Gustav Meyrink

  • Liebes Forum,


    in wenigen Tagen, am 4. Dezember, jährt sich Gustav Meyrinks Todestag zum 75. mal. Aus diesem Anlass hier ein kleiner Ausschnitt aus dem „Golem“ von 1915, seinem wohl bekanntesten Werk und einem Schlüsselroman der expressionistischen Literatur. Meyrink beschreibt das alte Prager Judenviertel und dessen Bewohner:


    „Ich [...] musterte die mißfarbigen Häuser, die da vor meinen Augen wie verdrossene alte Tiere im Regen nebeneinander hockten. Wie unheimlich und verkommen sie alle aussahen! Ohne Überlegung hingebaut standen sie da, wie Unkraut, das aus dem Boden dringt. An eine niedrige, gelbe Steinmauer, den einzigen standhaltenden Überrest eines früheren, langgestreckten Gebäudes, hat man sie angelehnt – vor zwei, drei Jahrhunderten, wie es eben kam, ohne Rücksicht auf die übrigen zu nehmen. Dort ein halbes, schiefwinkliges Haus mit zurückspringender Stirn; – ein andres daneben: vorstehend wie ein Eckzahn. Unter dem trüben Himmel sahen sie aus, als lägen sie im Schlaf, und man spülte nichts von dem tückischen, feindseligen Leben, das zuweilen von ihnen ausstrahlt, wenn der Nebel der Herbstabende in den Gassen liegt und ihr leises, kaum merkliches Mienenspiel verbergen hilft.


    In dem Menschenalter, das ich nun hier wohne, hat sich der Eindruck in mir festgesetzt, den ich nicht loswerden kann, als ob es gewisse Stunden des Nachts und im frühesten Morgengrauen für sie gäbe, wo sie erregt eine lautlose, geheimnisvolle Beratung pflegen. Und manchmal fährt da ein schwaches Beben durch ihre Mauern, das sich nicht erklären läßt, Geräusche laufen über ihre Dächer und fallen in den Regenrinnen nieder, – und wir nehmen sie mit stumpfen Sinnen achtlos hin, ohne nach ihrer Ursache zu forschen.


    Oft träumte mir, ich hätte diese Häuser belauscht in ihrem spukhaften Treiben und mit angstvollem Staunen erfahren, daß sie die heimlichen, eigentlichen Herren der Gasse seien, sich ihres Lebens und Fühlens entäußern und es wieder an sich ziehen können, – es tagsüber den Bewohnern, die hier hausen, borgen, um es in kommender Nacht mit Wucherzinsen wieder zurückzufordern. Und lasse ich die seltsamen Menschen, die in ihnen wohnen wie Schemen, wie Wesen – nicht von Müttern geboren, – die in ihrem Denken und Tun wie aus Stücken wahllos zusammengefügt scheinen, im Geiste an mir vorüberziehen, so bin ich mehr denn je geneigt zu glauben, daß solche Träume in sich dunkle Wahrheiten bergen, die mir im Wachsein nur noch wie Eindrücke von farbigen Märchen in der Seele fortglimmen.


    Dann wacht in mir heimlich die Sage von dem gespenstischen Golem, jenem künstlichen Menschen, wieder auf, den einst hier im Getto ein kabbalakundiger Rabbiner aus dem Elemente formte und ihn zu einem gedankenlosen automatischen Dasein berief, indem er ihm ein magisches Zahlenwort hinter die Zähne schob.


    Und wie jener Golem zu einem Lehmbild in derselben Sekunde erstarrte, in der die geheime Silbe des Lebens aus seinem Munde genommen ward, so müßten auch, dünkt mich, alle diese Menschen entseelt in einem Augenblick zusammenfallen, löschte man irgendeinen winzigen Begriff, ein nebensächliches Streben, vielleicht eine zwecklose Gewohnheit bei dem einen, bei einem andern gar nur ein dumpfes Warten auf etwas gänzlich Unbestimmtes, Haltloses – in ihrem Hirn aus.


    Was ist dabei für ein immerwährendes, schreckhaftes Lauern in diesen Geschöpfen! Niemals sieht man sie arbeiten, diese Menschen, und dennoch sind sie früh beim ersten Leuchten des Morgens wach und warten mit angehaltenem Atem – wie auf ein Opfer, das doch nie kommt. Und hat es wirklich einmal den Anschein, als träte jemand in ihren Bereich, irgendein Wehrloser, an dem sie sich bereichern könnten, dann fällt plötzlich eine lähmende Angst über sie her, scheucht sie in ihre Winkel zurück und läßt sie von jeglichem Vorhaben zitternd abstehen.


    Niemand scheint schwach genug, daß ihnen noch so viel Mut bliebe, sich seiner zu bemächtigen: Entartete, zahnlose Raubtiere, von denen die Kraft und die Waffe genommen ist“


    Es grüßt


    Sir Thomas

  • Hallo Sir Thomas,
    hallo zusammen,


    ich habe nun den Golem von Meyrinck gelesen und muß sagen, daß mich das Buch etwas ratlos zurückgelassen hat. Das Buch wird als Schauerroman bezeichnet, ist aber doch viel mehr als nur ein Schauerroman. Es kommen sehr viele Elemente darin vor, die vermutlich tiefenpsychologisch zu deuten sind. Z.B. das Zimmer ohne Zugang, in dem angeblich der Golem haust, und das der Gemmenschneider Athanasius Pernath nach langem Irren durch unterirdische Gänge findet, um dort zwar nicht den Golem zu finden, sondern sich selbst...


    Sehr gut gefallen hat mir die Schilderung der Prager Judenstadt. Meyrink schafft eine Atmosphäre, die sehr dunkel, eng, unheimlich, mystisch und drückend wirkt (Sir Thomas hat ja ein sehr schönes Beispiel zitiert). In der Judenstadt sammeln sich die Armen und Ausgestoßenen der Gesellschaft. Pernath lebt dort, obwohl er kein Jude ist und sich eigentlich eine bessere Bleibe leisten könnte. Mir kam es so vor, als ob dieses dunkle Viertel wie das Unterwußtsein von Prag ist, wo alles Verdrängte haust. Auch die Schilderungen der Bewohner der Judenstadt sind sehr plastisch, man glaubt, sie förmlich vor sich zu haben. Nur beim Trödler Aaron Wassertrum, der als ganz niederträchtiger und gemeiner Mensch geschildert wird, habe ich eher Mitleid als Abscheu empfunden; was aber möglicherweise so beabsichtigt war.


    Ich würde nicht sagen, daß mich dieses Buch begeistert hat, es fasziniert mich eher. Es gibt einem viel zu Denken und beschäftigt einen noch geraume Zeit nach Beendigung der Lektüre.


    Wie hat dir das Buch denn gefallen, Sir Thomas?


    Viele Grüße
    thopas


  • Wie hat dir das Buch denn gefallen, Sir Thomas?


    Hallo thopas,


    wenn ich nicht so ein kleiner Prag-Fan wäre, hätte "Der Golem" mich aufgrund der esoterischen Thematik kaum interessiert. Aber die große Stärke Meyrinks in diesem Buch ist eindeutig das Heraufbeschwören einer Atmosphäre, wie ich sie oben bereits einmal zitiert habe. Wie gesagt: Ein sehr stimmungsvolles, zu Prag passendes Buch, allerdings weit davon entfernt, sich in hohen Platz in meinen Lieblingslisten zu erobern.


    Es grüßt


    Sir Thomas

  • Ich habe mich nach der Lektüre auch gewundert, wie ein so schlechtes Buch so prominent werden kann.


    Mich hat ja immer schon der erste Satz von einer weiteren Lektüre abgehalten: Das Mondlicht fällt auf das Fußende meines Bettes und liegt dort wie ein großer, heller, flacher Stein. :entsetzt:


    Als Übersetzer von Dickens hat ihn, wenn ich mich recht erinnere, Arno Schmidt sehr geschätzt. Soweit ich das anhand eines kurzen Überfliegens der Pickwickier abschätzen kann, wohl nicht zu Unrecht.

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Ja, die sehr atmosphärische Beschreibung von Prag täuscht wohl ein bißchen über die etwas seltsame Handlung hinweg. Ich wußte vor der Lektüre nicht, daß dieses Buch eher in eine esoterische Richtung geht. Deshalb war ich dann auch etwas enttäuscht, daß es kein "richtiger" Schauerroman ist :breitgrins:


    Da Der Golem ja immer als Meyrinks bestes Werk gepriesen wird, stellt sich die Frage, ob man überhaupt noch etwas anderes von ihm lesen soll. Mein Mann hat noch ein Buch mit Erzählungen von Meyrink im Regal. Vielleicht schaue ich da bei Gelegenheit mal rein.


    Ach ja: das mit dem "Stein wie ein Stück Fett" am Anfang habe ich übrigens gar nicht kapiert. Hat mich aber nicht abgeschreckt, weiterzulesen :smile:

  • Hallo zusammen,


    gegen Meyrink habe ich gar nichts, ihm ist es schließlich zu verdanken, dass die Legende vom Überleben der Juden, vielen überhaupt bekannt ist. Aber wenn ihr mal was wirklich Schauerliches (grandios/meisterhaft schauerlich) lesen wollt, nehmt euch mal den "Golem von Limehouse" von Peter Ackroyd ( sowieso immer lohnenswert ihn zu lesen) vor.


    Viele Grüße


    Die Leserin

  • Hallo Forum,


    ich war mal leidenschaftlicher Golem-Fan, kann mich erinnern, dass ich (muss wohl so um die 16 herum gewesen sein) das Buch ständig mit mir herumtrug. Als ich es kürzlich wieder las, hm .... ich fand es stellenweise derart süßlich, dass ich mich schon fragte, ob der Leser hier hochgenommen werden soll. Die Geständnisse des Frauenmörders Laponder und Pernaths Reaktion darauf ließen mich zum Beispiel mit hoffnungslosem Kopfschütteln zurück.


    Aber wie auch immer. Ich hab mal eine andere Frage.


    Im Nachwort zu meiner Ausgabe des Golem - eine uralte TB-Ausgabe von, glaube ich, Heyne - heißt es, dass tatsächlich im alten Prag so etwas wie ein berüchtigtes Haus mit einem berüchtigten Zimmer gegeben haben soll. Ich kann mich leider nicht an Einzelheiten erinnern, weiß aber noch, dass der im Roman beschriebene Versuch eines Reporters, abseilenderweise durch das Fenster in das Zimmer zu blicken, einen realen Vorfall zu Grunde haben soll, nämlich einen ganz ähnlichen Versuch von Egon Erwin Kisch.


    Ich habe ein Buch mit "Prager Reportagen" von E.E.Kisch, aber leider steht diese Story nicht drin. Weiß jemand was darüber?


    Gruß von Zefira

  • Da Der Golem ja immer als Meyrinks bestes Werk gepriesen wird, stellt sich die Frage, ob man überhaupt noch etwas anderes von ihm lesen soll. Mein Mann hat noch ein Buch mit Erzählungen von Meyrink im Regal. Vielleicht schaue ich da bei Gelegenheit mal rein.


    Den "weißen Dominikaner" habe ich vor kurzem als Geschenk erhalten und gelesen.


    Es geht darin um die geistige Entwicklung eines gewissen Christopher Taubenschlag, die sehr religiöse und spirituelle Züge annimmt. Zuerst hat mich das Buch an Hesse erinnert, insbesondere an den "Peter Camenzind" (bei beiden kommt die Stelle vor, in der ein junger Bursche einem Mädchen, in das er heimlich verliebt ist, eine Blume schenkt und sich entsetzlich schämt). Es scheint Meyrinks Ideal eine vollkommene Weltabgewandtheit zu sein, was mir gar nicht gefiel, das schien mir übertrieben. Die kuriosen Dämonen, die mit kitschigen Lichtern usf. auftauchen, fand ich sehr grässlich. Aber Meyrink schrieb das Buch zu Beginn des 20. Jahrhunderts.


    Ich fand das Buch nicht lesenswert. Ich hatte das Gefühl, dass es ein Buch sei, das man als 15-Jähriger in einer kitschigen Phase schreibt und wofür man sich später schämt. "Der weiße Dominikaner" ist eigentlich auch kein Roman, denke ich, denn dafür spielen zu wenige Personen wichtige Rollen, was ich auch als Mangel empfand, alles schien so unmöglich leer und düster.


    Gruß

  • Gustav Meyrink! Großartig. Das gilt auch für die anderen Helden der deutschen, phantastischen Literatur. Interessant sind auch Alfred Kubin (Die andere Seite), Hanns Heinz Ewers (Alraune), Karl Hans Strobl (Lemuria) und Oscar A. H. Schmitz (Haschisch). Was gibts sonst noch anh phantastischen Geschichten aus dieser Zeit ?


  • Gustav Meyrink! Großartig. Das gilt auch für die anderen Helden der deutschen, phantastischen Literatur. Interessant sind auch Alfred Kubin (Die andere Seite), Hanns Heinz Ewers (Alraune), Karl Hans Strobl (Lemuria) und Oscar A. H. Schmitz (Haschisch). Was gibts sonst noch anh phantastischen Geschichten aus dieser Zeit ?


    Hallo,


    neben Meyrink ist mir lediglich Kubin vom Namen her bekannt. Du scheinst hingegen einen guten Überblick über diese Literaturgattung zu haben. Deshalb betrachte ich Deine Aufzählung als vermutlich vollständig. :smile:


    Es grüßt


    Tom


  • Was gibts sonst noch anh phantastischen Geschichten aus dieser Zeit ?


    Alexander Moritz Frey, zu seinen Lebzeiten von Schriftstellerkollegen durchaus anerkannter und geschätzter Autor (es gibt Kontakte zu den Manns, auch zu Hesse u.a.). Heute leider vergessen. Er schrieb z.B. die herrliche Sammlung phantastischer Erzählungen "Spuk des Alltags" mit Holzschnitten von Otto Nückel. Diesen Band gibt es sogar noch hier.


    Leicht ist antiquarisch noch "Solneman der Unsichtbare" zu bekommen, da mal bei Suhrkamp erschienen. Erstausgaben meist ziemlich teuer, da geringe Auflage. Weil er von Hitler nichts wissen wollte, floh er in die Schweiz (obwohl er kein Jude war). Das Frey heute so unbekannt ist, liegt eben am Dritten Reich. Seine Werke erschienen zum Teil in Exilverlage wie z.B. Querido, Amsterdamm, oder in München bei Kurt Wolff u.a. in anderen Kleinstverlagen. Klaus Mann veröffentlichte drei Erzählungen in der von ihm herausgegebenden Exilzeitung "Die Sammlung".


    Liebe Grüße
    mombour

  • Hey, danke für die Vorschläge. Werde mich mal auf die Suche machen ! Interessant (jetzt nicht deutsch) ist auch Jorge Luis Borges. Er hat eine wunderbare Sammlung an phantastischer Literatur unter dem Namen "Die bibliothek von Babel" veröffentlich. Da ist fast alled drin ! :klatschen:

  • Ich habe letzten Freitag eine antiquarische Ausgabe von Gustav Meyrinks "Walpurgisnacht" gekauft und lese das Buch gerade. Da mich Mystik, Mythologie, Spiritualität, Magie, Tiefenpsychologie, Bewusstseins-Neurologie, Schamanismus, Geschichte, phantastischer Literatur à la E.T.A Hoffmann und Leo Perutz, Symbolismus, symbolistisches Malen und ähnliches sehr stark interessieren, finde ich das Buch eigentlich sehr gut. Sicher in dieser Prager Kriegsausgabe von 1917. Es "scheinen" auch okkulte und antroposophische Kenntnisse eingeflossen zu sein. Das ist ja alles gar nicht so leicht herauszulesen, aber von allem ist etwas unterschwellig anwesend. Als Maler-Dilettant im Symbolistischen finde ich die Atmosphärenbeschreibungen recht gut, ich fühle die Einladung an die Leinwand zu treten, Pinsel und Palette zu ergreifen und los zu legen. Ich habe die Empfindung, Meyrink war von den bildenden Künsten beeinflusst und hat auch in Bildern gedacht. Bilder in Worte zu bringen scheint mir ein schweres Unterfangen, so, wie Musik in Worte zu bringen (größter Spagat in der Kunst), oder Grenzdimensionserfahrungen. Ich habe die Empfindung, dass Meyrink es schwer hatte, sein ganzes Empfinden, Sehen und Wissen in Literatur umzusetzen, aber dies ist nur ein sogenannter "Ersteindruck" meinerseits. Ich bin natürlich nicht so der Literaturkenner und vielleicht lese ich über literarische "Schnitzer" auch mal leichter hinweg, wenn mich der Stoff begeistert, so wie es bei "Walpurgisnacht" mein erster Eindruck ist. Aber ich kann mir durchaus vorstellen, noch Werke von Meyrink zu lesen.

    Daß man gegen seine Handlungen keine Feigheit begeht! daß man sie nicht hinterdrein im Stiche läßt! - Der Gewissensbiß ist unanständig. - Friedrich Nietzsche - Götzen-Dämmerung, Spruch 10