Re: Johann Wolfgang von Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre


  • Jaqui und JHNewman, Ihr seid ja schon richtig weit vorangekommen! Bei mir geht es langsamer an: Ich muss leider auch beruflich noch einiges lesen.


    Tut mir leid wenn ich davon rase, ich werde dann etwas langsamer machen :winken:




    Die Erzählung von der törichten Pilgerin lässt mich auch etwas ratlos zurück.
    Vielleicht ist das eines der Füllsel, die Eckermann auf Goethes Anweisung aus dessen nicht veröffentlichten Vorräten eingefügt hat, um die Bogenzahl vollzubekommen (steht in Richard Friedenthals Goethe-Biografie).


    Das würde diese hinein geschummelten Geschichten erklären, die nichts mit der Handlung an sich zu tun haben. Ich habe auch irgendwo eine Goethe Biographie herum stehen, da werde ich mal reinlesen.




    Insgesamt finde ich den Roman bisher viel besser lesbar als angenommen, aber so richtig springt der Funke nicht über. Alles wirkt so behäbig-lehrhaft.


    Da geht es mir anders, vielleicht weil ich was ganz anderes erwartet hatte. Nachdem ich den Thread in den Buchvorschlägen gelesen habe, war ich schon darauf gefasst eine Abhandlung über Steine und dergleichen zu lesen, aber dem ist ja nicht so. Vielleicht kommt aber noch was in diese Richtung.


    Katrin

  • Da geht es mir anders, vielleicht weil ich was ganz anderes erwartet hatte. Nachdem ich den Thread in den Buchvorschlägen gelesen habe, war ich schon darauf gefasst eine Abhandlung über Steine und dergleichen zu lesen, aber dem ist ja nicht so. Vielleicht kommt aber noch was in diese Richtung.


    Katrin


    Nun, das meinte ich mit besser lesbar, aber die Menschen in diesem Roman sind mir bisher zu modellhaft-steif, haben kaum Eigenleben, bis auf Felix, Fitz und Hersilie (ist das nicht ein herrlicher Name: Ich will immer Petersilie schreiben!). Aber vielleicht ändert sich das noch.


    Man sollte diesen Roman wohl auch nicht wegen seiner spannenden Handlung und seinen lebensnahen Personen lesen.

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Habe mich mit meinem Handy jetzt zumindest durch die ersten 2/3 Gutenberg Kapitel gelesen. Bis dahin durchaus die interessante Betrachtung bezüglich der Umstände, die den Sohn des Böttichers gewissermaßen zu dem werden lassen, der bereits in (welchen überhaupt?) den Bibelgeschichten vorgestellt wird. Ihm dieser Lebensweg gewissermaßen schicksahaft vorbestimmt war. Bin jetzt gespannt, was man über die Familiengeschichte dieses Joseph im Folgenden noch erfährt.


    Gruß
    Meier

    "Es gibt andere Geschichten auf einem andern Blatt Papier, doch jede ist mit der ersten verwandt" * Keimzeit

  • Ich habe nun ein Stückchen weiter gelesen und mir zudem den Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe auf den reader geladen. Außerdem ein Buch über Goethe. Das werde ich nebenbei lesen. Mit den Briefen habe ich schon begonnen. Ich bin schon sehr gespannt.

  • Ziemlich lustlos bin ich zum 2.Buch gewandert. Irgendwie erscheint es mir, Goethe hat seine Papiere geordnet und daraus Geschichten zu den Wanderjahren zusammengestellt. Weitgehend bleibt er im Biedermeier, kleine Rückgriffe auf seine kurze Sturm und Drang Periode mit entsagender Liebe und etwas Wahlverwandtschaften ausgenommen.

  • Drei Tage war ich nicht in der Nähe meines Computers, und Ihr seid mit dem Lesen schon viel weiter gekommen. Dennoch möchte ich - hoffentlich ohne Euch zu sehr aufzuhalten - doch noch einiges über den Beginn loswerden.



    Es könnte den Anschein haben, dass Goethe die Josephs-Familie als vorbildhaft für ein gegründetes Familienbild hinstellt. Aber wie so vieles bei ihm, ist das wohl nur auf den ersten Anschein hin so. Josephs Familie verkörpert in allem das Gegenteil der "Wanderer", sie verlässt ihr Tal nicht mehr und kümmert sich um nichts, was in der weiten Außenwelt geschieht.
    Nur mal einen Satz, welche Abgründe lässt er sichtbar werden!
    " ... und doch möchte ich sie mir so gern als Witwe denken"
    Hamburger Ausgabe. Bd. 8, S. 25)
    S. 27 "zeigte und erklärte ihr die Bilder" - Die Josephs-Familie hat ihr Leben an die Bildergeschichte angeglichen, die Geburt Jesu. Goethe kritisiert indirekt wohl die Kunstauffassung der zeitgenössischen Nazarener, die nicht mehr nach dem Leben malten, sondern Idealbilder im christlichen Sinne auf die Leinwand warfen (Goethe hatte sich hingegen schon in seiner Jugendzeit vom "Buchstabenglauben" an die Welt des Neuen Testaments verabschiedet.


    http://www.artnews.de/themen/nazarener.htm
    Die Nazarener schufen ihre Bilder nach religiösen Motiven als zeitlose "Idealbilder", sie suchten sich wieder den christlichen Anfängen anzunähern. Das war nicht im Sinne Goethes, der nach ständiger Veränderung strebte.


    Gemälde sollte es später wieder auf dem Sitz des Oheims zu betrachten geben, das waren aber andere Schulen: die der klassischen Malerei der Renaissance, die Holländer und Flamen.


    1807 begann Goethe nach der lebensbedrohlichen Heimsuchung durch die Franzosen am 14.10. 1806 und dem ihn besonders schmerzenden Tod der Herzoginwitwe Anna Amalia wieder mit der Arbeit am Wilhelm Meister. In der Josephs-Geschichte ist im Zusammenhang mit schweren Kriegsläuften von einer "Landmiliz" die Rede, die die Einheimischen vor Räubern zu schützen suchte: das könnte ein Hinweis auf die 50 Jahre zurückliegende Zeit des Siebenjährigen Krieges sein, die Goethe in dem von den Franzosen besetzten Frankfurt erlebte (der kluge Offizier Thoranc im Elternhaus). 1757 verfolgten die Bauern im Weimarischen die fliehenden, plündernden Franzosen nach der Schlacht bei Roßbach, dies mochten ihm Ältere erzählt haben.



    Um es lesbarer zu machen, noch zwei weitere Dinge im nächsten Post:

  • 1.) Das Alter der Erde


    "Ist denn die Welt nicht auf einmal gemacht?" fragt Felix.
    Hamburger Ausgabe. Bd. 8, S. 30)


    Hier liegt der Bezug zu den Betrachtungen des Heinrich Drendorf in Stifters "Nachsommer" über das Alter der Gebirge ganz klar zutage; seine Arbeiter fragen ebenfalls verwundert, ob nicht die Welt gemäß der Schöpfungsgeschichte auf einmal entstanden sei.


    Die Frage nach dem Alter der Erde entzweite noch zu dieser Zeit viele Gelehrte mit den Theologen.
    Große Ausnahme: Benoit de Maillet (1656-1738), französischer Konsul in der Levante, der zu den wenigen konsequent atheistischen Autoren seiner Zeit zählte, nahm in seinem 1748 erschienenen Werk Telliamed ein Alter der Erde von 2 Milliarden Jahren an; ganz erstaunlich angesichts der heute berechneten 4,550 Milliarden Jahre!
    P.W. Jackson: The Chronologer's Quest. Episodes in the Search for the Age of the Earth. Cambridge 2006, S. 258.
    G.L.L. de Buffon (1707-1788) ging in seiner Histoire Naturelle nur von 77000 Jahren aus und wurde dennoch von den Theologen der Sorbonne angefeindet, die 14 tadelnswerte Thesen fanden, als besonders verwerflich, dass die Sintflut in seinem Werk nicht mehr vorkomme.
    Vgl. T. Hoquet: Buffon. Histoire naturelle et philosophie. Paris 2005; G.-L. L. de Buffon: Allgemeine Naturgeschichte. Neu-Isenburg 2008, S. 986; J. Repcheck: Der Mann, der die Zeit fand. James Hutton und die Entdeckung der Erdgeschichte. Stuttgart 2000, S. 115.


    Goethe ließ m.E. an keiner Stelle erkennen, wie hoch er das Alter der Erde schätzte; das entsprach auch nicht seiner Art, sich in einer solchen Frage an konkreten Zahlen festmachen zu lassen.



    2.) Montan über einen pädagogischen Grundsatz:


    "es ist die Pflicht, andern nur dasjenige zu sagen, was sie aufnehmen können" (HA. Bd. 8, S. 32)


    Es scheint, eine einfach pädagogische Regel, aber, wie so oft bei Goethe, dürfte hier noch mehr drin stecken.
    Goethe ärgerte sich offenbar über Immanuel Kants Grundsatz, wonach Lügen unter allen Umständen nicht statthaft seien. Nun kommt man aber mitunter nicht umhin, einen bestimmten Teil des für sich als "Wahrheit" Erkannten besser (vorerst) zu verschweigen, wenn die Empfänger nicht darauf vorbereitet sind, diese Wahrheit noch nicht fassen können.
    Der "Wilhelm Meister" ist voll von Geheimnissen, Verschwiegenem und Teil-Offenbartem. Der Grundsatz Kants kann nicht immer und unter allen Umständen Geltung beanspruchen. Manche Leute zerbrechen daran, wenn sie plötzlich und unvorbereitet die "Wahrheit" erfahren.



    Mit Kindern über "Werden" und "Zweck" zu sprechen, ist ebenfalls nicht angebracht. Das liegt vor allem am anderen Umgang mit der Zeit. Kinder haben ein anderes Zeitgefühl. Wissen Sie, weshalb etwas geschieht?
    Deshalb empfiehlt Jarno/Montan (der rational herangehende, geologisch kundige Teil in Goethes Persönlichkeit): "in jedem neuen Kreis immer "wieder als Kind anfangen" (HA. Bd. 8, S. 33)


    So, nun will ich Euch wieder einholen und nur noch eines für heute loswerden:


    Ich bin davon überzeugt, dass die eingestreuten Novellen einen ganz bestimmten Platz in der Komposition Goethes einnehmen, bestimmte autobiographische Momente verschlüsselt wieder aufscheinen lassen - und ich bin nach fast 40 Jahren Wiederbegegnung mit dem Text ganz hingerissen davon! :smile:

  • Ich habe jetzt Buch eins beendet. Mir ging es wir Dir Jaqui, das ich das Ende der Verrätergeschichte recht fröhlich fand. Julie ist da richtig frech, was mir sehr gut gefällt.


    Der wirkliche Höhepunkt ist für mich aber das zehnte Kapitel. Da kommt Goethe richtig zur Sache und tut ein paar Themen auf, die noch auf mehr hoffen lassen. Einmal Wilhelms Gespräch mit dem Astronomen und sein Blick in den Himmel (Kosmos). Die hier angesprochene Verbindung (Analogie) zwischen Makro- und Mikrokosmos - wie sie sich dann später in der Person Markariens wiederholt. Und kurz darauf die Apotheose Makariens. Das ist inhaltlich wie dramaturgisch wundervoll.


    Die Erzählung vom 'nussbraunen Mädchen' bringt eine echte Spannung in den Roman, denn als Leser will ich jetzt natürlich wissen, ob Wilhelm das Mädchen finden wird und wie ihr Schicksal aussieht. Hier schafft Goethe am Ende des ersten Buches einen echten cliffhanger. :zwinker:


  • Es könnte den Anschein haben, dass Goethe die Josephs-Familie als vorbildhaft für ein gegründetes Familienbild hinstellt.


    Diesen Eindruck (eines Ideals) hatte ich beim Lesen nicht. Mich überraschte eher, dass Goethe an diesem Punkt so unverhüllt auf Urbilder zurückgreift, die - zu seiner Zeit sicher noch mehr als heute, wo dieses kulturelle Grundwissen diffundiert - von jedem sofort zugeordnet werden konnten. Das Schicksal der 'heiligen' Familie ist ja in jeder Hinsicht alles andere als vorbildhaft - eine voreheliche Schwangerschaft, ein gehörnter Ehemann, eine bedrohte Familie auf der Flucht, getrieben durch die politischen Umstände. Vorbildhaft wäre allenfalls die persönliche Haltung in diesen Umständen: Josephs Annahme der schwangeren Frau, Hingabe, Fürsorge etc.


    Mir schien, dass Goethe durch das Aufrufen dieser Urbilder hier gleich auf den gleichnishaften Charakter seines Romans hinweisen wollte. Irgendwo hat er ja mal geäußert, alles in den Wanderjahren sei im Prinzip symbolisch zu lesen. Gemeint ist damit wohl, dass alles Geschilderte, jeder besondere Fall, zugleich auch ein Bild für das große Ganze ist, für das 'Allgemeine'.


    Darin, dass Goethe hier zu Beginn gleich ein besonderes menschliches Schicksal schildert, das bis auf die Details dem eines 'allgemeinen Urbildes' der biblischen Erzählung nachgebildet ist, macht er diesen Bezug zwischen dem Besonderen und dem Allgemeinen nachgerade überdeutlich.


    Findet
    JHN


  • Immerhin liest man im Nachwort von Erich Trunz (1905-2001) zu den "Wanderjahren" in der Hamburger Ausgabe:


    "... es wäre ein Wirrnis, wenn nicht die Wechselwirkung von Tun und Denken immer wieder Wege ergäbe, der Entsagungsgedanke regelnd eingriffe und die Josephsfamilie als schönes Vorbild uns in Erinnerung bliebe." (S. 540)


    In den Anmerkungen noch ausführlicher:


    "Dieses Anfangsbild des Lebens gibt das Normale, Vorbildliche. Unaufdringlich, nur weiterdenkender Zusammenschau bemerkbar, wird hier ein Bild hingestellt, an das man bei allem Folgenden zurückdenken darf: die Familie in ihrer Liebe, ein Weitergeben des Lebens, Zusammenhalt und Fürsorge, Mäßigung. Bevor in den späteren Kapiteln Bilder der Leidenschaft, Maßlosigkeit und Verwirrung folgen, steht hier das Gesunde ... Die Josephs-Familie ist verwurzelt, ungebrochen, gläubig und sicher." (S. 556)


    Sicher, das kann alles herausgelesen werden. Mir scheint allerdings auch, dass hier die christliche Weltsicht und die Sehnsüchte des Herausgebers in seiner Interpretation mit durchscheinen ("das Normale" und vor allem "das Gesunde"! finde hier ich schon grenzwertig), was ebenfalls nicht weiter schlimm ist. Aber man kann auch noch anderes herauslesen.

  • Eine Leserunde der zwei oder sogar drei Geschwindigkeiten?


    Solange es Euch nicht stört, will ich gern noch ein bißchen "nachwaschen". Nicht nur, dass ich tagelang nicht zum Lesen komme. Ich genieße es auch, langsam im Text vorzudringen. Wenn ich so an die achtzig Seiten gelesen habe, dann ist das schon ein Sechstel des gesamten Textes. :zwinker:


    Ich könnte mir vorstellen, dass sich diese Leserunde über Monate erstreckt und will sie also immer weiter mit Beiträgen bestücken. Das hat es auch in früheren Leserunden gegeben. Unter Umständen könnte ich es so halten (wenn das nicht vollends die Diskussion zerfasern lässt), dass ich oben auf aktuelle Diskussionen eingehe, und darunter unter dem Strich mit meinem langsamen Wanderschritt weiter vordringe.


    Die pilgernde Törin
    Bei dieser Novelle, die tatsächlich aus dem Französischen übersetzt worden ist, zeigt sich meines Erachtens abermals, dass der Kommentator einer vergangenen Epoche der Literaturforschung angehört. Wenn mancher auch gender-Forschungen noch mit Skepsis begegnen mag - hier tut eine gehörige Portion neuen Herangehens gut. Ich will mir in diesem Sinn vornehmen:


    Henriette Herwig: „Wilhelm Meisters Wanderjahre“: Geschlechterdifferenz, sozialer Wandel, historische Anthropologie. 2. Aufl. Tübingen/Basel 2002.


    und Euch anschließend berichten.


    Die "pilgernde Törin" ist überhaupt keine Närrin, sondern eine selbstbewusste junge Frau, der nur ein Leid widerfahren ist und die sich in einer von Männern dominierten Welt behaupten muss.
    Ihre Art von Torheit ist für Goethe "Vernunft unter einem andern Äußeren" (Hamburger Ausgabe Bd. 8, S. 60).


    Die Novelle ist im Revolutionsjahr 1789 erschienen. Das neue Zeitalter zeigt sich auch darin, dass eine junge Frau vom Stande bisher im "feudalen" Zeitalter Huldigungen als selbstverständlich hinnahm, so wollte es der adlige Ehrenkodex. Diese Pilgerin, die im Sinne der Wanderer auftritt, aber etwas länger geblieben ist, handelt entsprechend dem neuen Zeitalter, das als "kapitalistisch" bezeichnet wird, indem sie sich nicht lediglich als Frau vom Stande darbietet, sondern etwas als Gegenleistung anbietet, Handarbeiten oder Klavierspiel.
    Ihre Situation ist besonders schwierig, weil sie von Vater und Sohn umlagert wird, die nicht auf gröbere Weise wie selbstverständlich ihre männlichen "Ansprüche" an die Fremde geltend machen, die eine Art "Freiwild" für Männer darstellt, sondern gebildet und durchaus liebenswürdig sind. Frauen haben sich entsprechend den Konventionen in der damaligen Männerwelt noch nicht frei und ohne männlichen Schutz zu bewegen. Sie zieht sich überaus geschickt aus der Affäre, ob sie noch in der Zukunft einen eigenen Glücksanspruch realisieren kann, bleibt ungewiß.


    Autobiographisches lugt vor allem aus dem Gedicht hervor:
    "So ändert immer die Geliebten,
    Doch sie verraten müßt ihr nicht." (HA. Bd. 8, S. 57)


    Im Kommentar ist zwar festgehalten worden, dass sich die junge Frau in diesem Gedicht "loser" gibt als sie ist, sie ist eine ernst zu nehmende Frau.
    Aber der Kommentar gibt an dieser Stelle nichts zur Funktion des Gedichts her! (oder ich habe es nicht gefunden, weil es an anderer Stelle kommentiert wird.


    Hier zum ersten Mal ein "Vater - Sohn - Konflikt" bei Goethe, es kommen noch mehr - für mich ist der Roman durchkomponiert, auch wenn die Novellen nur lose miteinander verbunden erscheinen.

  • "Vom Nützlichen durchs Wahre zum Schönen"


    lautet das wichtigste Motto im Hause des Oheims.


    In Goethes "Maximen und Reflexionen" (eingefügt in die "Wahlverwandtschaften") wird der Gedanke ausgeführt, dass man sich durch Betrachten nicht selbst kennenlernen könne, wohl aber durch Handeln. Versuche Deine Pflicht zu tun, und Du weisst, was an Dir ist. Was ist Deine Pflicht? Die Forderung des Tages.
    In "Wilhelm Meisters Lehrjahren" kommen die Herrnhuter vor, eine Religionsgemeinschaft, die Goethe aus seiner Jugendzeit her kannte (mit Susanne von Plettenberg stellte er esoterische und alchemische Studien an), und die großen Wert auf die Selbstbetrachtung legte. Die Mitglieder dieser Gemeinschaft, wie auch die Pietisten zuvor, hatten Rechenschaft über sich selbst, über ihre Gefühle abzulegen.
    Goethe fordert hingegen dazu auf, sich auf das Objektive zu werfen, auf die Welt außerhalb, ob als Landbesitzer, wie der Oheim, ob als Bergbausachverständiger, wie Montan, als Gärtner oder Wundarzt. Die Vertreter dieser Berufsgruppen, die sich auf diese Weise mit dem "Nützlichen" beschäftigen, sind am Abend oft so müde, dass sie gar nicht mehr imstande sind, über sich selbst nachzudenken, wie es in den "Bekenntnissen einer schönen Seele" in den "Lehrjahren" geschildert wurde. Die Herrnhuter waren und sind auch heute noch weltweit aktiv, sie reisen nach Amerika, Afrika oder Asien in missionarischer Absicht, jedoch auch mit konkreten Kenntnissen ausgestattet, mit denen sie vor Ort den Einheimischen praktische Hilfe leisten können.


    Wer sich aktiv mit der Umgebung auseinandersetzt, gelangt zur "Wahrheit", sowohl in den Dingen seiner Umgebung, als auch über sich selbst. Darin ist zugleich das "Schöne" enthalten, das der Dichter besingt.


  • In "Wilhelm Meisters Lehrjahren" kommen die Herrnhuter vor, eine Religionsgemeinschaft, die Goethe aus seiner Jugendzeit her kannte (mit Susanne von Plettenberg stellte er esoterische und alchemische Studien an), und die großen Wert auf die Selbstbetrachtung legte. Die Mitglieder dieser Gemeinschaft, wie auch die Pietisten zuvor, hatten Rechenschaft über sich selbst, über ihre Gefühle abzulegen.


    Danke, Karamzin, für den Hinweis! Ergänzend dazu:


    Die Herrnhuter sind ein Zweig des Pietismus, gegründet 1723 in Herrnhut in der Oberlausitz durch den Grafen Nikolaus von Zinzendorf. Interessant ist, dass der herrnhutische Zweig des Pietismus mit neuen gemeinschaftlichen und reformerischen Lebensformen experimentiert, mithin eine Form des christlichen Kommunismus praktiziert und auch mit Formen des Gemeinschaftslebens, in der etwa Kinder gemeinsam erzogen werden, Männer und Frauen in Gemeinschaftshäusern leben (so lange sie unverheiratet sind). In den herrnhutischen Siedlungen finden sich Elemente, die sich auch wiederum hier bei Goethe finden lassen, etwa in den aufklärerischen Einrichtungen auf dem Anwesen des Oheims, aber auch in der Pädagogischen Provinz (Buch II). Wie so vieles im 18. Jahrhundert verbindet auch das Herrnhutertum aufklärerisch-moderne Elemente mit völligem Irrationalismus (sog. Sichtungszeit), Gefühlstiefe und Seelenfrömmigkeit. Und es ist - wie so viele Zweige des Pietismus - durch einen tiefen Fortschrittsgedanken und durch eine Pädagogisierung des Lebens geprägt. Es waren die Pietisten, die bedeutende Schulen gründeten wie die Franckeschen Stiftungen in Halle oder die Schulen in Barbe und Niesky (wo unter anderem Schleiermacher seine Ausbildung empfing).

  • Ich bin wirklich sehr froh, dass ich mich dazu entschlossen habe hier mitzulesen. Erstens finde ich den Roman tatsächlich sehr interessant und zweitens lese ich die Beiträge hier mit sehr viel Genuss. Vieles was hier angesprochen wird, wäre mir beim alleinigen Lesen verborgen geblieben.




    Irgendwie erscheint es mir, Goethe hat seine Papiere geordnet und daraus Geschichten zu den Wanderjahren zusammengestellt.


    In der Biographie von Anja Höfer steht: Ab 1807 begann Goethe mit der Ausarbeitung der Wanderjahre, schrieb vor allem an den novellistischen Erzählungen, die später in die Rahmenhandlung eingefügt werden sollten.
    Was diese Novellen für einen Sinn haben erschließt sich mir noch nicht ganz, auch wenn ich sie sehr nett zu lesen finde.


    Und weiters: Die einzelnen Erzählelemente, bestehend aus den Textformen wie Briefen, Tagebuchaufzeichnungen, Aphorismen, Gedichten, Novellen und nichtfiktionalen Sachtexten, erzeugen eine statische, simultane Struktur und verhalten sich zyklisch zueinander. Verknüpft werden sie durch das Thema der Rahmenhandlung, die Wanderschaft. Im Unterschied zum Bildungsroman der Lehrjahre steht nun die Ausbildung des Einzelnen im Vordergrund - die Hauptfigur verschwindet gar über weite Strecken ganz aus dem Geschehen.




    Ich bin davon überzeugt, dass die eingestreuten Novellen einen ganz bestimmten Platz in der Komposition Goethes einnehmen, bestimmte autobiographische Momente verschlüsselt wieder aufscheinen lassen - und ich bin nach fast 40 Jahren Wiederbegegnung mit dem Text ganz hingerissen davon! :smile:


    Da ich über das Leben von Goethe so gut wie nichts weiß erschließt sich mir der tiefere Sinn dahinter leider nicht, aber ich bin offenbar nicht die einzige, der es so geht. Höfer schreibt in ihrer Biographie: Wegen der diffusen Vielgestaltigkeit und der streckenweise unübersichtlichen Erzählführung stießen die Wanderjahre bei Goethes Zeitgenossen und auch bei späteren Lesern auf Unverständnis und scharfe Kritik. Noch Thomas Mann hielt den Roman für ein hochmüdes, würdevoll sklerotisches Sammelsurium.




    Solange es Euch nicht stört, will ich gern noch ein bißchen "nachwaschen".
    Ich könnte mir vorstellen, dass sich diese Leserunde über Monate erstreckt und will sie also immer weiter mit Beiträgen bestücken. Das hat es auch in früheren Leserunden gegeben. Unter Umständen könnte ich es so halten (wenn das nicht vollends die Diskussion zerfasern lässt), dass ich oben auf aktuelle Diskussionen eingehe, und darunter unter dem Strich mit meinem langsamen Wanderschritt weiter vordringe.


    Bitte, lass dich nicht aufhalten. Ich lese deine Beiträge sehr gerne, auch wenn ich nicht immer darauf eingehen kann, weil mir dazu einfach Hintergrundwissen fehlt.




    Hier zum ersten Mal ein "Vater - Sohn - Konflikt" bei Goethe, es kommen noch mehr - für mich ist der Roman durchkomponiert, auch wenn die Novellen nur lose miteinander verbunden erscheinen.


    Das mit dem Vater-Sohn-Konflikt ist mir auch aufgefallen und ich bin auch schon in einer Novelle wo es wieder einen gibt, nämlich in "Der Mann von 50 Jahren".
    Und hier frage ich mich was diese Witwe im Schilde führt, denn offenbar will sie den Sohn ja nicht wirklich haben. Obwohl finsbury schrieb, dass man den Roman nicht aufgrund seiner spannenden Handlung lesen sollte, finde ich diese Novellen doch immer sehr interessant und bin immer schon gespannt wie sie enden.
    Mittlerweile lese ich diese Novellen lieber als die eigentliche Handlung, die Wanderschaft. Wilhelm Meister und seine Geschichte empfinde ich teilweise sogar als "störend".


    Katrin


  • Das mit der Brille könnte man vielleicht auch so lesen, dass jemand etwas durch eine "getönte Brille" sieht, wie es auch in der Redewendung heisst, und damit nicht etwa besser, sondern alles nur in einem bestimmten eigenen Licht, in eigener Farbe, die nicht unbedingt mit der Wirklichkeit übereinstimmen. Dadurch ergibt sich für den derart durch diese Brille Sehenden ein schiefes Bild von der Wirklichkeit.
    Aber vielleicht liege ich hier auch schief, und man kann das noch anders verstehen.

  • Da ich über das Leben von Goethe so gut wie nichts weiß erschließt sich mir der tiefere Sinn dahinter leider nicht, aber ich bin offenbar nicht die einzige, der es so geht. Höfer schreibt in ihrer Biographie: Wegen der diffusen Vielgestaltigkeit und der streckenweise unübersichtlichen Erzählführung stießen die Wanderjahre bei Goethes Zeitgenossen und auch bei späteren Lesern auf Unverständnis und scharfe Kritik. Noch Thomas Mann hielt den Roman für ein hochmüdes, würdevoll sklerotisches Sammelsurium.


    ....


    Katrin


    Was die Aufnahme der "Wanderjahre" betrifft, so war schon Goethe selbst klar, dass er auf viel Unverständnis bei seinen Zeitgenossen treffen würde. Die Rezeption des Romans ist ein ganzes Kapitel für sich.
    --> Klaus F. Gille: Goethes Wilhelm Meister. Zur Rezeptionsgeschichte der Lehr- und Wanderjahre. Königstein/Ts. 1979.


    Viele konnten damit nichts anfangen. Wenn sich Goethes Freunde, wie Wilhelm von Humboldt, anerkennd über das Werk äußerten, so fanden sie darin ganz anderes bemerkenswert, als wir heute.


    Für diese Leserunde war übrigens ein Anstoß die Bitte @finsburys, ihm Titel zu nennen, in denen die industrielle Revolution Ende 18. - erste Hälfte 19. Jahrhunderts literarisch thematisiert wurde.


    http://klassikerforum.de/forum/index.php?thread/4817.0
    Da fiel mir sofort dieser Roman ein. Dass sich Goethe aber die Amerika-Auswanderung als Folge der Überbevölkerung in den Tälern und die neue Organisation der gewerblichen Arbeit zum Thema machen würde, konnten die Zeitgenossen unmöglich als darstellenswertes Thema erkennen.

  • Wenn ich darf ...


    Das hier:


    Das mit der Brille könnte man vielleicht auch so lesen, dass jemand etwas durch eine "getönte Brille" sieht, wie es auch in der Redewendung heisst, und damit nicht etwa besser, sondern alles nur in einem bestimmten eigenen Licht, in eigener Farbe, die nicht unbedingt mit der Wirklichkeit übereinstimmen. Dadurch ergibt sich für den derart durch diese Brille Sehenden ein schiefes Bild von der Wirklichkeit.
    Aber vielleicht liege ich hier auch schief, und man kann das noch anders verstehen.



    Mir erschien es beim Lesen so, als meinte Goethe hier keine Brille im modernen Sinne (als Sehhilfe zum Ausgleich einer Sehschwäche), sondern eher ein Vergrößerungsglas oder eine Lupe.


    das mit der Brille also ist bei Goethe sehr wohl wort-wörtlich zu nehmen.


    Goethe zu Eckermann, am 5. April (!) 1830:


    Es ist bekannt, daß Goethe kein Freund von Brillen ist.


    „Es mag eine Wunderlichkeit von mir sein,“ sagte er mir bei wiederholten Anlässen, „aber ich kann es einmal nicht überwinden. Sowie ein Fremder mit der Brille auf der Nase zu mir hereintritt, kommt sogleich eine Verstimmung über mich, der ich nicht Herr werden kann. Es geniert mich so sehr, daß es einen großen Teil meines Wohlwollens sogleich auf der Schwelle hinwegnimmt und meine Gedanken so verdirbt, daß an eine unbefangene natürliche Entwickelung meines eigenen Innern nicht mehr zu denken ist. Es macht mir immer den Eindruck des Desobligeanten, ungefähr so, als wollte ein Fremder mir bei der ersten Begrüßung sogleich eine Grobheit sagen. Ich empfinde dieses noch stärker, nachdem ich seit Jahren es habe drucken lassen, wie fatal mir die Brillen sind. Kommt nun ein Fremder mit der Brille, so denke ich gleich: er hat deine neuesten Gedichte nicht gelesen – und das ist schon ein wenig zu seinem Nachteil; oder er hat sie gelesen, er kennt deine Eigenheit und setzt sich darüber hinaus, und das ist noch schlimmer. Der einzige Mensch, bei dem die Brille mich nicht geniert, ist Zelter; bei allen anderen ist sie mir fatal. Es kommt mir immer vor, als sollte ich den Fremden zum Gegenstand genauer Untersuchung dienen, und als wollten sie durch ihre gewaffneten Blicke in mein geheimstes Innere dringen und jedes Fältchen meines alten Gesichtes erspähen. Während sie aber so meine Bekanntschaft zu machen suchen, stören sie alle billige Gleichheit zwischen uns, indem sie mich hindern, zu meiner Entschädigung auch die ihrige zu machen. Denn was habe ich von einem Menschen, dem ich bei seinen mündlichen Äußerungen nicht ins Auge sehen kann und dessen Seelenspiegel durch ein paar Gläser, die mich blenden, verschleiert ist!“

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus