April 2003: Theodor Fontane - Effi Briest

  • Hallo Ihr Lieben,


    wow, legt Hubert hier ein Tempo vor, was?


    So schnell kann ich gar nicht lesen, wie er uns immer wieder mit neuen, interessanten Ideen aufmischt! Aber es macht mir riesigen Spaß!!!


    Gestern habe ich mir also Madame Bovary gegriffen und zu lesen begonnen, ich hatte den Roman vor x Jahren gelesen, habe aber nur den Inhalt in groben Zügen im Gedächtnis. Nach den ersten 8 Kapiteln weiß ich aber schon, dass mir Effi Briest viel besser gefällt. Deutlich wurde mir das nach den ersten Passagen in wörtlicher Rede. Da ist Fontane aber um Längen besser als Flaubert. Die Gespräche bei Fontane sind so natürlich, bei Flaubert kommen sie mir gestelzt und künstlich daher. So sprechen Menschen nicht wirklich.
    Und was Flaubert alles beschreiben muss, um eine Stimmung auszudrücken. Nach der Fontane-Lektüre erscheint es mir geradezu lächerlich. Fontane, das weiß ich jetzt, ist ein Meister im Weglassen von Worten. Und er erreicht dadurch eine dichtere Atmosphäre!


    Und wenn man Gottvater vorwerfen will, dass er den Cherub mit dem Schwert zu spät, also erst nach der Verführung Evas aufgestellt habe, so zeigt Fontane an „Gottvater“ Instetten, dass es gegen den Verführer auch nichts nützt den Cherub (Chinesen) vorsorglich zu installieren. Aber wundert es bei dieser Interpretation noch, dass Effi aus dem „Paradies“? vertrieben wird? Ich hoffe, mit diesem provokativem letzten Satz, eine Diskussion angeregt zu haben.


    Also nein, Hubert! Die Provokation ist dir gelungen. Ich widerspreche ausdrücklich. Schließlich stammt der Chinese gar nicht von Innstetten. Und selbst wenn er, Innstetten, sein Haus vielleicht – was eine arge Mutmaßung ist – für das Paradies für Effi halten könnte, so wissen wir, dass es kein Paradies war.


    Die Farbsymbolik macht mir noch zu schaffen. Hat Fontane wirklich an die Alarmfarbe gelb gedacht? Gelbe Tapeten befinden sich auch im Esszimmer der Bovarys, vielleicht war das damals eine Modefarbe?
    Das blauweiße Kleid der Effi hat auch nicht zwangsläufig mit den Mariendarstellungen zu tun. Irgendwo habe ich gelesen, dass Fontane ein junges Mädchen in einem solchen Kleid gesehen hat, er fand es entzückend und bediente sich dieser Erinnerung bei der Schilderung von Effi.
    Nichtsdestotrotz gefällt mir die Interpretation der Farbangaben so, wie Hubert sie aufgeführt hat. Doch ob auch Fontane diese Gedanken dabei hatte?


    Ich will noch ein wenig lesen und schließe daher hier.


    Liebe Grüße,


    Polly

  • Guten Morgen zusammen,


    ich bin immer noch da! Nicht, dass ihr denkt, mich würde es nicht mehr geben.


    Ich habe mir ein bißchen mehr Zeit gelassen, eure Meinungen zu lesen und ich bin sehr nachdenklich geworden. Ihr habt dieses Buch mit mir zusammen gelesen und doch muß ich gestehen, habt ihr viel mehr gesehen, als ich gesehen habe.


    Vor allem eure Meinungen über die Farbe "Gelb", ich weiß nicht, ob ich sie teilen kann. Hat Fontane dies wirklich damit bezweckt? Sicher, da ist imaginäre Chinese, die "gelbe Gefahr" wie man es früher immer nannte, vor dem Effi Angst hat. Aber die anderen Beziehungen zur Farbe Gelb? Ist das nicht ein bißchen weit hergeholt?


    Und auch das blau-weiße Kleid = Unschuld Mariens? Blau-weiß waren unzählige Kinder- und Jungmädchenkleider der damaligen Zeit und leider auch noch zu meiner Kinderzeit (man hat mich auch immer in blau.-weiße Matrosenkleidchen gestopft :breitgrins: :breitgrins: ).


    Irgendwie weigert sich mein Kopf, so richtig an die Symbolik dieser Farben zu glauben.


    Aber ich muss euch allen ein riesiges Kompliment machen, ich hätte niemals gedacht, dass man in der Geschichte von "Effi Briest" so viel herauslesen und mutmaßen kann.


    Ingrid (ich hoffe, ich stehe jetzt nicht ganz als phantasieloser Mensch da :elch: )

  • Hallo zusammen


    bewundernswert, wie Hubert die Fragen, die wir uns alle gestellt haben, nun aufrollt. Das gibt einem doch das Gefühl, daß man darüber noch nachdenkt. Ich las in den letzten Tagen die Gedanken aller nochmals durch, nur zum Antworten war mir die Zeit zu eng, da wieder eine Menge im Geschäft los ist und in der Hektik möchte ich auch nicht antworten.


    Deswegen, später von mir mehr.


    nur kurz:
    Polly: ich mußte schmunzeln über: "Eine abscheuliche Bande! "


    Ich empfand es zwar nicht so, aber es kommt dem Ausruf schon nahe :)


    du schreibst außerdem:
    "Und die sozusagen in Verbannung leben muss, weil ihren lieblosen Eltern der eigene Ruf wichtiger ist als die Tochter. "


    sie wurde aber wieder aufgenommen, wegen ihrer Krankheit und die Liebe war trotz gesellschaftlicher Zwänge doch noch vorhanden. Die Mutter hat sogar eingesehen, daß der Umgang mit den Nachbarn ihr doch nicht soviel bedeuteten und sie gern diese Reise mit Effi unternommen hätte. Wie so oft, wenn man zur richtigen Einsicht kommt, ist es zuspät :(


    Apropo "Krankheit". Die Krankheit gab Effi die Freiheit wieder nach Hause zu kommen. Krankheit= Freiheit? Das erinnert mich stark an Hans Castorp in "Der Zauberberg".


    Des Vaters Ausspruch am Ende: eigentlich war es doch ein Musterpaar, fand ich verwirrender. Denn Vater Briest war doch sonst so klarsichtig.


    Ihr habt mich neugierig gemacht auf Emma Bovary, danke für diese aufschlußreiche Gedanken, auch über die Strukturen der Dramen, sie haben wir viele neue Kenntnisse gebracht.


    Ingrid:
    es geht nicht darum, wieviel der eine oder andere sieht. Es ist einfach nur schön, wenn man ein gemeinsames Leseprojekt bis zum Ende durchzieht und Freude daran hat. Deine Gedanken und Fragen über das zwischenmenschliche hat mir viel gebracht, ich habe beim Lesen immer darauf geachtet. Außerdem hat Steffi schon erwähnt, daß man Fontane auch ohne Interpretation genießen kann und das war doch bei dir der Fall wie du geschrieben hast. Es war schön, daß du dabei warst.


    zum Schluß noch ein schönes Zitat aus "Fontanes Welt" von Helmuth Nürnberger:


    "Heißt es nicht, kein Gebilde aus Menschenhand sei vollkommen", hat Thomas Mann im Hinblick auf Effi Briest rhetorisch gefragt. "Und doch, so sehr man gestimmt sein mag, der Menschheit Bescheidenheit anzuraten - der Satz ist falsch, es gibt das Vollkommene, als Künstler bringt der Mensch es zuweilen träumerisch hervor."


    Liebe Grüße an eine tolle Lesegruppe
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Hallo Ihr Lieben!


    Polly
    Die Gespräche bei Fontane sind so natürlich, bei Flaubert kommen sie mir gestelzt und künstlich daher. So sprechen Menschen nicht wirklich.


    Wie gesagt, ich bin momentan auch davon überzeugt, dass Fontane besser ist als Flaubert, aber wenn Flauberts Gespräche gestelzt und künstlich wirken, könnte es auch an einer schlechten Übersetzung liegen und wer weiß, wie Fontane ins Französische übersetzt, für französische Ohren, klingt?


    Und was Flaubert alles beschreiben muss, um eine Stimmung auszudrücken. Nach der Fontane-Lektüre erscheint es mir geradezu lächerlich.


    Da hast Du absolut recht. Und weil man Fontane immer vorwirft er könne keine erotischen Szenen beschreiben, habe ich mal die beiden Szenen des jeweils ersten "Sündenfalls" von Effi und Emma verglichen. Nicht dass Fontane hier Weltklasse ist:


    Sie fürchtete sich und war doch zugleich wie in einem Zauberbann und wollte auch nicht heraus. »Effi«, klang es jetzt leis an ihr Ohr, und sie hörte, daß seine Stimme zitterte. Dann nahm er ihre Hand und löste die Finger, die sie noch immer geschlossen hielt, und überdeckte sie mit heißen Küssen. Es war ihr, als wandle sie eine Ohnmacht an. Als sie die Augen wieder öffnete, war man aus dem Walde heraus,


    Obwohl, wenn ich es jetzt noch einmal lese, wie Fontane bei dem zweiten „sie“ es der Phantasie des Lesers überlässt, ob damit Effi oder deren Hand gemeint ist: doch Weltklasse! Dagegen klingt Flaubert richtig kitschig:


    „Ach, Rudolf!« flüsterte die junge Frau, indem sie sich an ihn anschmiegte.
    Das Tuch ihres Jacketts lag dicht am Samt seines Rockes. Sie bog ihren weißen Hals zurück, den ein Seufzer schwellte. Halb ohnmächtig und tränenüberströmt, die Hände auf ihr Gesicht pressend und am ganzen Leibe zitternd, gab sie sich ihm hin.“


    . Fontane, das weiß ich jetzt, ist ein Meister im Weglassen von Worten.


    Danke für diesen Satz. Ich werde ihn in Zukunft all denen entgegen halten, denen zu Fontane nur die Worte langatmig, detailverliebt, weitschweifig einfallen und die damit nur zeigen, dass sie „Effi Briest“ nicht oder nicht richtig gelesen haben.


    Schließlich stammt der Chinese gar nicht von Innstetten. Und selbst wenn er, Innstetten, sein Haus vielleicht – was eine arge Mutmaßung ist – für das Paradies für Effi halten könnte, so wissen wir, dass es kein Paradies war.


    Zwar wissen wir nur von Crampas, dass Innstetten den Chinesen als Cherub benutzt, aber warum teilt Innstetten in Berlin sofort Effi mit, dass Johanna das Bild des Chinesen von Kessin nach Berlin mitgebracht hat. War das wirklich ohne jede Absicht?
    Ich provoziere mal weiter. Ist Eva im 1. Buch Moses nicht genau deshalb auf die Schlange hereingefallen, weil sie den Garten Eden nicht als Paradies erkannte, sondern es ihr zu langweilig und eintönig im Paradies war. Frage: Kann man das „Paradies“ überhaupt erkennen, wenn man drinnen ist, oder ist das Paradies nicht immer nur ein Ort der Sehnsucht? Im Ernst: Fontane hat Kessin sicher auch nicht als Paradies gesehen. Aber vielleicht hat er auf Effis Kinderparadies Hohen-Cremmen angespielt, dessen Zutritt Effi, nach ihrem "Sündenfall", auch verwehrt war.


    Hat Fontane wirklich an die Alarmfarbe gelb gedacht? Gelbe Tapeten befinden sich auch im Esszimmer der Bovarys, vielleicht war das damals eine Modefarbe?


    Wer sagt denn, dass die gelben Tapeten in Bovarys Esszimmer, nicht schon von Flaubert als Warnfarbe benutzt wurden. Nun es kann auch sein, dass Fontane die Zimmer des Landratsamtes in Kessin als Hommage an Flauberts gelbe Tapeten gelb „anmalte“. Nur eins ist sicher: Wenn Fontane die Farbe der drei leeren Zimmer für erwähnenswert hält, dann hat diese Farbe eine Bedeutung.
    Ich bestehe aber nicht auf meiner Version und bin besseren Ideen gegenüber immer aufgeschlossen. Das blauweiße Kleid mit Mariendarstellungen in Verbindung zu bringen, war allerdings nicht meine Idee, obwohl ich immer mehr daran glaube.

    Das blauweiße Kleid der Effi hat auch nicht zwangsläufig mit den Mariendarstellungen zu tun. Irgendwo habe ich gelesen, dass Fontane ein junges Mädchen in einem solchen Kleid gesehen hat, er fand es entzückend und bediente sich dieser Erinnerung bei der Schilderung von Effi.


    Es könnte aber trotzdem sein, dass Fontane von jenem Mädchen im Matrosenkleid nur deshalb so entzückt war, weil er jetzt endlich wußte wie er Effi in den Marienfarben darstellen konnte, ohne sie mit orientalischem weißem Umhang und blauem Schleier im Garten herumhüpfen zu lassen.


    Doch ob auch Fontane diese Gedanken dabei hatte?


    Bei der Interpretation eines Kunstwerkes ist es nicht entscheidend, welche Gedanken der Künstler hatte, sondern welche Gedanken der Betrachter/Leser/Hörer hat. Da Kunstwerke im Gegensatz zu Kunsthandwerk durch Inspiration entstehen, steckt in ihnen oft mehr als der Künstler ahnt. J.S.Bach war sich sicher nicht bewusst, welch große Kunst er geschaffen hat. Echte Künstler verzichten deshalb auch darauf ihre Werke selbst zu interpretieren.
    Am Freitag abend habe ich im Südwestfernsehen noch die Sendung „Literatur im Foyer“ gesehen, bei der Sigrid Löffler und zwei weitere Literaturkritiker mit drei Schriftstellern über deren Bücher sprachen. Dabei sagte Ralf Rothmann, dessen Roman „Hitze“ vorgestellt wurde auf die Frage, ob man sein Buch in einer bestimmten Weise interpretieren könnte, in etwa: Wenn Sie das so sehen, dann ist das sicher auch so, auch wenn ich mir beim Schreiben, dessen nicht bewusst war (und er sagte dies keineswegs ironisch).
    Aber dass Fontane die Farbe „Gelb“ in „Effi Briest“ ganz bewusst und gezielt einsetzte, davon bin ich, nachdem ich mir die Stellen (es sind mehr, als ich erwähnte) noch mal angesehen habe, überzeugt.


    Ingrid
    Und auch das blau-weiße Kleid = Unschuld Mariens? Blau-weiß waren unzählige Kinder- und Jungmädchenkleider der damaligen Zeit und leider auch noch zu meiner Kinderzeit (man hat mich auch immer in blau.-weiße Matrosenkleidchen gestopft


    Frag doch mal Deine Mutter, warum sie Dich in blau-weiße Jungmädchenkleider gestopft hat. Sicher nicht, um in Dir den Wunsch zu wecken, später mal Seemann zu werden oder Dir einen Matrosen zu angeln, aber vielleicht weil sie diese blau-weißen Kleidchen an die vielen Mariendarstellungen erinnerten? Übrigens kann sowas auch völlig unbewusst gemacht werden. (Das Unterbewußtsein hat mehr Einfluß auf unser Verhalten als wir ahnen und es wird gespeist von Bildern die wir bewußt oder unbewußt aufnehmen)


    ich hätte niemals gedacht, dass man in der Geschichte von "Effi Briest" so viel herauslesen und mutmaßen kann.


    Wenn man bedenkt, dass Fontane fünf Jahre an diesem Roman gearbeitet hat, wenn man weiter bedenkt, dass er vorher schon viele Romane und Erzählungen geschrieben hat und bevor er mit dem Bücherschreiben anfing auch schon über 20 Jahre Theaterkritiken u.a. geschrieben hat (also die 5 Jahre nicht, weil er nicht schreiben konnte), dann bin ich davon überzeugt, dass wir in der kurzen Zeit, in der wir uns mit dem Roman „Effi Briest“ beschäftigt haben, nur einen Bruchteil von dem herausgelesen haben, was Fontane hineingeschrieben hat.
    Übrigens bin ich auch überzeugt, dass es in unserem nächsten Buch „Alexis Sorbas“ einiges zu entdecken gibt. Da Nikos Kazantzakis u.a. Dantes „Göttliche Komödie“ und Nietzsches „Zarathustra“ übersetzt hat, würde ich mich nicht wundern, wenn Erkenntnisse aus diesen Arbeiten in seinen Roman mit eingeflossen wären.


    Maria
    Ihr habt mich neugierig gemacht auf Emma Bovary


    Da auch ich „Madame Bovary“ gelegentlich (dieses Jahr aber voraussichtlich nicht mehr) nochmals lesen will, habe ich, damit es nicht vergessen wird, das Buch in die Lesevorschläge aufgenommen.


    Vielen Dank für das Thomas Mann-Zitat über Fontanes "Effi Briest". Wenn Mann sagt, dass der Künstler das Vollkommene zuweilen träumerisch hervorbringt, dann meint er genau das, was ich vorher anzudeuten versuchte. In Kunstwerken und „Effi Briest“ zähle ich zu solchen, gibt es u.a. Sachen zu entdecken, die der Künstler nicht bewusst, sondern träumerisch (durch Inspiration) hineingeschrieben hat.


    Liebe Grüße


    Hubert

  • Hallo Ihr Lieben,


    …habt ihr viel mehr gesehen, als ich gesehen habe.


    Ist das nicht gerade das, warum wir hier gemeinsam lesen? Ich finde es toll, z.B. auch auf diese Farbsymbolik gestoßen zu werden, die mir garantiert durchgegangen wäre.


    Irgendwie weigert sich mein Kopf, so richtig an die Symbolik dieser Farben zu glauben.


    Wir müssen es nicht glauben, Ingrid, aber wir sollten die Möglichkeit nicht außer Acht lassen, dass es genau so gemeint sein könnte. Das wäre so wie in der Lyrik, da gilt es ja auch, jedes einzelne Wort zu beachten. Und bei all den Verdichtungen in Effi Briest – als bestes Beispiel gilt mir da auch die „Sündenfallszene“, die Hubert zitiert hatte – liegt es schon nahe, dass Fontane sich nicht wahllos einfach einen hübschen Farbton aussuchte, sondern gelb und nochmals gelb wollte. (Die Wände meines Zimmers sind auch gelb, ich dachte bei der Wahl meiner Tapeten aber mehr an die Sonne als an Gefahr, und dennoch, wer weiß, wie Sigmund Freud darüber denken würde? :zwinker: )


    sie wurde aber wieder aufgenommen, wegen ihrer Krankheit und die Liebe war trotz gesellschaftlicher Zwänge doch noch vorhanden. Die Mutter hat sogar eingesehen, daß der Umgang mit den Nachbarn ihr doch nicht soviel bedeuteten und sie gern diese Reise mit Effi unternommen hätte. Wie so oft, wenn man zur richtigen Einsicht kommt, ist es zuspät :(


    Ich finde keine Liebe bei den Eltern, Maria. Es bedurfte eines knallharten Briefes von Dr. Rummschüttel, der sogar die „Forderung“ stellte, Effi möge in Hohen-Cremmen Aufnahme finden. Es scheint mir eher Mitleid gewesen zu sein. Und dass Mutter Briest dann erkannte, dass ihr mehr an Effis Gegenwart denn am Umgang mit den Nachbarn lag, können wir doch alle nachvollziehen, Effi war doch ein liebenswertes Geschöpf.


    Denn Vater Briest war doch sonst so klarsichtig.


    Das habe ich ebenfalls anders empfunden. Briest war gutmütig und nachgiebig, aber er verkannte doch meistens die Realität und sah nur das, was er sehen wollte. Ich habe ihn als „Weichei“ empfunden.


    [size=18px]"Heißt es nicht, kein Gebilde aus Menschenhand sei vollkommen", hat Thomas Mann im Hinblick auf Effi Briest rhetorisch gefragt. "Und doch, so sehr man gestimmt sein mag, der Menschheit Bescheidenheit anzuraten - der Satz ist falsch, es gibt das Vollkommene, als Künstler bringt der Mensch es zuweilen träumerisch hervor."[/size]


    Was für ein schönes Zitat! Auch von mir Dank dafür, Maria! Es ist so toll, dass ich es hier noch einmal wiedergeben musste.


    Zu den „Sündenfällen“ Effis und Emmas:
    Es ist möglich, dass Flaubert sich sogar vor Gericht dafür verantworten musste, weil er diese Szene so unzweideutig geschildert hatte. Das jedenfalls hat mir mein Vater, der mir den Roman vor Jahren empfahl, erzählt, meine ich mich zu erinnern. Das kann sich aber auch auf einen anderen Roman bezogen haben – sicher bin ich mir nicht mehr. Und meinen Vater kann ich nicht mehr fragen, weil er nicht mehr lebt.


    Fontane hat ja in einer Zeit gelebt, in der diese Dinge auch noch absolut tabuisiert waren. Ich denke, man kann ihm unter keinen Umständen vorwerfen, er habe keine erotischen Szenen schreiben können, denn sie wären nie veröffentlicht worden. Effi Briest wurde ja, wie auch die Romane zuvor, zunächst als Serie in Zeitschriften veröffentlicht, und es waren in erster Linie weibliche Leser, die über Wohl und Wehe eines Romans entschieden. Kam der Roman gut an, so wurde er anschließend als Buch veröffentlicht. Und Sex war halt damals kein Thema, welches man beim Namen hätte nennen dürfen. Der durfte nur zwischen den Zeilen stattfinden.


    Nein, Hubert, der „chinesische Cherub“ ist Innstetten nicht anzulasten. In Kap. 10 macht er sich sogar lustig darüber, und zuvor sagt er zu Johanna: „Unsinn, sag’ ich. Immer wieder das alberne Zeug; ich mag davon nicht mehr hören.“
    Und als er Effi in Berlin davon berichtet, dass Johanna den Chinesen mitgebracht hat, fordert er sie auf, Johanna anzuweisen das Bild zu verbrennen.


    Ich provoziere mal weiter. Ist Eva im 1. Buch Moses nicht genau deshalb auf die Schlange hereingefallen, weil sie den Garten Eden nicht als Paradies erkannte, sondern es ihr zu langweilig und eintönig im Paradies war.


    Nein! Eva war zu rein, sie kannte nichts Böses und konnte es sich auch nicht vorstellen.


    Frage: Kann man das „Paradies“ überhaupt erkennen, wenn man drinnen ist, oder ist das Paradies nicht immer nur ein Ort der Sehnsucht?


    Natürlich erkennt man das Paradies, wenn man drinnen ist. Nur ist das Paradies nicht mehr der Garten Eden, der bis zum Sündenfall Evas ein perfekter Dauerzustand war. Wir hier haben unser Paradies nicht mehr dauerhaft. Aber es gibt Momente, in denen wir mit Raum und Zeit so in Harmonie sind, dass kein Wunsch mehr offen ist. Das würde ich als Paradies bezeichnen. Schade ist nur, dass es im Paradies dann eben auch die Schlange gibt, und die setzt uns dann den Floh ins Ohr. Wir streben dann noch mehr an, sind also plötzlich nicht mehr ganz zufrieden, und aus ist’s mit dem Paradies. Ihr wisst doch, im Faust, dieser Satz: Augenblick, verweile doch…


    Bei der Interpretation eines Kunstwerkes ist es nicht entscheidend, welche Gedanken der Künstler hatte, sondern welche Gedanken der Betrachter/Leser/Hörer hat. Da Kunstwerke im Gegensatz zu Kunsthandwerk durch Inspiration entstehen, steckt in ihnen oft mehr als der Künstler ahnt. J.S.Bach war sich sicher nicht bewusst, welch große Kunst er geschaffen hat. Echte Künstler verzichten deshalb auch darauf ihre Werke selbst zu interpretieren


    Ja, damit hast Du sicher Recht, Hubert. Daher rührt wohl auch die Aussage, dass die Kunst im Auge des Betrachters liege.


    Eigentlich wollte ich ja nicht, aber ich werde mich Euch nun wohl doch bei Kazantzakis anschließen. Ich bin gar nicht so neugierig auf Alexis Sorbas, vielleicht weil mir der Film gut gefallen hatte und es nach der Lektüre des Romans oft so war, dass ich die Verfilmung dann nicht mehr mochte. Ich habe vor Jahren die „Griechische Passion“ gelesen. Von dem Buch war ich begeistert.


    Wann soll ich bloß die ganzen Fontane-Briefe und die Tagebücher und Reisetagebücher lesen und den Stechlin und den Band mit seinen Kritiken und und und


    Eure zeit- und ratlose


    Polly

  • Hallo zusammen


    die Farbsymbolik ist faszinierend. Es paßt zu Fontane, damit zu experimentieren, denn er ist u.a. auch bekannt dafür, daß er gern mit "Namen" spielt. Er sagt von sich: Als Knabe schon, in Büchern, auf den Brettern, erquickte mich der Namen schöner Klang....


    Zitat von "Polly"

    Ich finde keine Liebe bei den Eltern, Maria. Es bedurfte eines knallharten Briefes von Dr. Rummschüttel, der sogar die „Forderung“ stellte, Effi möge in Hohen-Cremmen Aufnahme finden. Es scheint mir eher Mitleid gewesen zu sein. Und dass Mutter Briest dann erkannte, dass ihr mehr an Effis Gegenwart denn am Umgang mit den Nachbarn lag, können wir doch alle nachvollziehen, Effi war doch ein liebenswertes Geschöpf.


    vielleicht haben sie nur auf einen solchen Schubs gewartet? Die Eltern saßen auch in gesellschaftlichen Zwängen, wie leicht macht man dann Fehler, die man bereut.
    Das ist natürlich alles Spekulation. Wahrscheinlich wünsche ich mir das so, weil ich an die Liebe glauben möchte. Ist schon interessant, wie unterschiedlich man gelesenes empfinden kann.


    Zitat

    Das habe ich ebenfalls anders empfunden. Briest war gutmütig und nachgiebig, aber er verkannte doch meistens die Realität und sah nur das, was er sehen wollte. Ich habe ihn als „Weichei“ empfunden.


    Ich sehe ihn eher phlegmatisch. Was immer man in seinem Satz "Das ist ein weites Feld" auch hinein lesen kann, ich finde es sehr philosophisch, ein Satz den kein Weichei äußern kann.


    Zitat

    Wann soll ich bloß die ganzen Fontane-Briefe und die Tagebücher und Reisetagebücher lesen und den Stechlin und den Band mit seinen Kritiken und und und


    das frag ich mich auch. Ich lese gerade so nebenher "Fontanes Welt" von Helmuth Nürnberger. Aber auch nur häppchenweise, da ich unter der Woche wenig zum Lesen komme.


    Zitat von "Hubert"

    Im Ernst: Fontane hat Kessin sicher auch nicht als Paradies gesehen. Aber vielleicht hat er auf Effis Kinderparadies Hohen-Cremmen angespielt, dessen Zutritt Effi, nach ihrem "Sündenfall", auch verwehrt war.


    mmh - da Fontane gern mit Namen spielt, kann ich mir gut vorstellen, daß er zwischen Eva und Effi eine Parallele zog. Effi durfte wenigstens wieder zurück, wenn auch nur für kurze Zeit.


    ihr habt soviel noch an Gedanken beschrieben, daß ich garnicht nachkomme, alles zu verarbeiten.


    Hubert: danke fürs Nachforschen über den 15. August, über Marias Unschuld und der verführten Eva und den Hinweis über Krampus, als Teufelsgestalt.


    Wenn Innstetten Gottvater darstellt und stur nach Regeln lebt, dann hat die Menschheit keine Gnade von Gott zu erwarten. Das erschreckt mich - doch wie schön der Gedanke, daß Fontane hier als Sprachrohr für uns alle Menschen einspringt. Ein Appell für Liebe, Verständnis und Vergebung vermittelt Effie Briest für mich.


    Könnte der Chinese, der Cherub (toller Gedanke Hubert) auch das Gesetz Gottes darstellen, das uns Menschen mahnt auf den richtigen Weg zu bleiben?


    Liebe Grüße
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Liebe Maria, liebe Mitleser,


    nein! NEIN! Innstetten stellt doch niemals Gottvater dar!
    Innstetten ist der größte Verlierer in dem ganzen Buch. Er erkennt es doch selbst, dass es falsch war, sich so an irdischen (!!!) Regeln festzubeißen. In seinem Gespräch mit Wüllersdorf nach dem Erhalt des Briefes von Roswitha beneidet er die

    „pechschwarzen Kerle, die von Kultur und Ehre nichts Wissen. Diese Glücklichen. Denn gerade das, dieser ganze Krimskrams ist doch an allem Schuld. Aus Passion, was am Ende gehen möchte, tut man dergleichen nicht. Also bloßen Vorstellungen zuliebe . . . Vorstellungen! . . . Und da klappt dann einer zusammen, und man klappt selber nach. Bloß noch schlimmer.“


    Mit dem Appell für Liebe, Verständnis und Vergebung hast Du sicher Recht. Aber genau daran krankte es wohl in der Zeit Effis zumindest in ihrer Schicht. Nur Roswitha hat Liebe zu geben, und ein wenig Nächstenliebe finde ich auch bei den älteren Herren Gieshübler, Rummschüttel und Niemeyer.


    Und nochmals zu den Eltern. Mich wundert, wie nun auch Du sie in Schutz zu nehmen versuchst. Sie haben keine Liebe für Effi, nur weil sie sie zuletzt aufnehmen. Liebe hieße doch auch, dass sie versuchen würden zu verstehen, und dass sie verzeihen könnten. Aber sie haben nichts begriffen. Für die Mutter blieb die Geschichte „ein interessanter Fall“ und Vater Briest findet noch im letzten Kapitel, dass Effi und Innstetten „eigentlich ein Musterpaar“ waren. Und beide bemerken, dass es nach Effis Tod bei Rollo tiefer ging als bei ihnen.
    Wer möchte diese Eltern haben?


    Heute muss ich früher ins Bett, daher lasse ich es hiermit bewenden.
    Liebe Grüße,


    Polly

  • Hallo zusammen!


    Polly
    Die Gespräche bei Fontane sind so natürlich, ...


    Mit dieser Meinung stehst Du nicht alleine da. Friedrich Spielhagen (das war der, der zur gleichen Zeit wie Fontane einen Roman über den „Fall Ardenne“ geschrieben hat) schrieb folgendes:
    Zu den Errungenschaften der modernen Erzählerkunst gehört mit in erster Linie, dass man die Sprechweise der Personen möglichst der, welche sie im wirklichen Leben haben würden anzunähern sucht. Ich kenne keinen modernen Erzähler, der es darin weiter gebracht hätte, als Fontane. ... er gibt die Quintessenz, sozusagen, der Alltagssprache, sie so unmerklich stilisierend, dass jeder Leser schwören möchte: so und nicht anders müssen diese Menschen ... gesprochen haben.


    Zu den „Sündenfällen“ Effis und Emmas:
    Es ist möglich, dass Flaubert sich sogar vor Gericht dafür verantworten musste, weil er diese Szene so unzweideutig geschildert hatte. Das jedenfalls hat mir mein Vater, der mir den Roman vor Jahren empfahl, erzählt, meine ich mich zu erinnern. Das kann sich aber auch auf einen anderen Roman bezogen haben


    Nein, es war „Madame Bovary“ die Flaubert vor Gericht brachte. Allerdings nicht wegen der unzweideutigen Szenen, sondern weil, wie es der Staatsanwalt in seiner Anklageschrift formulierte, Flaubert einer Ehebrecherin einen „Glorienschein“ umgelegt hätte. Flauberts Verteidiger Sénard konnte allerdings das Gericht davon überzeugen, dass Flaubert nur realistisch beschreibe, was seine Protagonisten fühlen und keinerlei Wertung im Roman vornähme, vielmehr die Beurteilung der Story dem Leser überlasse. (Beides macht ja auch Fontane: Effi einen „Glorienschein“ umlegen, und die Wertung dem Leser überlassen?*) Flaubert hat dieser Prozess, der für viel Aufsehen sorgte und mit Flauberts Freispruch endete, nicht geschadet, vielmehr hat der Prozess den Roman in aller Welt bekannt gemacht.


    nein! NEIN! Innstetten stellt doch niemals Gottvater dar!


    Vielen Dank Polly, für Deine leidenschaftliche Diskussionsteilnahme (daher freut es mich auch sehr, dass Du Dich auch bei „Alexis Sorbas“ beteiligst). Hier liegt allerdings ein Missverständnis vor. Nichts liegt mir ferner als die Gleichung Innstetten = Gottvater, wenn man dies über den ganzen Roman betrachtet. Zum einen hatte ich bei meinem Beitrag, wie ausdrücklich erwähnt ins Unreine interpretiert (bin zwischenzeitlich aber von dieser Interpretation überzeugt), zum anderen hatte ich „Gottvater“ in Anführungszeichen gesetzt. Was ich aber meine: „Effi Briest“ kann man, wie ich unten noch ausführen will, auf mehreren Ebenen lesen. Eine dieser Ebenen ist die Umsetzung religiöser Bilder durch die Romanprotagonisten. Und eines dieser Bilder könnte sein: „Die Verführung Evas“. Und nur in diesem „Bild“ käme Innstetten diese Rolle zu. Davor und danach hat er mit dieser Rolle nichts mehr zu tun.


    So wie ja auch der „Chinese“ im Roman wechselnde Funktionen hat, wie in der Facharbeit (siehe Link) „Die Allegorie des Chinesen“ von Melmo dargelegt wird. In dieser Arbeit wird übrigens auch auf die Unterschiedlichkeit der Namen „Geert“ und „Effi“ hingewiesen. Ein Grund warum ich Sekundärliteratur erst hinterher lese: Das Erlebnis des Selbstentdeckens geht sonst verloren.



    DIE VERSCHIEDENEN EBENEN IM ROMAN „EFFI BRIEST“:


    1. Ebene


    „Effi Briest“ als (Anti-)Liebesroman: Die Handlungsebene ist kurz erzählt: Ein junges Mädchen heiratet einen älteren Mann, betrügt ihn, wird verstoßen und stirbt oder noch kürzer: "Eine Hochzeit, eine Geburt und zwei Beerdigungen".


    2. Ebene


    Die Illustration des Pauluswortes aus dem 1. Korintherbrief, Kapitel 13, Vers 1 u. 2:
    (1)Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete und hätte die Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle. (2)Und wenn ich prophetisch reden könnte und wüßte alle Geheimnisse und alle Erkenntnis und hätte allen Glauben, so daß ich Berge versetzen könnte, und hätte die Liebe nicht, so wäre ich nichts.


    Dieses Thema zieht sich durch den ganzen Roman, ja vielleicht durch das ganze Schaffen Fontanes. Zumindest habe ich im „Stechlin“ eine passende Stelle gefunden, die das Thema wieder aufgreift und noch konkreter wird:


    Unsre ganze Gesellschaft (und nun gar erst das, was sich im besonderen so nennt) ist aufgebaut auf dem Ich. Das ist ihr Fluch, und daran muß sie zugrunde gehen. Die Zehn Gebote, das war der Alte Bund; der Neue Bund aber hat ein andres, ein einziges Gebot, und das klingt aus in: ›Und du hättest der Liebe nicht ...‹
    Ja, so sprach Lorenzen«, fuhr Woldemar nach einer Pause fort, ...
    (Theodor Fontane: Der Stechlin. In: Bibliothek X·libris: Theodor Fontane, CD-ROM. München 1996. Seite 306)


    Vielen Dank, dass Ihr mich durch Eure Kommentare auf diese Ebene gestoßen habt:


    Ist das Liebe? Nicht zu bemerken, wie der Partner leidet? (Ingrid)


    Hier liebt eigentlich niemand niemanden. (Polly)


    Ich habe ein bißchen nachgeforscht und bin darauf gestoßen, daß Fontane hier auf den 1. Korinterbrief anspielt. Es stand zwar nicht der Vers dabei, aber ich nehme mal an, er meinte 1. Korinther 13,1 (Maria)


    Maria: Ich habe gesehen, dass Du den „Stechlin“ schon letztes Jahr in die Lesevorschläge aufgenommen hast. Da freue ich mich jetzt schon, wenn wir diesen Roman irgend wann einmal zusammen lesen. (Sicher war es aber gut, vorher „Effi“ zu lesen, der Roman ist ja auch vor dem „Stechlin“ entstanden)


    3. Ebene


    „Effi Briest“ ist ein Gesellschaftsroman. Die preußische Gesellschaft wird ausführlich dargestellt und kritisiert. Insbesondere durch den Wechsel des Handlungsortes wird die Gesellschaft des preußischen Adels in allen Bereichen dargestellt:
    - Berlin, die Hauptstadt mit seinem modernen Beamtenadel (dieser auch durch Baron von Innstetten verkörpert)
    - Hohen-Cremmen mit dem alteingesessenen brandenburgischen Landadel, der vor allem durch den alten Briest verkörpert wird
    - Kessin, mit seinen Vertretern des politisch reaktionären pommerschen Landadels


    und kritisiert:
    - Typisch preußische Tugenden wie Pflichtbewusstsein und Prinzipientreue werden als inhuman dargestellt
    - Werte wie Ehrenkult und Duellpraxis werden als überholt entlarvt
    - Durch die gesellschaftlichen Zwänge, die Natürlichkeit und Emotionalität nicht zulassen, kommt es zu einem Entfremdungszustand, in dem inbesondere Frauen, zu Opfern des Systems werden, wenn sie nicht wie Frau von Briest (die Mutter) oder Johanna, das System so verinnerlichen, dass sie selbst zu Tätern werden.


    4. Ebene


    „Effi Briest. Ein Leben nach christlichen Bildern“ heißt ein Buch von Peter-Klaus Schuster. Diesen Titel habe ich gerade entdeckt. Das Buch gibt es aber bei Amazon nicht mehr und beim ZVAB noch nicht, so dass ich jetzt erst mal in Büchereien auf der Suche bin. Ich stelle mir aber diese Ebene so vor: Ähnlich wie Joyce im Ulysses Bilder aus der Odyssee aufgreift, lässt Fontane Bilder aus der Bibel in „Effi Briest“ entstehen. (Verkündigung Marias und Verführung Evas haben wir ja schon erkannt). Dabei können die verschiedenen Protagonisten des Romans in den verschiedenen Bibelbildern auch unterschiedliche Rollen annehmen. Und wahrscheinlich gilt hier auch, was Steffi über das Verhältnis von Joyce zu Homer einmal postete:
    „Aber du darfst dir nicht vorstellen, dass Joyce (Fontane) dies 1:1 umsetzt, er interpretiert, analysiert, ironisiert ...“
    (Peter-Klaus Schuster, ist übrigens kein „Spinner“, sondern studierter Germanist und Philosoph, international anerkannter Kunsthistoriker und seit 1999 Generaldirektor der Staatlichen Museen Berlin und Leiter der Berliner Nationalgalerie).



    *Die Wertung der 1. Ebene haben wir meiner Meinung nach noch nicht ausdiskutiert. Da wir ja jetzt alle mit dem Roman durch sind, will ich folgende Fragen, wenn diese auch zum Teil schon angesprochen wurden, nochmals stellen:


    War Effis Ehe von Anfang an zum Scheitern verurteilt?
    Wieso der Ehebruch mit Crampas, der doch noch älter als Instetten war?
    Wäre auch ein Ehebruch mit Dagobert denkbar gewesen?
    Hätte Instetten nicht weiter mit Effi leben können?
    Wer hat Schuld an Effis Ende?


    Liebe Grüße


    Hubert

  • Hallo zusammen


    vielen Dank noch für dein Herauskristallisieren der verschiedenen Ebenen.
    Auf einiges sind wir selbst gekommen, ist schon toll. Als "Nachlese" finde ich in "Fontanes Welt" von Helmuth Nünberger Anhaltspunkte, daß Fontane sehr viel Kindheitserinnerungen in Effi Briest miteinfließen ließ.


    Der Umzug der Familie Fontane nach Swinemünde hat seine Liebe zu nordischen Sagen geweckt. Die Schiffe beflügelten seinen Geist für fremde Welten wie China....!


    sogar kleine Gesten verarbeitete er in Effi Briest. Als seine Eltern sich trennten schrieb er in "Meine Kinderjahre": ...ich armes Kind stand, an der Tischdecke zupfend, verlegen neben ihm und sah, tief erschüttert, auf den großen, starken Mann, der seine Bewegung nicht Herr werden konnte...


    dieser Griff nach der Tischdecke erinnert an die kleine Annie bei der Begegnung mit ihrer, von der Welt schuldig gesprochenen Mutter.


    Es ist noch mehr von Fontane in Effi vorhanden als wir glaubten, aber in der Zwischenzeit schon überzeugt sind.


    Ich werde in den nächsten Wochen weiterhin Kapitelweise in "Fontanes Welt" lesen, so ganz kann ich mich noch nicht von ihm trennen. Auch wenn ich an diesem Wochenende mit Shakespeare anfange.


    Hubert:
    War Effis Ehe von Anfang an zum Scheitern verurteilt?


    Für die damalige Zeit, hätte evtl. das Arrangement funktionieren können, und wenn auch nicht sonderlich glücklich, so hätte Effi und Geert, die beide Eigenliebe besaßen, eine Chance gehabt.


    Wieso der Ehebruch mit Crampas, der doch noch älter als Instetten war?


    ich bin immer noch überzeugt davon, daß sie da hinein gestolpert ist, aus Angst, Alleinsein, Schmeicheln ihres Egos hat das begünstigt.


    Wäre auch ein Ehebruch mit Dagobert denkbar gewesen?


    nur wenn er reifer und beruflich erfolgreich gewesen wäre, denke ich mal.


    Hätte Instetten nicht weiter mit Effi leben können?


    meines Erachtens schon.


    Wer hat Schuld an Effis Ende?
    das ist mir ein "zu weites Feld" ;-)


    Liebe Grüße und den anderen noch viel Spaß bei "Alexis Sorbas". Ich lese fleißig eure Beiträge :)


    LG Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Ihr Lieben,


    Effi beschäftigt mich tatsächlich immer noch sehr stark. Das habe ich Euch zu verdanken, denn ohne die Diskussionen mit Euch wäre mir so viel verborgen geblieben. Dafür möchte ich Euch hier einmal einen sehr herzlichen Dank aussprechen. Es macht mir große Freude, mich mit Euch austauschen zu können.


    Hubert: Ich dachte, Flaubert hat die Bovary nach seiner Geliebten gezeichnet. War sie denn eine Ehebrecherin? Übrigens finde ich nicht, dass er Emma oder Fontane Effi mit einem „Glorienschein“ versehen hat. Jedenfalls nicht als Ehebrecherin. Beide Autoren stellen uns sehr liebenswerte Frauen vor, meinetwegen mit „Glorienschein“, die irgendwann zu Ehebrecherinnen werden, dafür aber doch auch „bezahlen“. Es wird doch dadurch deutlich, dass Ehebruch nicht lohnt.


    Mein Widerspruch auf die Innstetten – Gottvater-These galt eigentlich Maria. Aber Hubert hat es ja inzwischen vorbildlich erklärt, dem kann ich nichts hinzufügen.


    Hubert: Wo ist der erwähnte Link zur „Allegorie des Chinesen“? Ich finde ihn nicht.


    War Effis Ehe von Anfang an zum Scheitern verurteilt?


    Ja, meiner Meinung nach war sie das.


    Im 4. Kapitel unterhalten sich Effi und ihre Mutter.
    Effi sagt: „Aber kannst du dir vorstellen, und ich schäme mich fast, es zu sagen, ich bin nicht so sehr für das, was man eine Musterehe nennt.“
    Und etwas später: „Nein, Mama, das ist mein völliger Ernst. Liebe kommt zuerst, aber gleich hinterher kommt Glanz und Ehre, und dann kommt Zerstreuung – ja, Zerstreuung, immer was Neues, immer was, dass ich lachen kann oder weinen muß. Was ich nicht aushalten kann, ist Langeweile.“
    Weiter erklärt Effi – immer noch im gleichen Kapitel – dass sie alle liebe, die es gut mit ihr meinen und sie verwöhnen, und schließlich gesteht sie der Mutter, dass sie sich vor Innstetten fürchte.


    Natürlich, rein hypothetisch hätte es anders laufen können. Aber nur unter der Vorausstzung, dass Innstetten einfühlsamer und Effi weniger egozentrisch veranlagt gewesen wären.


    Wieso der Ehebruch mit Crampas, der doch noch älter als Instetten war?


    Das Alter spielt dabei keine Rolle. Crampas war ja wohl der Verführer schlechthin, immerhin eilte ihm dieser Ruf bereits voraus. Und er war für Effi, die sich nicht zu Unrecht – wie ich finde – vernachlässigt fühlte und bei Innstetten wohl auch nach Bismarck rangierte, die willkommene Zerstreuung.


    Wäre auch ein Ehebruch mit Dagobert denkbar gewesen?


    Ja, zu dem Zeitpunkt, als es zum Ehebruch kam, war Effi so frustriert, dass beinahe jeder Nicht-Langweiler eine Chance gehabt hätte. Nur war Dagobert weit weg, Crampas aber war vor Ort.
    Im Gegensatz zu Maria glaube ich nicht, dass seine Jugend oder der noch fehlende berufliche Erfolg dabei eine Rolle gespielt hätte. Ob Dagobert die erforderliche Raffinesse dazu gehabt hätte, weiß ich allerdings auch nicht.


    Hätte Instetten nicht weiter mit Effi leben können?


    Natürlich hätte er weiter mit ihr leben „können“, aber doch nur unter der Prämisse, dass er die Erkenntnisse, die er gegen Ende des Romans hatte, nach dem Brief Roswithas, schon damals gehabt hätte. Er hat sich die Sache mit dem Duell und der Trennung von Effi ja nicht etwa leicht gemacht, das Gespräch mit Wüllersdorf im 27. Kapitel belegt uns das. Sogar zu diesem Zeitpunkt sagt er, dass er Effi noch liebe. Aber seine „Grundsätze“, die Effi schon im 4. Kapitel als furchterregend erlebt, hindern ihn.


    Wer hat Schuld an Effis Ende?

    Ja, Maria, das ist in der Tat ein „weites Feld“!


    Ich glaube, dass wir Huberts Frage umschreiben müssen in „Was ist Schuld an Effis Ende?“, denn einer einzelnen oder auch mehreren Personen die Schuld zuzuweisen, diesen Ausweg hat Fontane uns nicht gelassen.


    Schuld ist die mangelnde Liebe und Menschlichkeit der Personen.

    Schuld ist die Unreife Effis, die sich von einem Mann verführen lässt, den sie genauso wenig liebt wie Innstetten, und die nach dem Ehebruch noch so dämlich ist, die Beweise dafür im Nähkasten aufzubewahren.


    Schuld ist die Karrieresucht Instettens, der nicht bemerkt, wie sehr seine junge, temperamentvolle Frau leidet, und der, obwohl er glaubt, sie noch zu lieben, sie trotzdem verstößt.


    Schuld ist die schlechte Menschenkenntnis Vater und Mutter Briests, die Effi in eine Ehe geben, in der sie nicht glücklich werden kann, noch dazu zu einem Zeitpunkt, wo sie völlig unfertig ist.


    Schuld ist die Eigensucht Crampas, der Effi benutzt und dann fallen lässt.


    Schuld ist die Zeit der Effi Briest, in der es für eine Frau noch nicht so ohne weiteres möglich war, trotz einer Scheidung glücklich zu werden und ein erfülltes Leben zu führen.


    Schuld ist aber auch Effis Hang zum Tod, der immer wieder leise anklingt (schon beim Schaukeln ein wenig, dann auf den Friedhöfen und am Wasser mehrmals).


    Fontane macht das ganz schön raffiniert, finde ich. Er lässt uns keinen Schuldigen finden am Schluss. Und der Dialog der Eltern an Effis Grab mit der Bemerkung über Rollo setzt noch eins drauf. So als wäre der einzige Mensch in der Geschichte der Hund!


    Liebe Grüße,


    Polly

  • Hallo liebe Mitleserinnen!


    Ich werde in den nächsten Wochen weiterhin Kapitelweise in "Fontanes Welt" lesen, so ganz kann ich mich noch nicht von ihm trennen. (Maria)


    Effi beschäftigt mich tatsächlich immer noch sehr stark. (Polly)


    Es geht mir wie Euch, Fontane und Effi haben mich gepackt und lassen mich noch nicht los. Übrigens entdecke ich, sobald ich den Roman aufschlage, etwas Neues, Interessantes. Vieles erkennt man ja erst, wenn man den Roman zu Ende gelesen hat. Kleines Beispiel: Effis Tod begleitet einem schon von Anfang an im Romantitel: „Effi Briest“, ist nicht der Name der Hauptperson, der wäre „Effi von Briest“ oder „Effi von Innstetten“, sondern ihre Grabinschrift.


    Als "Nachlese" finde ich in "Fontanes Welt" von Helmuth Nünberger Anhaltspunkte, daß Fontane sehr viel Kindheitserinnerungen in Effi Briest miteinfließen ließ. (Maria)


    Das kann ich mir gut vorstellen. Wenn ich recht weiß, hat er ja zeitgleich mit Effi Briest "Meine Kinderjahre" geschrieben. Polly, hattest Du nicht am Anfang gepostet, dass Du „Meine Kinderjahre“ liest? Wenn Ja: Lohnt es sich? Und hast Du da noch weitere Parallelen zu „Effi Briest“ entdeckt?


    Polly:
    Übrigens finde ich nicht, dass er Emma oder Fontane Effi mit einem „Glorienschein“ versehen hat.


    Das war nicht meine Meinung, sondern die Meinung des Staatsanwalts im Verfahren gegen Flaubert. Irgendwo habe ich eine franz. Ausgabe von „Madame Bovary“ in der im Anhang Auszüge der Akten des Verfahrens gegen Flaubert abgedruckt sind. Wenn ich das Buch gelegentlich finde, werde ich Dir Näheres dazu posten. Und bei Effi: Ich frage mich, wie es Fontane geschafft hat, dass wir (und sowohl Frauen wie Männer) die Ehebrecherin sympathisch finden, den betrogenen Ehemann aber unsympathisch, müsste es nicht umgekehrt sein? Ich stehe noch vor einem Rätsel.


    Wo ist der erwähnte Link zur „Allegorie des Chinesen“? Ich finde ihn nicht.


    Zugegeben, es ist ziemlich umständlich und ich glaube ich habe es auch nicht ganz richtig erklärt. Ich versuche es noch mal, aber scheue Dich bitte nicht, wenn es wieder nicht klappt, nochmals nachzufragen.


    1. Schritt: Im Forum „Gemeinsames Lesen – Chronik“ den Thread „TF: Effi Briest“ auswählen und dort in meinem 2ten Posting (vom 17. Juni) den 2ten Link anklicken.
    2. Schritt: Wenn Du jetzt auf der Hauptseite der „Mission Fontane“ bist gibt es auf der linken Seite (ev. runterscrollen) die Auswahlmöglichkeiten: Heutiges, Biographisches, Literarisches usw. Unter Literarisches gibt es drei Auswahlmöglichkeiten: Die Wanderungen, Gedichte, Prosa-Werk. Bitte die letzte Auswahl: Prosa-Werk anklicken.
    3. Jetzt müssten rechts die Romane und Erzählungen von Fontane erscheinen. Bitte runterscrollen (jetzt aber rechts) bis zu „Effi Briest“ und anklicken.
    4. Jetzt müsste u.a. erscheinen: „Download zum Chinesen.“ Du kannst Dir jetzt diese pdf-Datei runterladen oder die 19 Seiten ausdrucken oder auch direkt am Bildschirm lesen.


    Zu den Fragen (und glaubt bitte nicht, ich hätte da fertige Antworten, hmm, ob es die überhaupt gibt?):


    War Effis Ehe von Anfang an zum Scheitern verurteilt?


    Für die damalige Zeit, hätte evtl. das Arrangement funktionieren können, und wenn auch nicht sonderlich glücklich, so hätte Effi und Geert, die beide Eigenliebe besaßen, eine Chance gehabt. (Maria)


    Ja, meiner Meinung nach war sie das.
    Im 4. Kapitel unterhalten sich Effi und ihre Mutter.
    Effi sagt: „Aber kannst du dir vorstellen, und ich schäme mich fast, es zu sagen, ich bin nicht so sehr für das, was man eine Musterehe nennt.“
    Und etwas später: „Nein, Mama, das ist mein völliger Ernst. Liebe kommt zuerst, aber gleich hinterher kommt Glanz und Ehre, und dann kommt Zerstreuung – ja, Zerstreuung, immer was Neues, immer was, dass ich lachen kann oder weinen muß. Was ich nicht aushalten kann, ist Langeweile.“
    Weiter erklärt Effi – immer noch im gleichen Kapitel – dass sie alle liebe, die es gut mit ihr meinen und sie verwöhnen, und schließlich gesteht sie der Mutter, dass sie sich vor Innstetten fürchte.
    Natürlich, rein hypothetisch hätte es anders laufen können. Aber nur unter der Vorausstzung, dass Innstetten einfühlsamer und Effi weniger egozentrisch veranlagt gewesen wären.
    (Polly)


    Ich denke hier auch, wie Maria, dass eine Chance vorhanden war. Die von Dir, Polly, angeführten Beispiele zeigen zwar, dass Effi noch nicht reif für die Ehe war und wahrscheinlich eh nicht die geborene Ehefrau, aber wenn Crampas nicht nach Kessin gekommen wäre?
    Könnte es sein, dass Fontane am Ehepaar Briest zeigt, dass es hätte funktionieren können. Auch Effis Mutter war ja sehr jung als sie den älteren Briest seiner Stellung wegen heiratete. Und ist diese Ehe nicht gutgegangen?
    (Bitte meine Antworten nicht als abschließendes Urteil ansehen, sondern auch nur als Diskussionsbeitrag.)


    Wieso der Ehebruch mit Crampas, der doch noch älter als Instetten war?


    ich bin immer noch überzeugt davon, daß sie da hinein gestolpert ist, aus Angst, Alleinsein, Schmeicheln ihres Egos hat das begünstigt. (Maria)


    Das Alter spielt dabei keine Rolle. Crampas war ja wohl der Verführer schlechthin, immerhin eilte ihm dieser Ruf bereits voraus. Und er war für Effi, die sich nicht zu Unrecht – wie ich finde – vernachlässigt fühlte und bei Innstetten wohl auch nach Bismarck rangierte, die willkommene Zerstreuung. (Polly)


    Wenn Crampas ein junger, feuriger Leutnant gewesen wäre, könnte ich es vielleicht verstehen. Aber Ehebruch um dem Ego zu schmeicheln oder als willkommene Zerstreuung ? – aber welcher Mann versteht schon die Frauen?


    Wäre auch ein Ehebruch mit Dagobert denkbar gewesen?


    nur wenn er reifer und beruflich erfolgreich gewesen wäre, denke ich mal. (Maria)


    Ja, zu dem Zeitpunkt, als es zum Ehebruch kam, war Effi so frustriert, dass beinahe jeder Nicht-Langweiler eine Chance gehabt hätte. Nur war Dagobert weit weg, Crampas aber war vor Ort.
    Im Gegensatz zu Maria glaube ich nicht, dass seine Jugend oder der noch fehlende berufliche Erfolg dabei eine Rolle gespielt hätte. Ob Dagobert die erforderliche Raffinesse dazu gehabt hätte, weiß ich allerdings auch nicht.
    (Polly)


    Reife und beruflicher Erfolg sind wohl Kriterien bei der Wahl eines Ehemannes, aber doch nicht bei der Wahl eines Liebhabers? Ich denke auch, wie Du Polly, dass beinahe jeder bei Effi eine Chance gehabt hätte, trotzdem hoffe ich, dass ein Ehebruch mit Dagobert nicht denkbar gewesen wäre, weil Dagobert ein Ehrenmann war.


    Hätte Instetten nicht weiter mit Effi leben können?


    meines Erachtens schon. (Maria)


    Natürlich hätte er weiter mit ihr leben „können“, aber doch nur unter der Prämisse, dass er die Erkenntnisse, die er gegen Ende des Romans hatte, nach dem Brief Roswithas, schon damals gehabt hätte. Er hat sich die Sache mit dem Duell und der Trennung von Effi ja nicht etwa leicht gemacht, das Gespräch mit Wüllersdorf im 27. Kapitel belegt uns das. Sogar zu diesem Zeitpunkt sagt er, dass er Effi noch liebe. Aber seine „Grundsätze“, die Effi schon im 4. Kapitel als furchterregend erlebt, hindern ihn. (Polly)


    Im Gegensatz zu Euch, kann ich mir ein Zusammenleben der beiden, nach Entdeckung des Ehebruchs nicht vorstellen. Es war ja immerhin nicht ein einmaliges Entgleisen, sondern ein Betrug über einen längeren Zeitraum. So wie Fontane Innstetten beschrieben hat, kann ich mir nicht vorstellen, dass der das je hätte vergessen können.


    Wer (oder Was) hat Schuld an Effis Ende?


    das ist mir ein "zu weites Feld" (Maria)


    Schuld ist die mangelnde Liebe und Menschlichkeit der Personen.
    Schuld ist die Unreife Effis, die sich von einem Mann verführen lässt, den sie genauso wenig liebt wie Innstetten, und die nach dem Ehebruch noch so dämlich ist, die Beweise dafür im Nähkasten aufzubewahren.
    Schuld ist die Karrieresucht Instettens, der nicht bemerkt, wie sehr seine junge, temperamentvolle Frau leidet, und der, obwohl er glaubt, sie noch zu lieben, sie trotzdem verstößt.
    Schuld ist die schlechte Menschenkenntnis Vater und Mutter Briests, die Effi in eine Ehe geben, in der sie nicht glücklich werden kann, noch dazu zu einem Zeitpunkt, wo sie völlig unfertig ist.
    Schuld ist die Eigensucht Crampas, der Effi benutzt (und dann fallen lässt.)
    Schuld ist die Zeit der Effi Briest, in der es für eine Frau noch nicht so ohne weiteres möglich war, trotz einer Scheidung glücklich zu werden und ein erfülltes Leben zu führen.
    Schuld ist aber auch Effis Hang zum Tod, der immer wieder leise anklingt (schon beim Schaukeln ein wenig, dann auf den Friedhöfen und am Wasser mehrmals).
    Fontane macht das ganz schön raffiniert, finde ich. Er lässt uns keinen Schuldigen finden am Schluss. Und der Dialog der Eltern an Effis Grab mit der Bemerkung über Rollo setzt noch eins drauf. So als wäre der einzige Mensch in der Geschichte der Hund!
    (Polly)


    Ja, Maria hat recht, ein sehr weites Feld, aber von Polly bestens bearbeitet. Jeden Satz, ja jedes Wort, das Du zu dieser Frage geschrieben hast, Polly, würde ich mitunterschreiben (nur vier Worte würde ich streichen bei Deinem Urteil zu Crampas. Das er Effi benutzt: Ja, aber er lässt sie ja nicht fallen.) Aber ansonsten hast Du recht. Es gibt keinen Schuldigen. Jeder ist Täter und Opfer zugleich. Schuld ist die mangelnde Liebe und zwar bei den Eltern, dem Ehemann, aber vor allem auch bei Effi.


    Dass Fontane uns keine Antworten gibt und der Text so viele unterschiedliche Antworten zuläßt ist wahrscheinlich der Grund, warum uns der Roman so schnell nicht wieder los und wie ich hoffe auch noch einige Zeit diskutieren läßt.


    Liebe Grüße


    Hubert

  • Guten Morgen zusammen,


    ich glaube, ich bin euch noch einige Antworten schuldig geblieben.


    War Effis Ehe von Anfang an zum scheitern verurteilt?


    Ich denke, nein. Ob es jemals eine glückliche Ehe geworden wäre, steht außer Frage. Wahrscheinlich wäre es eine Ehe geworden, wie es sie zu tausend heute noch gibt und immer gegeben hat: Ein "Nebeneinanderherleben", bei dem man sich nichts zu sagen hat.


    (Und doch, während ich das jetzt schreibe, kommt mir der Gedanke, dass Effi eine solche Ehe nicht mit gemacht hätte, sie hätte diese Langweile nicht ausgehalten, wäre wahrscheinlich erstickt).



    Wieso der Ehebruch mit Crampas, der doch noch älter als Instetten war?


    Ich glaube nicht, dass das eine Frage des Alters ist. Heute und zu jeder Zeit hat es Affairen zwischen Männern und Frauen mit oft erheblichem Altersunterschied gegeben. Es ist meiner Meinung nach vollkommen nachvollziehbar, dass Effi sich in einen Mann verliebt (ich sage nicht einen Mann "liebt"), der ihr all die Aufmerksamkeit und Zuwendung bietet, die sie in ihrer eigenen Ehe vermisst.


    Wäre auch ein Ehebruch mit Dagobert denkbar gewesen?


    Ich denke nein, nicht, solange die Person "Crampas" existiert. Weshalb sollte Effi sich mit ihm begnügen, wenn sie eine weitaus bessere und für sie schönere Beziehung mit einem - denke ich mal - bedeutend attraktiveren Mann haben kann. Dann kommt noch ein Faktor dazu: Effi fühlte sich zu Crampas hingezogen, nicht zu Dagobert. Natürlich war sie frustriert, aber ob man sich aus Frustiertheit dem nächstbesten Mann hingibt, entzieht sich meiner Kenntnis.


    Hätte Instetten nicht weiter mit Effi leben können?


    Nein. Er hätte weiter mit ihr leben können, wenn er seine sämtlichen Prinzipien über Bord geworfen hätte. Ich glaube nicht, dass er es jemals geschafft hätte, Effi zu verzeihen. Vielleicht den Ehebruch an sich, aber nicht die Verletzung seines Ehrgefühls. Er hat sein Spielzeug beiseite gelegt, weil dieses Spielzeug nicht das gehalten hat, was er sich davon versprochen hatte.


    Wer hat Schuld an Effis Ende?


    Wahrscheinlich die Frage, die am schwierigsten zu beantworten ist. Effi ist an der Zeit, in der sie lebte, zerbrochen. Sie war im Grunde genommen immer alleine. Niemand war letztendlich für sie da, hat sie herausgezogen aus ihrer Misere. Sie hat sich selbst aufgegeben. Wie kann man weiterleben, wenn man keine Perspektive mehr hat?


    Ingrid

  • Anfang der Woche habe ich folgendes in der Zeitung gelesen:


    In der Eifel hat ein 30-jähriger Familienvater (ein als ruhig und besonnen geltender Mann) seine beiden Söhne (1 und 3 Jahre alt) und sich selbst erhängt. Grund für die Tat nach ersten Erkenntnissen: Die 24-jährige Ehefrau und Mutter der beiden Kinder, die zur Tatzeit (Samstag auf Sonntag Nacht) nicht zu Hause war, wollte sich von ihrem Mann trennen.


    Wenn ich mich recht erinnere, sind es noch keine 4 Wochen her, seit im Saarland ein 70-jähriger Mann seine 33-jährige Ehefrau, seine beiden 9-jährigen Zwillingstöchter und sich selbst tötete. Vermutetes Motiv: Trennungsabsichten der Ehefrau.


    Und im Mai tötete im Kreis Kusel ein 48-jähriger Mann seine Schwiegermutter, seine Ehefrau, den Freund der Ehefrau und sich selbst (Btw: ich bin kein Bildzeitungsleser)


    Ich frage mich und Euch: Hatte Fontane mit seiner Duellkritik wirklich recht oder wäre es nicht besser, zumindest für solche Fälle, Duelle wieder einzuführen!


    PS: Antworten auch von nicht Mitleser/innen (wie immer) ausdrücklich erwünscht.


    Gruß


    Hubert

  • Hallo liebe Mitleserinnen!


    Ingrid
    vielen Dank, dass Du die Fragen so ehrlich beantwortet hast. Mit Deinen Antworten komme ich, bis auf eine Ausnahme, gut klar, und die musst Du mir gelegentlich noch erklären: Wieso ist ein alter, verheirateter, egoistischer und verantwortungsloser Major für eine Frau attraktiver als ein junger, lediger, zuvorkommender und unterhaltsamer Leutnant?


    @Alle
    Danke, dass Ihr so toll mitgemacht habt! Erstaunlich, zunächst?, dass zumindest bei den ersten 4 Fragen, keine eine einstimmige Antwort erzielt hat. Bei der letzten Frage, waren wir uns ja einig, dass die Schuld nicht einem/r in die Schuhe geschoben werden kann, sondern dass viele Umstände (Gesellschaft, Zeit, Personenkonstellationen, Schatten der Vergangenheit etc ) zusammen kommen mussten – eben ein weites Feld.


    Bei den anderen Fragen, denke ich, ist es auch von Fontane so gewollt, dass wir nicht zu einer einstimmigen Antwort kommen, sonst hätte er uns ja zu einer solchen führen können, aber bei seiner Lebensweisheit wusste er, dass es endgültige Antworten nicht gibt. Mir aber hat es Spaß gemacht und viel gebracht, meine Antworten an Euren nochmals zu überprüfen (ich habe dabei, manchen Abschnitt nochmals nachgelesen) und zumindest in Teilen zu korrigieren. Bevor ihr jetzt aber denkt, die Abfragerei wäre von mir egoistisch gewesen – nein, diese Überprüfung steht euch ja auch offen, und ich denke, wenn ihr die Gelegenheit wahrnehmt, werdet ihr auch die ein oder andere Stelle nochmals neu erleben.


    Liebe Grüße


    Hubert

  • Hallo Zusammen


    ich werde unsere schöne Diskussionsrunde nicht so schnell vergessen. Ich schließe mich Huberts Worten an.


    Euren Lesetipp "Wenn du geredest hättest, Desdemona" bin ich gefolgt und habe mir das Buch gekauft und den Abschnitt über Effi Briest gelesen. Sehr glaubhaft, welche Gedanken Christine Brückner der Effi gibt.


    zu dem Duellieren muß ich sagen, daß das heute m.E. nicht mehr funktioniert. Die Menschen die so ausrasten, haben viel größere Probleme als ein angekratztes Ehrgefühl.


    Viele Grüße in die Runde
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Hallo zusammen,
    hallo Hubert,


    Zitat

    Mit Deinen Antworten komme ich, bis auf eine Ausnahme, gut klar, und die musst Du mir gelegentlich noch erklären: Wieso ist ein alter, verheirateter, egoistischer und verantwortungsloser Major für eine Frau attraktiver als ein junger, lediger, zuvorkommender und unterhaltsamer Leutnant


    Hubert, wenn du eine Frau wärst, :zwinker: :zwinker: hättest du die Frage wahrscheinlich nicht gestellt.
    Effi wollte keinen Spielkameraden, wenn ich es mal so drastisch ausdrücken darf, sie wollte einen Mann. Der Major hatte eben etwas, was dem guten Dagobert so wie ich ihn sehe, restlos gefehlt hat: Charme! Und da war mit Sicherheit auch eine gewisse sexuelle Anziehungskraft, die Crampas ausgestrahlt hat, eben einfach ein Funke, der übergesprungen ist zwischen Effi und ihm. Eine junge unerfahrene Frau mit einer unbefriedigenden Ehe, erliegt bedeutend schneller dem Charme eines erfahrenen Mannes als einem wenn auch noch so attraktiven jungen Mann. :redface:.


    Hubert, du zwingst mich dazu, zu reden, wie in einem Groschenroman :breitgrins: :breitgrins: , weil ich nicht weiß, wie ich es besser erklären kann!


    Liebe Grüße
    von einer total übernächtigten, weil hitzegeplagten
    Ingrid

  • Hallo zusammen


    da wir auch kurz darüber geschrieben haben, daß in Effi Briest auch christliche Bilder zu finden sind, hier noch zur Vervollständigung


    Peter-Klaus Schuster der das Leben der Effi Briest als ein "Leben nach christlichen Bildern" deutete:


    auszugsweise aus dem Buch "Fontanes Welt" Zitat
    -Der Gartenbezirk des Herrenhauses in Hohen-Cremmen dem Hortus conclusus mittelalterlicher Marienleben entspricht, der Symbol der Jungfräulichkeit und Schauplatz der Verkündigung ist. Die christliche Exegese versteht den Garten als Gegentypus zum Paradies, Maria als die neue Eva, die durch ihren heilsgeschichtlichen Auftrag dazu bestimmt ist, die Schuld des Sündenfalls zu sühnen. Es verweist auf traditionelle Marienvorstellungen, wenn wir Effi zusammen mit ihrer Mutter beschäftigt finden, einen Altarteppich herzustellen. Zitat Ende


    Dazu sei auch erwähnt daß Fontane sehr viele Kunstausstellungen in Manchester besuchte und besonders seine Aufmerksamkeit der englischen Präraffaeliten widmete und ausführlich in seinen Schriften Anerkennung zollte.


    man betrachte dazu auch das Gemälde von Dante Gabriel Rossetti, 1849 "Die Mädchenschaft Mariens".


    Darauf finden wir den Beginn der Geschichte Effi Briest.


    The Girlhood of Mary Virgin


    weiter im Zitat:
    Als weitere Stationen werden "Bethlehem", "Geburt, Taufe, Marientod", "Sündenfall", "Passion" und "Erlösung" namhaft gemacht. ...
    Auf christliche Leitbilder hin waren die gesellschaftlichen Vorstellung vom Leben der Frau, von Ehe und Familie ausgerichtet. Sie waren in Fontanes Jahrhundert allerdings immer stärker einem säkularisierten bürgerlichen Ordnungsdenken dienstbar gemacht worden. Fontanes Kritik zielt auf eine Entlarvung der vorgeblich christlichen Leitbilder der Frau als einer Rollenfixierung, deren sich ein in Wahrheit inhumaner, durchaus unchristlicher Verhaltenskodex bediente...Zitat Ende


    Viele Grüße
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Hallo Maria,


    vielen Dank für Deine Mühe. Mit der "Verkündigung" und dem "Sündenfall" lagen wir ja genau richtig. Die anderen Bilder kann ich aber auf Anhieb so noch nicht zuordnen. Muß ich nochmals drüber nachdenken. Zuerst habe ich gedacht, ja genau wie auf dem Rossetti-Gemälde müßte Effi (auch bei einer Verfilmung) aussehen. Aber dann: vom Typ her ja, aber ganz so brav ja wohl doch nicht?


    Liebe Grüße


    Hubert

  • Hallo zusammen


    ich möchte noch gern aus dem Buch "Fontanes Welt" zitieren über den Menschen Fontane:



    "Fontane ist anders, gerade in der deutschen Romantradition sehr anders", hat Henry H. H. Remak das Geheimnis der Fontaneschen Kunst zu fassen gesucht: "Er doziert nicht, er ideolgisiert nicht, er moralisiert nicht, er sentimentalisiert nicht, er vertritt keine >Wahrheit<, er prangert nicht an und verteidigt nicht. Er sieht, er versteht, er stellt dar. Er ist der Mann des >sowohl.... als auch<, des >ja, aber< und >nein, jedoch<. Noblesse oblige. Fontanes Noblesse ist Intelligenz."


    daraus versuche ich persönlich etwas zu lernen. Sicher hatte Fontane seine Fehler, aber mit seinen Romanen hat er sich als Mensch gezeigt.


    Liebe Grüße
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Liebe Effi-Leser,


    soeben habe ich "Effis Nacht" von Rolf Hochhuth gelesen und möchte es Euch empfehlen.


    Als Bühnenmonolog für Marianne Hoppe geschrieben, läßt Hochhuth Elisabeth von Ardenne während einer Nachtwache am Bett eines tödlich verwundeten Soldaten ihr Leben reflektieren.


    So weit ich weiß, hat Marianne Hoppe das Stück nicht mehr aufführen können, was absolut zu bedauern ist, aber es lohnt sich doch, es zu lesen, zumal Hochhuth sehr gewissenhaft recherchiert und z.B. all lebenden Verwandten der Frau von Ardenne gesprochen hat.


    Es fließen auch Kommentare zu berühmten Kritikern von "Effi Briest" ein. So hat zum Beispiel Gottfried Benn sich negativ zu dem Roman geäußert.


    Effis Nacht ist nur ein kleiner Band, erschienen bei Rowohlt, und für uns, die wir Effi lieb haben, meiner Meinung nach ein Bonbon.


    Darüber hinaus ist das Buch das Abbild eines Zeitalters, denn Frau von Ardenne wurde immerhin 99 Jahre alt, hat also einige Epochen miterlebt.


    Liebe Grüße Euch!


    Polly