November 2009: Eugène Sue - Die Geheimnisse von Paris

  • Hiermit eröffne ich die Leserunde. Mögen wir viel Spaß dabei haben.


    Ich habe schon mal die ersten paar Seiten gelesen. Das Vorwort ist wohl unterschwellig eher als Werbung denn als Warnung gedacht. Und nachdem der Fremde mit den eisenharten Schlägen aufgetaucht ist, warte ich nur noch darauf, daß er sich als Old Shatterhand vorstellt und Winnetou daher geritten kommt. :breitgrins: Man könnte meinen, einen Roman von May in den Händen zu halten.

    "Es ist die Pflicht eines jeden, es auch auszusprechen, wenn er etwas als falsch erkennt." --- Stefan Heym (2001)

  • Man könnte meinen, einen Roman von May in den Händen zu halten.


    Sue war m.W. nachgewiesenermassen eines der Vorbilder von Karl May. May hat ja, genau wie Sue, mehrere quasi-sozialkritische Romane in Fortsetzungen in Zeitschriften publiziert - z.T. sogar mit Sue nachempfundenem Helden. Nicht nur Old Shatterhand. Den geheimnisvollen Fremden als Rächer der Enterbten gibt's tatsächlich auch bei May. :zwinker:


    Ich habe noch nicht mit dem eigentlichen Text begonnen, gestern nur das Vorwort gelesen, wo der Roman und Sue ein bisschen verortet wurden. Was ich auch nicht wusste: Dass Sue im damaligen Literaturbetrieb wirklich verwurzelt war. Ein Dandy, der sein ganzes Geld verjubelt und nun sein Hobby zu seinem Beruf machen muss - fast wie Balzac, mit dem er übrigens befreundet war. Les Mystères de Paris galten seinerzeit als ernsthafter Beitrag zur sozialen Frage, Sue als Sozialist.

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • BigBin: Du hast eine Gemeinheit begannen. Old Shatterhand hatte ich mir schon reserviert :grmpf: :zwinker:
    Aber es liegt ja wirklich auf der Hand. Das Geheimnis Rudlolfs auf der Rückseite des Buchs zu enthüllen, halte ich für ein Missgeschick des Verlags. Nächstens werden dann auch bei Krimis die Mörder schon verraten.


    Ich lese auch die Ausgabe des Insel Verlags

  • sandhofer: Welche Ausgabe liest Du? In der Insel-Ausgabe, die ich lese, ist nur das 2-seitige Vorwort von Sue selbst.


    Eugène Sue: Les Mystères de Paris, vollstädnige kommentierte Ausgabe. Herausgegeben und eingeleitet von Judith Lyon-Caen. Enthält auch verschiedene Kritiken (u.a. von Sainte-Beuve), die vatikanische Indexierung, und andere Sekundärtexte. Erschienen 2009 in Paris bei Gallimard. 1 Band, 1316 Seiten, 21 Dokumente.

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  • Hallo,


    so ein Ärger, nun ist mir mein Beitrag abgestürzt. Deshalb hier nur noch kurz:


    Ich begann heute Nacht mit der Lektüre und habe die ersten 100 Seiten hinter mir. Der Roman liest sich wie Butterschmalz in der Pfanne.


    Den Vergleich mit Karl May kann ich gut nachvollziehen, nicht nur wegen der wirbelnden Fäuste, sondern auch wegen Mays ähnlich gelagertem sozialem Anspruch, wie er sich im Vorwort zu Winnetou I artikuliert.


    Die große Bedeutung dieses und anderer Werke Sues für die vorbereitende Stimmung der 48er Revolution wurde mir auch erst bewusst, als ich mich in Vorbereitung dieser Lektüre mit der französischen Literaturgeschichte in dieser Zeit beschäftigte. So eine Macht hat Literatur bei uns heute nicht!


    Die Übersetzung Helmut Kossodos in der Neuauflage bei Insel erscheint mir reichlich zopfig: Es wäre besser gewesen, die Eigen- und Spitznamen der Figuren auf Französisch und Rotwelsch - vielleicht mit einer kleinen Anmerkung - stehen zu lassen. Bei Marienblume, Schallerin und Tschurimann wird mein Sprachempfinden keinesfalls positiv angesprochen.


    Ich glaube, wir werden dennoch viel Spaß an dieser farbigen Lektüre haben!


    Schönen Sonntag


    finsbury

  • Ein paar Seiten habe ich auch schon hinter mir, da ich aber nie was von Karl May gelesen habe, kann ich bei dem Thema nicht mitreden :breitgrins:


    Bisher gefällt mir die Stimmung im Buch ganz gut und ich bin auch gespannt wer der Unbekannte ist.
    In der Insel Ausgabe sind die einzelnen Wörter erklärt, was ich gut finde, denn ich hätte nicht gewusst was eine Schallerin, ein Tschurimann oder ein Neugieriger ist.


    Katrin

  • Ich habe noch nicht mit dem eigentlichen Text begonnen, gestern nur das Vorwort gelesen, wo der Roman und Sue ein bisschen verortet wurden. Was ich auch nicht wusste: Dass Sue im damaligen Literaturbetrieb wirklich verwurzelt war. Ein Dandy, der sein ganzes Geld verjubelt und nun sein Hobby zu seinem Beruf machen muss - fast wie Balzac, mit dem er übrigens befreundet war. Les Mystères de Paris galten seinerzeit als ernsthafter Beitrag zur sozialen Frage, Sue als Sozialist.


    Und der "rote Dandy"Sue [z.n.Jean Tulard, Frankreich im Zeitalter der Revolutionen] wurde sogar 1850 ins Parlament gewählt, zur Zeit, als die Linke deutliche Siege errang. Die Börsenkurse fielen, und es blieb nichts anderes übrig, als die Wahlgesetze zu ändern, um die Linke aufzuhalten. Der Staatsstreich war dann nicht weit.


  • Ein paar Seiten habe ich auch schon hinter mir, da ich aber nie was von Karl May gelesen habe, kann ich bei dem Thema nicht mitreden :breitgrins:


    Die Zeit Winnetous ist auch vorbei :sauer:


    Mal sehen, wie lange sich Harry Potter hält?

  • So, hier auch der obligate Materialienthread - zum Anfangen mal mit den obligaten Wikipedia-Links :breitgrins: :



    [li]Eugène Sue in der deutschsprachigen Wikipedia[/li]
    [li]Eugène Sue in der englischsprachigen Wikipedia[/li]
    [li]last but not least: Eugène Sue in der französischischsprachigen Wikipedia[/li]
    [li]Les Mystères de Paris haben in der französischsprachigen Wikipedia einen eigenen Artikel[/li]


    [hr]
    Einige Szenen übrigens aus Sues späterem Werk Mystères du Peuple (1849) wurden von einem gewissen Maurice Joly geklaut und in sein eigenes, gegen Napoleon III. gerichtetes Pamphlet Dialogue aux enfers entre Machiavel et Montesquieu (1864) eingearbeitet. Ein Preusse namens Goedsche - besser bekannt als Sir John Retcliffe (womit wir wieder im Umfeld vom Abenteuerroman à la Karl May sind) - hat nun wiederum für ein Kapitel seines Romans Biarritz (1868) neben Dumas Père auch Joly beklaut für ein Kapitel, in dem sich Vertreter der 12 jüdischen Stämme auf einem Friedhof treffen und ihre Pläne zu einer sukzessiven Übernahme der Weltherrschaft diskutieren. Direkt von Joly oder via Goedsche taucht das 1869 in einer russischen Broschüre auf, die ihrerseits die Ahnherrin jener infamen Fälschung, der Protokolle der Weisen von Zion, ist. Es ist wohl nicht nötig, zu erklären, dass bei Sue keine Spuren des dort zu Tage tretenden Antisemitismus zu finden sind.

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Hallo zusammen,


    ich habe gestern auch die ersten zwei Kapitel gelesen und schliesse mich finsbury an: Es liest sich wie Wasser! Es fängt auch spannend an, gleich mit einer Schlägerei, nach welcher die beiden Kontrahenten zusammen essen gehen. Abgesehen von der Schlägerei liefert der Anfang dann aber nur Beschreibungen.
    Die Rotwelsch-Ausdrücke sind übrigens auch in der französischen Ausgabe erklärt, und in der Einführung heisst es, dass Sue die Ausdrücke zum Teil falsch brauchte, worauf dann allerdings seine Ausdrucksweise in den allgemeinen Sprachgebrauch übergegangen sei.


    Hat Sue den Text für die Buchausgabe nicht mehr überarbeitet? Im zweiten Kapitel ist mir zum Beispiel aufgefallen, dass bei der Beschreibung der Sängerin plötzlich im Imperfekt erzählt wird, nachdem es im ersten Kapitel unmittelbar nach der Schlägerei ins Präsens gewechselt hatte. Stilmittel oder Nachlässigkeit?
    Wie lang war wohl eine Tagesportion in der Zeitung? Hat jemand einen Hinweis darauf?


    Zitat von "Jaqui"

    Mal sehen, wie lange sich Harry Potter hält?

    Der Hype scheint ja ähnlich gewesen zu sein. Théophile Gautier beschrieb es so (Übersetzung von mir) Ganz Frankreich beschäftigte sich während mehr als einem Jahr mit den Abenteuern des Prinzen Rodolphe, bevor es sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmerte. Kranke warteten mit Sterben, um das Ende der Geheimnisse zu erfahren.


    Winnetou habe ich auch nie gelesen, wir scheinen hier im Forum strikte Geschlechtertrennung zu haben :breitgrins: Vielleicht wären Dumas' Les mohicans de Paris mal ein Ersatz dafür? (einer der Romane, die von den Geheimnissen von Paris inspiriert wurden, wie auch les misérables)


    Gruss, Maja


  • Wie lang war wohl eine Tagesportion in der Zeitung? Hat jemand einen Hinweis darauf?


    Es gibt das 4. Kapitel und die Fortsetzung des 4. Kapitels. Ich vermute, das das ungefähr die Einteilung zeigt.

    "Es ist die Pflicht eines jeden, es auch auszusprechen, wenn er etwas als falsch erkennt." --- Stefan Heym (2001)

  • Théophile Gautier beschrieb es so (Übersetzung von mir) Ganz Frankreich beschäftigte sich während mehr als einem Jahr mit den Abenteuern des Prinzen Rodolphe, bevor es sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmerte. Kranke warteten mit Sterben, um das Ende der Geheimnisse zu erfahren.


    "Kranke warten mit dem Sterben..."


    Gefällt mir sehr gut in diesem Zusammenhang. Ich erinnere mich noch gut an das warten auf dass nächste Asterix Heft.


    Winnetou habe ich auch nie gelesen, wir scheinen hier im Forum strikte Geschlechtertrennung zu haben :breitgrins:


    Könnte auch eine Erfahrung verschiedener Generationen sein. Meiner Tochter haben jedenfalls die Karl May Festspiele gefallen.



    Es gibt das 4. Kapitel und die Fortsetzung des 4. Kapitels. Ich vermute, das das ungefähr die Einteilung zeigt.


    Ca. 10 Buchseiten pro Ausgabe, also dann etwa 200 Fortsetzungen. Kann das sein?


    Über den Inhalt will ich nichts schreiben, um die Spannung nicht zu verderben. Sue ist aber ein geschickter Serienschreiber. Er gibt häppchenweise etwas über seine Figuren preis und sorgt regelmäßig für Rätsel. Es fehlen lediglich die Werbepausen und die eine dramatische Steigerung der Filmmusik. :breitgrins:

  • Zitat von "Lost"


    Ca. 10 Buchseiten pro Ausgabe, also dann etwa 200 Fortsetzungen. Kann das sein?


    Tönt plausibel. 16 Monate lang fast täglich... Müsste sogar etwas mehr geben.


    Zitat von "Lost"

    Über den Inhalt will ich nichts schreiben, um die Spannung nicht zu verderben.


    Vergiss nicht, wir sind hier im Klassiker-Forum, und da wird häufig vorausgesetzt, dass der Inhalt bekannt ist, und man nicht primär wegen der Spannung liest! Also keine Zurückhaltung in dieser Hinsicht...


    Zitat von "Lost"

    Sue ist aber ein geschickter Serienschreiber. Er gibt häppchenweise etwas über seine Figuren preis und sorgt regelmäßig für Rätsel. :breitgrins:


    Wie weit bist bist Du? In Kapitel 3 wird Fleur-de-Maries Vergangenheit sehr ausführlich erzählt, und Rätsel sind bisher eigentlich noch keine aufgetaucht. Was mich erstaunt, denn ich hatte erwartet, dass man die Unterbrüche an spannenden Stellen deutlicher erkennt.

  • Sue ist aber ein geschickter Serienschreiber. Er gibt häppchenweise etwas über seine Figuren preis und sorgt regelmäßig für Rätsel.


    Er war - gemäss meinem Vorwort - offenbar der erste Autor, der die durch die Serialisierung notwendigen Unterbrechungen nicht einfach hinnahm, sondern aktiv verwertete, indem er immer Mini-Cliffhangers einbaute, um die Leute bei der Stange zu halten.

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Mittlerweile habe ich die ersten sieben Kapitel (circa Seite 100) gelesen und das Buch liest sich wirklich sehr locker und flockig. Man erfährt einiges über die Zustände in Paris der damaligen Zeit, was ich sehr interessant finde.


    Die Schallerin habe ich mittlerweile fast ein bisschen lieb gewonnen, dagegen haben die Eule und der Schulmeister bereits jegliche Sympathien verspielt. Rudolf ist für mich eine schwer einzuschätzende Person - anscheinend sind ja ein paar Leute hinter ihm her, fragt sich nur warum.


    Die kleinen Cliffhanger am Ende eines Kapitels finde ich nicht schlecht, animieren sie einem doch gleich zum Weiterlesen.


    Katrin

  • Hier ein kurzer Auszug über das Umfeld des Romans aus: Jean Tulard, Geschichte Frankreichs Bd.4, Frankreich im Zeitalter der Revolutionen 1789 - 1851, Deutsche Verlags-Anstalt 1989


    „Diese Erkenntnis [dass mit der Industrialisierung Frankreichs ein neues Problem entstanden war, das Arbeiterproblem. lost] verwandelte sich in Panik, als 1840 ein seriöser Beamter namens Frégier mit seiner Schrift „Des classes dangereuses de la population dans les grandes villes et des moyens de les rendre meilleures“ („Über die gefährlichen Klassen der Bevölkerung und die Mittel, diese zu verbessern“) ein Alarmsignal setzte. Er beschrieb darin eine kriminelle Klasse, die sich in Paris gebildet hatte und die Sicherheit von Personen und Eigentum bedrohte. Balzac schätzte damals die Welt der Zuchthäuser und Gefängnisse auf 60000 Personen, 63000 gefangene behauptete Frégier. Horace Raisson schätzte die Zahl in seiner „Histoire de la police“ („Geschichte der Polizei“) dagegen nur auf 30000. Der Polizeipräfekt Gisquet wiederum weigerte sich überhaupt, eine Zahl anzugeben.

  • Guten Abend :smile:


    ich schaue nur kurz vorbei, bevor auch ich mit der Lektüre beginne. Ich lese die gleiche Ausgabe wie sandhofer, allerdings bei weitem nicht so schnell wie ihr…


    Karl May und Winnetou sind mir auch kein Begriff, nur die Namen höre ich ab und zu. Bei mir ist das keine Gender-Frage sonder eine der Sozialisierung in Frankreich; wir lasen andere Jugendbücher.


    Grüsse


    Babur