Das "überlegene" Spätwerk?

  • Das Werk eines Künstlers wird oft unterteilt in eine frühe, mittlere und späte Schaffensperiode. Ob diese Einteilung sinnvoll ist, sei dahingestellt. Nun habe ich zufällig gelesen, dass Marcel Proust eine ausgesprochene Vorliebe für jegliches Spätwerk hatte. So war er nahezu besessen von den späten Streichquartetten Beethovens, was ich durchaus nachvollziehen kann. Auch die späten Gedichte seines Landsmanns Victor Hugo soll Proust wesentlich höher eingeschätzt haben als dessen frühe Lyrik.


    Worauf ich hinauswill: Gibt es wirklich diese überlegene und souveräne Reife des Spätwerks (in der Literatur, Musik, Kunst, ...), oder sollte man besser jeden Einzelfall betrachten? Ist bspw. Thomas Manns später „Doktor Faustus“ den frühen „Buddenbrooks“ vorzuziehen? Sind Dostojewskis „Brüder Karamasow“ wirklich die Krönung seines Werks? Bei weiterem Nachdenken fielen mir sicherlich noch zahlreiche Beispiele ein, aber mich interessiert die Grundsatzfrage und Eure Meinung dazu.


    Viele Grüße


    Tom

  • Ein Autor verändert sich im Laufe seines Lebens, entwickelt sich weiter (jedenfalls die meisten :breitgrins:). Daher verändert sich auch sein Werk. Nur welcher Teil des Werkes vorzuziehen ist, kann wohl kaum generell beantwortet werden. Das ist wohl eine Frage des Geschmacks und der Vorlieben des Lesers.

    "Es ist die Pflicht eines jeden, es auch auszusprechen, wenn er etwas als falsch erkennt." --- Stefan Heym (2001)


  • Worauf ich hinauswill: Gibt es wirklich diese überlegene und souveräne Reife des Spätwerks (in der Literatur, Musik, Kunst, ...), oder sollte man besser jeden Einzelfall betrachten? Ist bspw. Thomas Manns später „Doktor Faustus“ den frühen „Buddenbrooks“ vorzuziehen? Sind Dostojewskis „Brüder Karamasow“ wirklich die Krönung seines Werks? Bei weiterem Nachdenken fielen mir sicherlich noch zahlreiche Beispiele ein, aber mich interessiert die Grundsatzfrage und Eure Meinung dazu.


    Ich denke schon, dass oft (!) das Spätwerk eine höhere Qualität hat als das Frühwerk. Aber so eine Pauschalisierung ist natürlich schwierig. Es gibt auch Ausnahmen, wie z.B. das Spätwerk Picassos.


    CK


  • Ein Autor verändert sich im Laufe seines Lebens, entwickelt sich weiter (jedenfalls die meisten :breitgrins:). Daher verändert sich auch sein Werk. Nur welcher Teil des Werkes vorzuziehen ist, kann wohl kaum generell beantwortet werden. Das ist wohl eine Frage des Geschmacks und der Vorlieben des Lesers.


    Und es ist auch eine Frage des Alters des Lesers. Man findet sich ja meist in der Gedankenwelt der eigenen Altersgruppe besser zurecht als in anderen.
    D.h. aber nicht, dass höheres Lebensalter unbedingt ein Garant für bessere Leistung ist. Das, was dem Spätwerk an literarischer Könnerschaft und Lebensweisheit zugewachsen ist, wird oft durch eingeschliffene Manierismen, Festgefahrenheit in der eigenen Gedankenwelt und fehlende Spontaneität aufgehoben. Deshalb sollte man jedes Werk für sich - unabhängig vom Alter des Autors beurteilen.



    finsbury

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Gibt es wirklich diese überlegene und souveräne Reife des Spätwerks (in der Literatur, Musik, Kunst, ...), oder sollte man besser jeden Einzelfall betrachten?


    Ich kann hier nur über die Literatur sprechen. Und plädiere sehr stark für letzteres. Gottfried Keller: Wie schwach ist sein Altersroman Martin Salander, verglichen mit dem Grünen Heinrich (selbst in der zweiten Version!)! Sind Joyce' Finnegans Wake und Arno Schmidts Zettels Traum wirklich die Höhepunkte im jeweiligen Werk? Oder einfach Beispiele eines völlig überdrehten Manierismus? Goethes Wanderjahre (die ich sehr gerne und mehr als einmal gelesen habe!) sind ein Steinbruch guter Ideen, aber kein guter Roman. Derselbe alte Goethe aber hat mit Faust II etwas absolut Geniales geliefert ... Hölderlin und Nietzsche müssen hoffentlich nicht (mehr) als Beispiele für ein überlegenes Alterswerk hinhalten. Ist der Witiko dem Nachsommer überlegen? Gotthelfs grosse Werke entstammen eher seiner mittleren Epoche (oder dem Ende derselben, die wohl, wenn überhaupt allgemeine eher als Höhepunkt der künstlerischen Entwicklung eines jeden Autors anzusehen wäre, wo nicht mehr wie in der Jugend das Wollen weit über dem Können liegt, aber das Können das Wollen noch nicht zugeschüttet hat).

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Hallo,


    interessante Frage. Da ich aber von den meisten Autoren oft nur ein Werk kenne (und ich da nie weiß wann sie es geschrieben haben) kann ich diese Frage nicht wirklich beantworten.


    Bei Thomas Mann würde ich für mich aber Buddenbrooks dem Zauberberg vorziehen und das hat er 20 Jahre früher geschrieben. Ob das allerdings ein Zeichen dafür ist, dass ich das frühe Werk bevorzuge lasse ich mal dahin gestellt.


    Katrin

  • Moin, Moin!


    Sind Joyce' Finnegans Wake und Arno Schmidts Zettels Traum wirklich die Höhepunkte im jeweiligen Werk?


    Apropo “Zettel’s Traum”. <a href="http://bonaventura.musagetes.de/">Marius Fränzel</a> startet ein <a href="http://www.zettels-traum-lesen.de/">lektürebegleitendes Weblog</a>. Zur Frankfurter Buchmesse 2010 soll die Neuausgabe erscheinen. Die broschierte Studienausgabe wird bis Ende Januar 2011 für knapp 200 Euro zu haben sein, danach knapp 250 Euro.

  • Ja, was sagt ihr zu Finnegans Wake? Ich hatte bei 2001 eine ziemlich interessante zweisprachige Ausgabe gesehen die mich einigermaßen reizte. Leider hatte meine Frau bereits ein kompletten Einkaufswagen voller Bücher herausgesucht, so dass wir das Werk nicht noch zusätzlich zu schleppen vermochten. Das interessante an Joyce erschien mir dieser unendliche Wissenhorizont den er in seinen Werken ausbreitet. Ich kann mir daher gut vorstellen, dass auch Finnegans Wake ein ziemlich interessantes Studienobjekt sein könnte.


    Schönen Ostersonntag und freundliche Grüße
    F. Hermann


  • Ja, was sagt ihr zu Finnegans Wake? Ich hatte bei 2001 eine ziemlich interessante zweisprachige Ausgabe gesehen die mich einigermaßen reizte. Leider hatte meine Frau bereits ein kompletten Einkaufswagen voller Bücher herausgesucht, so dass wir das Werk nicht noch zusätzlich zu schleppen vermochten. Das interessante an Joyce erschien mir dieser unendliche Wissenhorizont den er in seinen Werken ausbreitet. Ich kann mir daher gut vorstellen, dass auch Finnegans Wake ein ziemlich interessantes Studienobjekt sein könnte.


    2001 hat auch einen Versand, und so weit ich weiß, ist Finnegans Wake bei der Post nicht unter Zensur. :zwinker:

  • Hi lost,


    über den normalen Buchhandel sind 2001 Bücher nicht zufällig auch zu beziehen? Leider erhalte ich schon längst keine 2001 "Kataloge" mehr und darf aufgrund eines Verbotes meiner besseren Hälfte auch nicht mehr über Internet bestellen. Sie hat gedroht, mir ansonsten den Kopf abzuhacken, weil ich vordem unser Haushaltbudget schon mehrmals überschritten hatte. In diesen Dingen ist sie aber auch wirklich rigoros. Das mag ich so an ihr...


    Grüße
    F. Hermann

  • Bei Euch herrschen ja rüde Sitten. Also ein Buchkaufverbot würde ich mir nicht so ohne weiteres gefallen lassen.

    "Es ist die Pflicht eines jeden, es auch auszusprechen, wenn er etwas als falsch erkennt." --- Stefan Heym (2001)

  • Nun. Angedroht hat sie es mir auf jeden Fall. Aber bei guten Büchern macht sie denn doch Hin-und Wieder eine Ausnahme.


    Grüße

  • @Freund Hermann: Kauf ihr doch einfach ein Buch mit. Als Drachenfutter sozusagen. :breitgrins:

    "Es ist die Pflicht eines jeden, es auch auszusprechen, wenn er etwas als falsch erkennt." --- Stefan Heym (2001)

  • Zitat

    Ist das nicht ein stringenter Grund, eine Ehe annullieren zu lassen? Breitgrins


    Auf keinen Fall!


    Zitat

    @Freund Hermann: Kauf ihr doch einfach ein Buch mit. Als Drachenfutter sozusagen. Breitgrins


    Das mit dem Drachen will ich nicht gehört haben. Bei Punkt Eins bin ich allerdings einverstanden. Am besten etwas mit viel Liebe drin...


    Freundliche Grüße

  • In seinem Buch "Beethovens Klaviersonaten - Ein musikalischer Werkführer" geht der Autor Siegfried Mauser u.a. auf die Stellung des künstlerischen Spätwerks innerhalb des Gesamtwerks ein. Bevor er auf Beethoven im Besonderen kommt, spricht er von zwei Grundtendenzen, die ein Alterswerk häufig durchziehen:
    1. eine extrem gesteigerte Vergeistigung, verbunden mit einem hohen Abstraktionsgrad, der auf Reduktion und Konzentration beruht
    2. eine individuelle Radikalisierung, die endgültig mit Konventionen bricht und einen utopischen Gestaltungswillen offenbart.


    Das mache das Spätwerk eines Künstlers (und auch das Beethovens) zu einer harten Nuss für das zeitgenössische Publikum. Insbesondere die drei letzten Sonaten op. 109 - 111 wurden erst im Laufe des 19. Jahrhunderts verstanden und geschätzt.


    Die beiden o.g. Tendenzen treffen mMn. besonders auf das Werk Robert Schumanns zu (wenn wir schon bei der Musik sind). Ein Vergleich zwischen den agilen, flirrenden Frühwerken (z.B. "Papillons" oder "Kreisleriana") und den kontemplativen letzten Klavierzyklen ("Fughetten", "Gesänge der Frühe", "Variationen über ein eigenes Thema") zeigen sehr schön eine radiale Vergeistigung der Musik und ein hohes Mass an Konzentration auf einfache, aber niemals simple musikalische Themen.


    Das alles spricht natürlich nicht für die allgemeine Überlegenheit des Spätwerks, sondern lediglich für dessen wie auch immer beschaffene Ausnahmestellung in vielen künstlerischen Biografien.


    Es grüßt


    Tom