Lest ihr nach einem Klassikerkanon?

  • Das ist sicher auch ein sehr interessantes Thema, wobei ich ja der Meinung bin, dass ein Kanon immer etwas sehr Subjektives ist. Lässt man zehn Leute einen Kanon machen, haben wir zehn verschiedene Listen.


    Subjektiv nur bedingt. Da ein Kanon per definitionem eine verbindliche Vorschrift ist, ein allgemeingültiger Massstab, werden Kanones meist schon im voraus durch eine Gruppe festgesetzt, nicht durch einzelne. Im speziellen der Klassikerkanon ist natürlich eine durch Jahrhunderte gewachsene Liste. Immer wieder modifiziert, das ist klar. Es kommen Autoren hinzu, es fallen welche weg. Es ist, wie wenn Du Hartholz sandstrahlst: Die Konturen, das allerhärteste Holz, treten immer deutlicher hervor. Das Weiche, Schwammige fällt weg.

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Ich stelle mir einen Kanon vor, der wie ein Stammbau aufgebaut ist, so wie man gerne die Evolution darstellt. In diesem Baum würden Äste nach formalen, inhaltlichen, thematischen Kriterien verzweigen, und als Blätter würden die jeweiligen Werkbeispiele dienen. Man könnte erkennen, auf welche Vorläufer sich die bedeutenden Werke zurück führen lassen, einige Zweige würden im Nichts enden, so wie es bei ausgestorbenen Lebewesen der Fall ist, und es ließe sich erkennen, welche Werke, in der jeweiligen Zeit Bedeutung und Verbreitung hatten. Um im Bild zu bleiben, das uns Sandhofer beschrieben hat: solch ein Kanon würde uns zeigen woher das harte Holz stammt, ohne uns das weiche zu verschweigen.


    An so einem Kanon könnten auch Laien wie ich die Pfade der Literaturgeschichte verfolgen und die entsprechende Lektüre auswählen.
    Aber die Literaturwissenschaftler werden wahrscheinlich denken, hier würde mit einem Kanon auf Spatzen geschossen :zwinker:

  • Solche Listelisten machen mir auch Spaß und ich orientiere mich auch an ihnen. Aber man kann die nicht so einfach weglesen. Im Jahr einige, wenige Werke kann man schaffen, zwischendurch braucht man auch etwas anderes. Das muss nicht seichter sein, aber gehört vielleicht nur zur zweiten Reihe der Kanon-Werke. So wie man nicht nur Trüffel essen kann, halte ich Kanon-Werke alleine nicht aus. Und ab und zu finde ich es spannend, in die aktuelle deutschsprachige Literatur reinzulesen. Ich gewinne so ein besseres Gefühl von Literatur. Wenn ich mich wirklich auf die Kanon-Werke alleinig konzentrieren könnte, dann wäre ich wohl Lit-Prof geworden :breitgrins:


    Gruß, Thomas


  • 60 Bücher im Jahr, aber mehr als 1 "schwergewichtigen" Klassiker je Monat halte ich nicht aus, eher noch weniger. Aber bei einer Liste mit 100 "schwergewichtigen" Klassikern hat man diese auch in 20 Jahren abgelesen.


    Nach dem Genuss eines schwergewichtigen Klassiker brauche ich immer etwas seichtes zum Entspannen. Immerhin kann man nicht immer auf Hochtouren laufen und ab und zu liebe ich es mich hinzusetzen und mich von der Geschichte einfach nur berieseln zu lassen - wie bei einer Sitcom. :breitgrins:


    Eine Liste von 100 Klassikern dürfte im Leben wirklich zu schaffen sein.


    Katrin

  • Ich kenne nichts Entspannenderes ... Wenn mir nach was Seichtem zumute ist, hole ich einen frühen oder mittleren Dickens hervor ... :breitgrins:


    Ist vielleicht eine Altersfrage. Ich mag auch Hamburger oder fettige Würste zusehends weniger ... :zwinker: :breitgrins:

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus


  • Ist vielleicht eine Altersfrage.


    Bei mir definitiv. Vor einigen Jahren konnte ich mir nicht vorstellen, dass ich in meiner Freizeit Klassiker lese - immerhin muss man da nachdenken (nicht dass man bei anderen Romanen nicht auch nachdenken muss, aber bei einem Fantasy-Roman geht es vordergründig um die Handlung und nicht um Sätze, die bei näherer Betrachtung einen anderen Sinn ergeben - ich hoffe ihr versteht was ich meine) und heute kann ich mir gar nicht mehr vorstellen einen Fantasy-Roman nach dem anderen zu verschlingen. Jetzt brauche ich auch was tiefsinniges und was zum Nachdenken dazwischen.


    Ich denke nicht, dass ich je aufhören werde SF Romane oder Historische zu lesen, aber mein Konsum an Klassikern steigt von Jahr zu Jahr. Vielleicht weil am Ende mehr bleibt als irgendeine Handlung und Figuren, die man schon zu Hunderten woanders gelesen hat.


    Katrin

  • Von der Zeit wurde mal eine "Bibliothek der 100 Bücher" herausgegeben (von F. J. Raddatz), in die ich immer wieder gern hineingucke, weil ich die Artikel zu den 100 Klassikern zum großen Teil sehr ansprechend finde. Ich lese die Liste aber nicht ab, sondern lasse mich treiben von einem Interessencluster zum nächsten. Aber einiges habe ich aufgrund der dortigen Anregungen schon gelesen.

  • In den paar Kanons die ich bei mir finde, auch in denen im Internet, wird sehr häuft die Bibel aufgeführt.


    Ich will ja nicht die Bedeutung dieses Buchs für die abentländische Kultur in Frage stellen, aber kann man die Bibel nicht auch als zusammengeschusterte Textsammlung, aus teilweise fragwürdigen Quellen, aus der Spätantike betrachten? Wäre es nicht gerechter, in einen Kanon die Tora, das neue Testament, die Psalmen und von mir aus einige der Briefe getrennt aufzunehmen?
    Hat hier die Unterdrückung jüdischer Wurzeln im Christentum auch die Literaturgeschichte mit beeinflusst?

  • Zitat

    Die Bibel: iss für mich n unordentliches Buch mit 50000 Textvarianten. Alt und buntscheckig genug, Liebeslyrik, Anekdoten, das ist der Ana der in der Wüste die warmen Quellen fand, politische Rezeptur; und natürlich ewig merkwürdig durch den Einfluß, den es dank geschickter skrupelloser Propaganda und vor allem durch gemeinsten äußerlichen Zwang, compelle intrare, gehabt hat. Der ‹Herr›, ohne dessen Willen kein Sperling vom Dache fällt oder 10 Millionen im KZ vergast werden: das müßte schon ne merkwürdige Type sein – wenn’s ihn jetzt gäbe!


    Arno Schmidt, Seelandschaft mit Pocahontas

  • Arno Schmidt, ja. Der nun seinerseits eine Art Anti-Kanon führte. Wir haben hier ein paar der Werke daraus schon gemeinsam gelesen. Schmidts Anti-Kanon heilt einen jedenfalls von der Vorstellung, es könne und müsse mehr als ein oder zwei Werke geben, die im Laufe der Jahrhundete zu Unrecht aus dem Kanon gestrichen worden sind oder es gar nie hinein geschafft haben ...

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus


  • Da habe ich drüber weg gelesen, und es ist ins Unterbewusstsein eingedrungen.



    Arno Schmidt, ja. Der nun seinerseits eine Art Anti-Kanon führte. Wir haben hier ein paar der Werke daraus schon gemeinsam gelesen. Schmidts Anti-Kanon heilt einen jedenfalls von der Vorstellung, es könne und müsse mehr als ein oder zwei Werke geben, die im Laufe der Jahrhundete zu Unrecht aus dem Kanon gestrichen worden sind oder es gar nie hinein geschafft haben ...


    Auch wenn Schmdt etwas skurrile Vorlieben hatte, konnte er sie geistreich und gewitzt präsentieren. Seine Scheuklappen waren ja auch breit eingestellt, und "offroad" lesen bringt auch neue Einsichten.

  • Seine Scheuklappen waren ja auch breit eingestellt,


    Auf die Gefahr hin, auch von Giesbert noch eins auf den Deckel zu kriegen: Nein. Seine Auswahl ist interessant, aber:


    a) Weist er definitiv eine Vorliebe auf für Romanciers, häufig für riesige Romane. Unter 1'000 Seiten kann er fast nichts empfehlen.
    b) Verachtet er nachgerade die Lyriker
    c) Liebt er nur, was irgendwie nach "Realismus" aussieht


    Man hat immer den Eindruck, Schmidt sucht ums Verr... Autoren und Werke, die ausser ihm keiner mehr kennt. Bei Dickens lobt er das Spätwerk, bei Karl May ebenso. Hier kann man ihm zu Gute halten, dass er dies zu Recht getan hat. Andere Autoren oder Werke, das haben wir hier in diversen Leserunden schon festgestellt, hätte er ruhig im Orkus des Vergessens ruhen lassen dürfen ...

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Auch wenn Schmdt etwas skurrile Vorlieben hatte, konnte er sie geistreich und gewitzt präsentieren.


    Yep. Das waren nicht nur Empfehlungen für ein bestimmtes Buch oder einen bestimmten Autor, sondern imho vor allem Werbung für emphatisches Lesen: "Alles, was je schrieb in Liebe und Haß, als immerfort mitlebend zu behandeln".


    Mir ging es bei Schmidt oft so, dass ich, begeistert von seinen Essays, diese Begeisterung bei der Lektüre der empfohlenen Bücher nur selten verspürte. Das ist allerdings nicht nur auf Arno Schmidt beschränkt, sondern häufiger zu beobachten, wenn man einer leidenschaftlichen Empfehlung folgt. Eine mitreißende Begeisterung für etwas verdankt ihre mitreißende Kraft ja nicht dem Gegenstand, sondern der Persönlichkeit dessen, der so mitreißend begeistert ist. Vor dem Buch aber sind wir mit uns allein und der andere, der uns mitgerissen hat, ist nicht dabei.


    Ein anderes Beispiel sind etwas Hans Wollschlägers May-Analysen. Große Klasse - nur wenn ich dann die Karl-May-Bände lese, finde ich den Karl May, von dem HW geschrieben hat, eigentlich nicht mehr wieder.

  • Auf die Gefahr hin, auch von Giesbert noch eins auf den Deckel zu kriegen: Nein. Seine Auswahl ist interessant, aber:


    a) Weist er definitiv eine Vorliebe auf für Romanciers, häufig für riesige Romane. Unter 1'000 Seiten kann er fast nichts empfehlen.
    b) Verachtet er nachgerade die Lyriker
    c) Liebt er nur, was irgendwie nach "Realismus" aussieht


    Man hat immer den Eindruck, Schmidt sucht ums Verr... Autoren und Werke, die ausser ihm keiner mehr kennt. Bei Dickens lobt er das Spätwerk, bei Karl May ebenso. Hier kann man ihm zu Gute halten, dass er dies zu Recht getan hat. Andere Autoren oder Werke, das haben wir hier in diversen Leserunden schon festgestellt, hätte er ruhig im Orkus des Vergessens ruhen lassen dürfen ...


    zu b) Das lässt sich nicht sagen. Er beschäftigt sich einfach nicht mit ihnen und weißt ihnen keine zentrale Bedeutung zu. Das ist keine Verachtung.
    zu c) Bei seiner Vorliebe für das 18. Jahrhundert (Wieland, Insel Felsenburg z.B. ) sehe ich das nicht.


    Aber nun gut: lass ihn eng gestellte Scheuklappen haben, wenigstens hat er den Kopf hin und her gedreht und nicht nur stur geradeaus geguckt.



    Yep. Das waren nicht nur Empfehlungen für ein bestimmtes Buch oder einen bestimmten Autor, sondern imho vor allem Werbung für emphatisches Lesen: "Alles, was je schrieb in Liebe und Haß, als immerfort mitlebend zu behandeln".


    Mir ging es bei Schmidt oft so, dass ich, begeistert von seinen Essays, diese Begeisterung bei der Lektüre der empfohlenen Bücher nur selten verspürte. Das ist allerdings nicht nur auf Arno Schmidt beschränkt, sondern häufiger zu beobachten, wenn man einer leidenschaftlichen Empfehlung folgt. Eine mitreißende Begeisterung für etwas verdankt ihre mitreißende Kraft ja nicht dem Gegenstand, sondern der Persönlichkeit dessen, der so mitreißend begeistert ist. Vor dem Buch aber sind wir mit uns allein und der andere, der uns mitgerissen hat, ist nicht dabei.


    Ein anderes Beispiel sind etwas Hans Wollschlägers May-Analysen. Große Klasse - nur wenn ich dann die Karl-May-Bände lese, finde ich den Karl May, von dem HW geschrieben hat, eigentlich nicht mehr wieder.



    Dem stimme ich zu, auch wenn es, was May betrifft, nur meinem Alter und der Leseerfahrung zuzuschreiben ist.

  • Auf die Gefahr hin, auch von Giesbert noch eins auf den Deckel zu kriegen:


    Aber wo werd’ ich.


    Zitat

    a) Weist er definitiv eine Vorliebe auf für Romanciers, häufig für riesige Romane. Unter 1'000 Seiten kann er fast nichts empfehlen.


    Belphegor. Vogelscheuche. Alethes von Lindenstein. Alles so um die 200, 300 Seiten. – Allerdings steht dahinter natürlich die Mahnung, sich nicht nur auf diese Bücher, sondern das Gesamtwerk zu stürzen.


    Zitat

    b) Verachtet er nachgerade die Lyriker


    Pape. Wieland. – Irgendwo in einem frühen BB steht schon die kleine Beobachtung, dass Schmidt für seine lautstarke Ablehnung der Lyrik verdammt viele Gedichte zitiere.


    Zitat

    c) Liebt er nur, was irgendwie nach "Realismus" aussieht


    Lovecraft. Carroll.


    Zitat

    Man hat immer den Eindruck, Schmidt sucht ums Verr... Autoren und Werke, die ausser ihm keiner mehr kennt.


    Ein Freund von mir meinte mal, der Schmidt habe doch absichtlich solche vergammelten Schinken gewählt, weil er genau gewusst habe, dass ihm da niemand auf die Schliche kommen werde, wenn er sich die Sachen so hindreht, wie er sie braucht. Das kannte ja keiner 8-). Und da Schmidt die Sachen so präsentierte, als seien das echte Schätze, hat man ihm halt alles geglaubt. Bis man das mal irgendwann in die Finger bekam, begierig las und bei fortschreitender Lektüre immer enttäuschter wurde. Hackländer zB spielt in AmG eine große Rolle. Nach Erscheinen des Romans zogen die Hackländer-Preise in den Antiquariaten kräftig an. Ein paar Monate später kamen die ganzen Ausgaben wieder in die Antiquariate zurück, weil die meisten Leute das als langweilig und unlesbar empfanden.