November 2009: Eugène Sue - Die Geheimnisse von Paris


  • Weil ich nur wenig Wagner gehört habe, das auch mit wenig Vergnügen und nur ein Buch über Wagner und seinen Antisemitismus kenne, mag es sein, dass ich im Kern falsch liege.


    Dass Du Wagner kaum kennst, war klar ...


    Wenn man anfängt, die Kulturschaffenden nach moralisch-biographischen Kriterien zu beurteilen, bleiben in der europäischen Kulturgeschichte nicht mehr so viele übrig. Das fängt beim Demokratiefeind Platon an, geht über den "Mörder" Caravaggio zum Rabenstiefonkel Beethoven etc. Das führt meiner Meinung zu nichts, man soll sich auf die Qualität der Werke konzentrieren. Die wenigsten Künstler (welcher Sparte auch immer) sind "nette" Menschen. Das ist vermutlich sogar eine Schaffensvoraussetzung.


    CK


  • Dass Du Wagner kaum kennst, war klar ...


    :belehr: Quod non est negatum, demonstrare non est necesse.




    Ich habe mich übrigens dazu entschlossen, nach der Beendigung des ersten Bandes der Insel-Ausgabe, erstmal eine Sue-Pause einzulegen.


    Wenn du mit ungelösten Rätseln, offenen Spannungsbögen und im Sande verlaufenden Handlungssträngen leben kannst ... Um 1840 schob man bekanntlich das Sterben auf, um zu erfahren, wie es weiterging. :breitgrins:



    Glückwunsch an die, die es geschafft haben! Eure Fazits (korrekter Plural?) habe ich mit Interesse gelesen. Auch ich bin nach längerer Pause und anderer Lektüre jetzt fertig.


    @ Lost: Ja, das Kapitel Vorbereitung ( XIV, 7) , im Original treffender und sarkastischer La Toilette betitelt - man wird fein gemacht für die Hinrichtung - , ist auch für mich eines der besten Kapitel, wenn nicht das beste des ganzen Romans: Eine wirklich beklemmende Schilderung, mit der Sue die Ungeheuerlichkeit der Todesstrafe veranschaulicht. Interessant, dass er in dieser Szene erstmalig(?) einer handelnden Person in den Mund legt, was er sonst in langatmigen theoretischen Abhandlungen auswalzt: Die Witwe Martial lehnt geistlichen Beistand und Reue ab mit den Worten: Seit dreißig Jahren lebe ich im Verbrechen und um diese dreißig Jahre zu bereuen, gibt man mir drei Tage - und dann den Tod. Habe ich denn die Zeit dazu...?




    Das Ende ist wirklich schrecklich! So ein Courts-Mahler- Geschreibsel muss ich wirklich nicht haben! Und dann Rudolf, der gnädigste Herr, der über allem schwebt. Und als Sahnehäubchen obendrauf wird nun Marienblume doch noch zur Märtyrerin ihres Lebens. Oh Mann ...!


    So empfinde ich das auch. Der mit Epilog betitelte letzte Teil ist eine unsägliche Schnulze! Plötzlich und ohne Not verfällt Sue auf die Idee, das ganze in Briefroman-Form fortzusetzen. Dabei bleibt er seiner Unsitte der endlosen Wiedergabe in wörtlicher Rede treu. Im (fingierten) Brief mutet das noch absurder an. Sue scheint seine Leser in diesem letzten Teil nach den Streifzügen durch die düstere Großstadtwelt mit einer feudalen und klerikalen Heile-Welt- Schmonzette belohnen zu wollen.
    Kurios, was da als deutsch transportiert wird: Abgesehen von den seltsamen, vielleicht für französische Ohren deutsch klingenden Namen (Sainte Hermengilde, den Namen des Klosters, konnte ich nur als Vorort von Montreal ergoogeln) - gibt es literarische Anspielungen auf Schiller, seinen Don Carlos, bei Hofe spielt Franz Liszt auf und lässt Herzen schmelzen ... Der Abstecher in den Brief-Roman für die Episode in Deutschland kommt mir wie eine Anlehnung oder Hommage an Goethes Werther vor. Auch der für Sue untypisch lakonische Schlusssatz scheint darauf hinzudeuten.



    Eine Frage, die sich mir bei der Lektüre immer wieder aufdrängte, war: Warum scheitert Sue hier auf der ganzen Linie ...


    Scheitert? :confused: Scheitern setzt ein Ziel voraus, das man sich steckt und dann eben nicht erreicht. Sues Ziele waren: Missstände anzuprangern, seine Botschaft an den Mann zu bringen , den Leser zu unterhalten, zu fesseln und bei der Stange zu halten, den Bedürfnissen seiner Leser nach Illusion, Sensation, Kompensation, gekrönten Häuptern, Gerechtigkeit now usw. zu entsprechen ... Und er hat diese Ziele erreicht - mit fulminanten Erfolg!



    Was Sue sympathisch macht: Er sieht dieses künsterlische Scheitern nicht nur, er spricht es sogar aus:
    Wenn dieses Werk, das wir gern und ohne Bedenken in künstlerischer Hinsicht als ein schlechtes Buch gelten lassen können, das wir aber in moralischer Hinsicht durchaus für ein gutes Buch betrachten, wenn dieses Werk in seiner kurzlebigen Laufbahn den von uns beschriebenen und gewünschten Anklang findet, so würden wir uns geehrt fühlen. [VIII, 12]


    Diese selbstreferentielle Äußerung, die jetzt übrigens zum fünften Mal in diesem thread zitiert wird, nehme ich - anders als du - nicht für bare Münze. Genau wie die Geheimnisse kein kurzlebiges Werk sind, handelt es sich hier imho nicht - wie es den Anschein hat - um einen künstlerischen Offenbarungseid, sondern um einen mehr oder weniger raffinierten Bescheidenheitstopos, der Widerspruch im Leser hervorrufen soll. Ja, es ist fishing for compliments. Denn ich glaube Sue nicht, dass es ihm nur um die Moral geht. Ebenso wenig, dass ihm der künstlerische Ehrgeiz abgeht. Sue, der vom Abenteuerroman herkommt, will auch als Erzähler reüssieren und das gelingt ihm ja auch. Er weiß, wegen der sozialpädagogischen Sermone reißen ihm die Leser die Fortsetzungen nicht aus der Hand!


    Das einzige Geheimnis, das nach Beendigung des Romans nicht gelüftet ist, ist das seines Erfolgs - bis heute.

  • Wenn du mit ungelösten Rätseln, offenen Spannungsbögen und im Sande verlaufenden Handlungssträngen leben kannst ... Um 1840 schob man bekanntlich das Sterben auf, um zu erfahren, wie es weiterging. :breitgrins:


    Damit kann ich prima leben. Ich habe jetzt eine Woche für 100 Seiten gebraucht. Wenn ich noch langsamer werde, reicht das Buch bis ich sterbe. :zwinker:

    "Es ist die Pflicht eines jeden, es auch auszusprechen, wenn er etwas als falsch erkennt." --- Stefan Heym (2001)


  • Diese selbstreferentielle Äußerung, die jetzt übrigens zum fünften Mal in diesem thread zitiert wird, nehme ich - anders als du - nicht für bare Münze. Genau wie die Geheimnisse kein kurzlebiges Werk sind, handelt es sich hier imho nicht - wie es den Anschein hat - um einen künstlerischen Offenbarungseid, sondern um einen mehr oder weniger raffinierten Bescheidenheitstopos, der Widerspruch im Leser hervorrufen soll. Ja, es ist fishing for compliments. Denn ich glaube Sue nicht, dass es ihm nur um die Moral geht. Ebenso wenig, dass ihm der künstlerische Ehrgeiz abgeht. Sue, der vom Abenteuerroman herkommt, will auch als Erzähler reüssieren und das gelingt ihm ja auch. Er weiß, wegen der sozialpädagogischen Sermone reißen ihm die Leser die Fortsetzungen nicht aus der Hand!


    Deswegen weist er ja auch immer auf seine raffinierten :zwinker: literarischen Stilmittel hin, damit auch jeder merkt, was für ein begabter Schriftsteller er ist!


    finsbury

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • :belehr: Quod non est negatum, demonstrare non est necesse.


    Mag es heißen was es heißt, ich habe es verdient.


    Dabei beurteile ich Wagner keineswegs nur nach seinem Antisemitismus und seiner Musik. Das Gepoltere und Gegeifere auf der Bühne schreckt mich ab. Außerdem kann ich nicht ruhig sitzen und Wagner verlangt ewiges sitzen ;-)


    Der Erfolg von Sue wundert mich allerdings wenig, es ist eben, neben dem sozialkritischen Thema Boulevard im großen Stil. Heute liegen entsprechende Bücher in den Buchwarenhäuser ebenfalls auf den höchsten Stapeln :-(


  • Mag es heißen was es heißt, ich habe es verdient.


    Die lateinische Sentenz war nicht für dich, sondern für den Altphilologen Xenophanes bestimmt. Bedeutung etwa: Was einer schon eingesehen hat, darauf sollte man nicht weiter belehrend herumreiten ...


    Ich finde Wagner z.T. auch unerträglich, aber anders und auf anderem Niveau als Sue. Insofern finde ich auch, dass das nicht zusammenpasst, es wäre wie ... Kaldaunen mit Schlagsahne oder umgekehrt.



    Der Erfolg von Sue wundert mich allerdings wenig. Heute liegen entsprechende Bücher in den Buchwarenhäuser ebenfalls auf den höchsten Stapeln


    Ja, aber die sind vermutlich ohne literarische Bedeutung und morgen vergessen. Ich möchte noch dahinter kommen, warum und inwiefern Sue noch immer Pfeiler unserer aktuellen literarischen Situation ist. (Zitat sandhofer, 2.Dez.)

  • Danke für die Übersetzung Gontscharow :winken: Ich habe es in mein Notizbuch eingetragen. Mahnung und Versuchung :zwinker:


    Kann es sein, dass wir die Wiederentdeckung übeschätzen und der Roman tatsächlich auch vergessen ist?


    Die euphorischen Rezensionen die ich las, lassen mir nur die Wahl zwischen drei Möglichkeiten:


    a) Die Rezensenten sind korrupt und haben sich vom Verlag schmieren lassen
    b) Sie haben das Buch nicht gelesen und kannten nur die Verlagsankündigung
    c) Sie waren etwas verwirrt (milde ausgedrückt)

  • Ich habe jetzt eine Woche für 100 Seiten gebraucht. Wenn ich noch langsamer werde, reicht das Buch bis ich sterbe. :zwinker:


    Ich lese aktuell 5 Seiten die Woche. Und bin älter als Du. Wie lange nach meinem Tod lese ich noch daran? :breitgrins:


    Gerade hat Rodolphie Mme de Harcourt vor einem schlimmen, schlimmen Fehltritt bewahrt und erst noch in den Augen ihres Mannes zum Engel befördert, da tauchen auch schon wieder unsere altern 3 Gauner auf - auf dem Weg zu Fleur-Marie. Hat Sue vergessen, dass der Blinde völlige Angst vor seiner Chouette hatte, da sie ihn, den Blinden, gnadelos übervorteilen würde? Oder geht er einfach davon aus, dass der Leser das schon wieder vergessen hat? Jedenfalls einmal mehr eine völlig unnötige Inkonsistenz.


    Die Pipelets sind bis dato wirklich die besten Figuren im Buch. Hoffentlich tauchen sie noch oft und viel auf ...

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Ich bin endlich auch fertig. Der letzte Teil war nochmal eine harte Geduldprobe, als die Darstellung von Rudolf als Wohltäter auf die Spitze getrieben wird. Schließlich musste er mit seinen mildtätigen Plänen ausgerechnet bei seiner Tochter scheitern, aber das war auch einmal eine gute Tat, die sich nicht mit Geld bewerkstelligen ließ. Marienblume hat mit ihrem Eintritt in die adelige Familie einen ganz anderen Charakter angenommen, mit dem Mädchen vom früher hatte sie nur noch wenig Gemeinsamkeiten. Ich habe selten ein Buch gelesen, in dem ich am Schicksal der Hauptpersonen so wenig Anteil genommen habe.


    Die Beschreibungen der sozialen Brennpunkte waren interessant, aber in der Umsetzung immer hart an der Grenze zur Schnulze. Schön zu sehen, dass es das früher auch schon gab :zwinker:.


    Ich freue mich schon auf ein Buch in "normaler" Länge und mit weniger Dialogen. Ich wusste gar nicht, wie anstrengend so viel Gerede sein kann.


    Grüße
    Doris

  • Hallo zusammen!


    Ich bin noch lange nicht fertig, nein. Aber einerseits habe ich tatsächlich seit einigen Tagen nicht mehr weiter gelesen und andererseits wollte ich mit noch mehr negativen Bemerkungen niemanden mehr am Mitlesen der Leserundenbeiträge hindern. Ich werde jetzt wohl zuerst ein oder zwei meiner andern angefangenen Bücher zu Ende lesen (beide rund 1'000 Seiten gross), und mich dann voll und ganz auf Sue konzentrieren. Wird aber wohl 2010, bis ich so weit bin.


    Grüsse


    sandhofer
    (Zur Zeit voll im antiken Griechenland)

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus


  • In "Der Goldsucher" von le Clezio wird Sues Roman kurz angesprochen und als "unendlicher Roman" charakterisiert..


    Diese Stelle ist mir auch aufgefallen, insbesondere, weil beide Romane so gar nichts miteinander zu tun haben.


    finsbury

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Diese Stelle ist mir auch aufgefallen, insbesondere, weil beide Romane so gar nichts miteinander zu tun haben.


    finsbury


    Interessant ist, dass de Clezio den Roman für erwähnenswert hält, sei es auch nur, um zwei Sichtweisen von Paris zu anzusprechen. Eine gewisse Bedeutung müssen die Geheimnisse also behalten haben.

  • Die meisten Franzosen sind stolz auf ihre große Revolution und auf ihre erkämpften sozialen Errungenschaften, was immer man sich von außerhalb dazu auch denken mag. Selbstverständlich wird dann ein derart sozialkritischer Autor wie Sue im sozialen und kulturellen Gedächtnis der "Grande Nation" verweilen.


    finsbury

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Die meisten Franzosen sind stolz auf ihre große Revolution und auf ihre erkämpften sozialen Errungenschaften, was immer man sich von außerhalb dazu auch denken mag. Selbstverständlich wird dann ein derart sozialkritischer Autor wie Sue im sozialen und kulturellen Gedächtnis der "Grande Nation" verweilen.


    finsbury


    Eine gute Erklärung!


    Vielleicht ist es aber auch nur eine authentische Information, die de Clezio von seiner Tante direkt hat. Im Goldsucher ließt sie ja als junges Mädchen Sues Roman.


  • Eine gute Erklärung!


    Einspruch! Die "große"Revolution kommt in den Geheimnissen ja nun denkbar schlecht weg! Erinnert euch bitte an das 9.Kapitel des zweiten Bandes Der Finger Gottes - eine bitterböse Persiflage der Revolution: Der betrunkene Pöbel probt den Aufstand gegen den Adel in Gestalt von Rudolf von Gerolstein mit Parolen der Revolution:

    Zitat

    "Deine königliche Hoheit?" fragte höhnisch der Knochenmann...
    "Es gibt keine Hoheiten mehr ... es lebe die Charte!" rief Hinkebein und sang den Vers aus der Parisienne: "Volk voran..."


    Hier "fällt "auch der Tschourimann in Treue zu seiner "königlichen Hoheit".


    Und dann die durchgängig positive Darstellung der Religion und des Klerus und eben des Adels! Das müsste nach revolutionärerTradition laizistischen und antifeudalistischen Franzosen erheblich gegen den Strich gegangen sein bzw. gehen.
    :winken: