ich bin gerade in diesem Kapitel mit der gerösteten Katze... Ich denke auch, dass Gaskell dieses Kapitel dazu nutzt, Margaret leichter mit Helstone abschließen zu lassen. Der Umbau des Pfarrhauses und die neue Pfarrersfamilie (so ganz anders als die ruhigen, angenehmen Hales) zeigen, dass die "gute, alte Zeit" unwiderbringlich vorbei ist.


    Die Beschreibung der Pfarrersfamilie bringt mich immer wieder zum Lachen. Das Ehepaar ist eine Mischung aus ultraorthodoxen Christen und progressiven Ökos (einmal abgesehen von der Pharmagläubigkeit). Während die Hales stets großen Wert auf Diskretion legen, mischen sich die "Neuen" in alles ein und missionieren das ganze Dorf nach ihren persönlichen Überzeugungen. Dabei legen sie solch praktisches Geschick an den Tag, dass der Herr Pfarrer beispielsweise alles griffbereit liegen hat, um die durchs Fenster erspähten Wirtshausgänger verfolgen zu können. Detektiv im Nebenberuf! Wir möchten gar nicht wissen, was sich Mrs. Boucher nach dem Tod ihres Mannes alles von Mr. und Mrs. Hepworth hätte anhören müssen!



    Mir geht es übrigens auch so, dass ich nicht verstehen kann, warum sich Margaret über ihre Lüge so aufregt, die ja zu diesem Zeitpunkt ihren Bruder schützen sollte. Ein bißchen schwingt vermutlich auch noch mit, dass sie vor Thornton gut dastehen möchte, da sie ja inzwischen schon Interesse an ihm hat, sich aber die genaue Art dieses Interesses noch nicht eingestehen will.


    In Bezug auf Margarets übertrieben schlechtes Gewissen würde ich sagen, dass sie als Pfarrerstochter des 19. Jahrhunderts die 10 Gebote wortwörtlich nahm. Ich würde sicherlich schlimmere Notlügen als Margaret erzählen, wenn das Leben meines Bruders auf dem Spiel stünde - und das ohne schlechtes Gewissen. Margaret hat anscheinend den Glauben verinnerlicht, dass ein guter Christ Gottes Gebote unerschütterlich einhält und dann ebenso felsenfest auf seine Hilfe vertraut. Wir sind da heute etwas pragmatischer. Historisch gesehen fällt es uns möglicherweise schwerer, an eine höhere Ordnung zu glauben, weil zwischenzeitlich zwei Weltkriege stattgefunden haben und wir durch die umfassende Berichterstattung in den Medien wissen, dass man sich kein Verbrechen ausdenken kann, das nicht schon einmal verübt worden wäre.
    Auch ich bin der Meinung, dass sich Margaret insbesondere im Hinblick auf Thorntons Meinung ärgert, einen Fehltritt begangen zu haben. Während die Thorntons sich etwas auf ihr Geld und ihre soziale Stellung einbilden, schritten die Hales aufgrund ihrer Bildung und ihres gelebten Christentums aufrecht einher. Nun aber muss Margaret schamrot ihr Haupt beugen, weil sie gegen ihre eigenen Werte verstoßen hat. Ihre Überlegenheit ist widerlegt, ihr Selbstbewusstsein geknickt.


  • Während die Thorntons sich etwas auf ihr Geld und ihre soziale Stellung einbilden, schritten die Hales aufgrund ihrer Bildung und ihres gelebten Christentums aufrecht einher. Nun aber muss Margaret schamrot ihr Haupt beugen, weil sie gegen ihre eigenen Werte verstoßen hat. Ihre Überlegenheit ist widerlegt, ihr Selbstbewusstsein geknickt.


    Das stimmt, Margaret ist ja die tadelloseste Christin in diesem Roman und kann es deshalb vermutlich nicht ertragen, sich nicht an die 10 Gebote halten zu können. Auch wenn sie dadurch ihren Bruder schützt.


    Doch Thornton steht ihr eigentlich in nichts nach, wie man später herausfindet: er könnte sich durch eine riskante Spekulation sanieren, wenn er das Geld seiner Gläubiger dafür einsetzt. Das lehnt er aber ab, denn er möchte nicht mit dem Geld fremder Leute spekulieren... Sein Schwager gewinnt durch solch "unmoralisches" Verhalten viel Geld, Thornton steht vor dem Bankrott. Sowas muss Margaret ja bestimmt sehr beeindrucken.

  • was ich jetzt schreibe, tut literarisch nichts zur Sache, aber da wir schonmal beim Christentum sind:
    Es verwundert mich, wie sehr Vater und Sohn beim Tod der Mutter sich dem Schmerz und der Trauer hingeben. Eigentlich muessten die das ja aehnlich sehen, wei es Bessy gesehen hat: Erloesung aus dem Jammertal, froehliches Wiedersehen in der Ewigkeit. Nur Margret ist faehig umzuschalten, indem sie sich an einen (zu dem eben gemeinten sehr passenden) Text (Danke fuer die Quellenangabe, Mac Neth!) erinnert und ihn rezitiert. SIE macht also das, was Ihres Bruders Maxime ist und in guten Zeiten bei ihm geklappt hat, naemlcih sie tut etwas.

    if all you have is a hammer, all you see looks like a nail.


  • was ich jetzt schreibe, tut literarisch nichts zur Sache, aber da wir schonmal beim Christentum sind:
    Es verwundert mich, wie sehr Vater und Sohn beim Tod der Mutter sich dem Schmerz und der Trauer hingeben. Eigentlich muessten die das ja aehnlich sehen, wei es Bessy gesehen hat: Erloesung aus dem Jammertal, froehliches Wiedersehen in der Ewigkeit.


    Diese Spannung habe ich nicht so empfunden. Die christliche Hoffnung auf die Auferstehung hebt ja nicht die unmittelbare Trauer über den Verlust eines geliebten Menschen auf. Und der trifft die am meisten, die dem verstorbenen Menschen am nächsten standen. Allerdings scheint mir die Klage der Hales im Gegensatz zu der der anderen Familien im Buch ein Indiz für ihre Empfindsamkeit und die tiefe emotionale Bindung zu sein, die die Familie zusammenhält.

  • Du hast sicher recht, aber ich denke trotzdem: Wenn jemand wirklich ganz fest daran glauben wuerde, dass es dem Verstorbenen unvergleichlich viel besser geht als den Lebenden und er ausserdem sicher waere, dass man sich - mit Erinnerung an das, was man auf Erden einander war (und so liest sich ja die Stelle im Joh.-Ev. Euer Herz erschrecke nicht...) - wiedersehen wuerde, duerfte die Trauer nicht SOOOO herzzerreissend sein wie bei Vater Hale, bei dem es ja so weit ging, dass er nicht mehr beten konnte.
    Es gehoert vielleicht nicht hierher, aber dann kann man ja auch gleich unglaeubig sein(?).
    (eben ist mir aufgefallen: herzzerreissend, interessant: zwei zz, zwei rr, zwei ss, wenn kein ß)

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  • Doch Thornton steht ihr eigentlich in nichts nach, wie man später herausfindet: er könnte sich durch eine riskante Spekulation sanieren, wenn er das Geld seiner Gläubiger dafür einsetzt. Das lehnt er aber ab, denn er möchte nicht mit dem Geld fremder Leute spekulieren... Sein Schwager gewinnt durch solch "unmoralisches" Verhalten viel Geld, Thornton steht vor dem Bankrott. Sowas muss Margaret ja bestimmt sehr beeindrucken.


    Thorntons Hauptmotiv für sein Verhalten ist höchstwahrscheinlich die schreckliche Erinnerung an die erfolglose Spekulation seines Vaters (Kapitel 11, Seite 106). In der BBC-Verfilmung weist Thornton christliche Motive von sich, als es um die Einführung des Rades in den Fabriken geht, welches die Luft sauberer halten soll. Er argumentiert, dass er als Geschäftsmann nüchterne, praktische Überlegungen anstellen muss, die sich für ihn auszahlen. Pragmatismus und Christentum kommen also im Endeffekt zu denselben Entscheidungen. In Kapitel 51 betont die Idealistin Gaskell eben diesen Sachverhalt in Thorntons Schilderung seines Kantinenprojekts: Christentum und Kapitalismus sind miteinander vereinbar. Wer seine Arbeiter gut behandelt und sie fördert, wird mit besserer Arbeit und Motivation belohnt. Die Autorin plädiert für ein zukunftsweisendes Miteinander. Ich stimme ihr voller Bewunderung zu und hoffe, dass ich diese bessere Zukunft selbst noch erleben darf. Gaskell hat m. E. vor 160 Jahren gewusst, was selbst heute viele noch nicht begreifen wollen.