November 2009: Eugène Sue - Die Geheimnisse von Paris

  • Seit gestern lese ich wieder Sue. Der Anfang des 9. Teils wäre gleich ein Grund gewesen, das Buch sofort wieder irgendwo zu deponieren. Dieses moralinsaure Geschwafel. :entsetzt:

    "Es ist die Pflicht eines jeden, es auch auszusprechen, wenn er etwas als falsch erkennt." --- Stefan Heym (2001)

  • In der zweiten Hälfte nervt Sue seine Leser immer häufiger mit seinen moralisierenden Essays, die nicht mehr Teil der eigentlichen Handlung sind. Weiß jemand, wie diese Teile bei seinen damaligen Lesern angekommen sind? Waren die auch genervt? War das der Grund für das Ende des Romans (Fortsetzungsromane könnte man ja an sich beliebig in die Länge ziehen)?
    Sue fängt ja auch sehr zeitig vor Ende des Romans an, seine Protagonisten über die Klinge springen zu lassen. Tabula rasa. :breitgrins:

    "Es ist die Pflicht eines jeden, es auch auszusprechen, wenn er etwas als falsch erkennt." --- Stefan Heym (2001)


  • In der zweiten Hälfte nervt Sue seine Leser immer häufiger mit seinen moralisierenden Essays, die nicht mehr Teil der eigentlichen Handlung sind. Weiß jemand, wie diese Teile bei seinen damaligen Lesern angekommen sind? Waren die auch genervt? War das der Grund für das Ende des Romans (Fortsetzungsromane könnte man ja an sich beliebig in die Länge ziehen)?


    War es nicht in schon Frankreich Tradition, dass Autoren ihre gesellschaftspolitischen Ansichten in Romanform artikulierten? Voltaire, Rousseau, sind die nicht naheliegende Beispiele? Er hat halt so viele Vorschläge, dass er nicht alle Rodolphe in den Mund legen kann, und für seine angestrebte politische Karriere war es vielleicht auch nützlich selbst zu sprechen. Mit dem Abstand von mehr als 150 Jahren erscheint das nervtötend, ist aber auch nicht schlimmer als zum Beispiel in Fernsehspielen heutzutage transportiert werden.


    Wir konzentrieren uns heute meistens darauf, die Romanwelt der Vergangenheit in Form der Bücher wahrzunehmen, die ihre literarische Bedeutung behalten haben. Vielleicht verstehen wir überhaupt noch nicht, was damals das breite Lesepublikum von erzählender Literatur erwartet hat, wie es Spannung, Entspannung und Erfahrung in den Werken, die damals häufig gelesen wurden, gefunden hat.


    Ich vermute, in den Literaturgeschichten der Zukunft, werden auch viele Autoren nicht erscheinen, die unserer Zeit Diskussionsstoff geliefert haben. Oder meint jemand, dass Dan Brown, Frank Schätzing in einigen Jahrzehnten noch bedeutend sein werden?


    Für mich hat die Lektüre der Geheimnisse auch nur den historischen Aspekt behalten, ohne dass eine individuelle Nähe zur Erzählung zurück geblieben ist, wie es zum Beispiel bei den Abenteuerromenen von Karl May oder den Entdeckerberichten der Fall ist, die noch immer ein Teil meiner Jugend sind und bis in die Gegenwart ausstrahlen.

  • Ich habe es geschafft. Damit ist wohl der letzte Teilnehmer dieser Leserunde über die Ziellinie gestolpert.
    Mein Fazit? Ich werde Karl May in Zukunft mit viel mehr Genuß lesen können. :breitgrins:

    "Es ist die Pflicht eines jeden, es auch auszusprechen, wenn er etwas als falsch erkennt." --- Stefan Heym (2001)

  • Jaqui, auch ich habe das Buch schon vor geraumer Zeit abgebrochen. Seltsam, daß es mir vor Jahren beim ersten Lesen noch gefallen hat. :?:


    BigBen, Glückwunsch zu so viel Durchhaltevermögen!


    Gruß


    josmar

  • Erst heute habe ich erfahren, dass es zu diesem Roman eine fünfteilige Fernsehserie gibt. Sie wurde u.a. 1982 in der ARD ausgestrahlt. Eine Version auf DVD habe ich leider nicht gefunden.

  • Moin, Moin!


    Ein französischer Roman, der vor 50 Jahren weltberühmt war, ein richtiger Reißer und Sensations-Schmöker, ist im Avalun-Verlag in Hellerau in neuer Bearbeitung, mit Bildchen älterer französischer Illustratoren, erschienen: Eugen Sues "Geheimnisse von Paris". Einst ein Welterfolg, dann seiner skrupellosen Sensationsmacherei wegen von aller Welt verurteilt, verstoßen und höchstens noch im geheimen beliebt, steht der alte Unterhaltungsvirtuose Sue nun also wieder da, kaum daß wir ihn glücklich vergessen hatten. Ein Fressen für hoch und nieder, ein überlebensgroßes Kinostück! Errötend greift die gebildete Leserin nach dem Schmöker. Sue ist wieder salonfähig geworden. Im Grunde ist es natürlich dennoch ein furchtbarer Schmarren. (Hesse: Sommerliche Eisenbahnfahrt, 1927)

  • Das Gespräch zwischen Marienblume und dem Pastor ist grauenhaft moralinsauer. Wie kann man einem jungen Mädchen nur so einen Schwachfug einreden? Und die Szene mit der Milchfrau - billig, plakativ, dumm. Ich bin immer wieder drauf und dran aufgrund des moralischen und religiösen Backgrounds das Buch abzubrechen.

    Das war exakt die Stelle, an der ich mich über Sue ernsthaft geärgert habe. Soziale Herkunft wird zum wohlgemerkt moralischen (!) Makel? Und zwar nicht in der Meinung einiger bornierter Idioten im Roman, sondern im Bewußtsein aller Figuren, inkl. der Betroffenen -- und vor allem auch des Erzählers. Später, als da seitenlang um den heißen Brei herumgeschwafelt wird, was denn für ein fürchterliches Geheimnis den Grafen Harville umgebe (und einem schon nach den ersten Zeilen das einfällt, was dann erst elende 20 Seiten enthüllt wird: Epilepsie) und seine - unverschuldete - Krankheit ihm das moralisches Kainsmal auf die Stirn drückt und selbst die kleine Tochter, die die Krankheit geerbt hat, eine unrettbar moralisch Verlorene ist: Also spätestens ab da hab ich nur noch überflogen. Das triefend weinerlich geschilderte Schicksal der Familie Morel? Kurz reinlinsen, blättern, reinlinsen, blättern, ah, Diamanten, ah, Hinkebein plant was, blättern, blättern, Geldeintreiber (gähn - da kommt doch eh gleich Rudolph um die Ecke, blätter, blätter: ah, da isser ja) etc. etc.


    Ich hab jetzt noch rd. 100 Seiten von Bd 1 vor mir. Die werd ich noch hinter mich bringen, aber ob ich Bd 2 auch nur überfliegen werde, bezweifel ich im Moment. Dafür ist mir meine Zeit dann doch zu schade, und ich habe so viele so sehr viel bessere Bücher, die ich noch nicht gelesen habe.


    Und da in diesem Thread gelegentlich auf Karl May verwiesen wurde: In dessen Kolportagewälzern gibt es jede Menge Kitsch, jede Menge unglaubwürdigster Action, unverletzliche Superhelden, Kalenderprüche, Küchenpsychologie, allerlei erbauliche Moralitäten und was zur Kolportage noch so alles gehört. Aber was es meiner Erinnerung nach nicht gibt ist dieser verlogene Dreck, der den moralischen Wert eines Menschen nicht an seinen Handlungen, sondern seiner Herkunft festmacht. May hat nie vergessen, wo er herkam.