September 2002: Dostojewski: Verbrechen und Strafe

  • Im fünften Teil, Abschnitt vier endlich nun Raskolnikow's Geständnis




    Ich bin damals darauf gekommen, Sonja, dass die Macht nur dem zuteil wird, der es wagt, sich zu bücken und sie aufzuheben. Hier gibt es nur eines, eines: Man muss es wagen! Und damals kam ich auf einen Gedanken, zum ersten Mal in meinem Leben, den noch niemand je vor mir gedacht hatte! Niemand! Plötzlich erkannte ich sonnenklar, dass bis auf den heutigen Tag niemand gewagt hat und es auch imer noch nicht wagt, angesichts solcher Ungereimtheit das Ganze einfach beim Schwanz zu packen und zum Teufel zu befördern! Ich ... ich wollte wagen und habe gemordet ... nur wagen wollte ich, Sonja, das ist der ganze Grund!


    Als ich damals zu der Alten ging, war es für mich ein Experiment ... Das musst du wissen!


    Keine existenziellen Gründe, keine Rache - einfach nur ein Wagnis, eine Selbsterfahrung. Außerdem der Wunsch, nicht immer von Mutter und Schwester abhängig zu sein und dass diese ihr Leben nicht nur ihm opfern. Dies scheint mir aber eher nebenrangig zu sein.


    Unglaublich! Ein selbstdefiniertes Recht zu morden, da er sich bückt und die Macht aufhebt, was jeder machen könnte, aber niemand sonst tut.


    An den Anfang des Buches gedacht, war mir die Beziehung zu der Pfandleiherin unklar, das Motiv für die Tat ebenso. Warum wurde ausgerechnet diese Person für das Experiment gewählt? Es spielte offensichtlich keine Rolle ob Mann oder Frau. Interessant wäre zu wissen, welchen Unterschied das für ihn gemacht hätte und ob er weniger Schuldgefühle hätte, wenn er jemanden ermordet hätte, den er z.B. a) total gehasst hätte oder b) sehr geschätzt hätte --> wäre z.B. ein Mord an Rasumichin denkbar als Wagnis der besonderen Art?


    Viele Grüße,
    Heidi


    (Leider muss ich mich an dieser Stelle ausklinken, da ich in den Urlaub
    fahre und erst am 15.10. wiederkomme.)

  • Hallo zusammen !


    Zitat von "ikarus"


    Ist das 5. Kapitel des 3. Teils vielleicht ein Schlüsselkapitel des Buches?


    Das habe ich beim lesen auch so empfunden. Im ersten Moment dachte ich, was für eine abenteuerliche Theorie, die Menschen in zwei Klassen, einzuteilen: die niedere(das Material) und die Zerstörer. die alle Gesetzte übertreten und dafür noch bewundert werden. Ziemlich abschreckend das
    Ganze und Raskolnikow trägt das ja auch recht provozierend vor. Parallelen bis in die heutige Zeit sind aber durchaus zu sehen. Die Frage stellt sich, wann Mord toleriert oder sogar befürwortet wird - nicht aus Habgier oder persönlichen Motiven sondern die Gründe müssen rational erklärt werden - so werden ja auch heute noch Kriege beschlossen und die "Gewinner" stehen nachher als Helden dar.


    Weiter unten, Abschnitt VI, steht auch der bis jetzt für mich schlüssigste Grund, warum Raskolnikow den Mord begangen hat:


    Es ging mir um das Überschreiten, so schnell wie möglich... ich habe nicht einen Menschen ermordet, ich habe ein Prinzip ermordet! Ich habe zwar das Prinzip ermordet, aber das Überschreiten, das habe ich nicht fertiggebracht, ich bin auf dieser Seite geblieben...Ich habe nicht gekonnt als Töten.


    Raskolnikow will es offensichtlich in die "obere Klasse" schaffen. Indem er einen Mord aus rationalen Gründen begeht, will er die Grenze überschreiten - aus persönlichen oder prinzipiellen Gründen ? Aber er hat Gewissensbisse, moralische Bedenken, plötzlich fällt ihm auch sein zweiter Mord wieder ein, das Experiment hat nicht geklappt. Ein Psychopath - wann ist man ein Psychopath, wenn man sich nach einem rational begründeten Mord schuldig oder nicht schuldig fühlt ? Alles sehr interessante und diskussionswürdige Theorien, oder ?


    Viele Grüße
    Steffi

  • Hallo zusammen


    ich bin nun im 4. Teil / 1. Kapitel: Swidrigajlow (was für ein Name) ist angekommen. Dunja wird sich sicher wundern, wenn sie das erfährt.


    zu Dunja:
    es wird ja beschrieben, daß Dunja in ihrer Art Rodja ähnlich ist, aber durch ihre innere Art schön wirkt im Gegensatz zu Rodja, der durch seinen Gemütszustand häßlich beschrieben wird und nur ganz selten als gut aussehend, dieses nur, wenn er sich besser fühlt.


    Ein typischer Vergleich, findet ihr nicht?
    Gut = schön,
    Böse = häßlich


    ansonsten finde ich auch das 5. Kapitel im 3. Teil sehr aufschlußreich. Wie erschrocken war Rodja, daß sein Artikel veröffentlicht wurde und von Porfirij sogar gelesen wurde. Da hat Rodja einiges von sich und seiner Denkweise preisgegeben.


    "Verbrechen und Strafe" wäre für einen Profiler Pflichtlektüre, findet ihr nicht? ;-)


    Manchmal steh ich vor einem Rätsel, wenn ich das Innere von Rodja sehe bzw. darüber lese.


    LG Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Hallo zusammen


    Steffi zitierte folgendes:


    Zitat

    Es ging mir um das Überschreiten, so schnell wie möglich... ich habe nicht einen Menschen ermordet, ich habe ein Prinzip ermordet! Ich habe zwar das Prinzip ermordet, aber das Überschreiten, das habe ich nicht fertiggebracht, ich bin auf dieser Seite geblieben...Ich habe nicht gekonnt als Töten.


    (diese Stelle habe ich mir auch angestrichen)


    und schrieb dann:


    Zitat

    Aber er hat Gewissensbisse, moralische Bedenken, plötzlich fällt ihm auch sein zweiter Mord wieder ein, das Experiment hat nicht geklappt.


    Genau. Sein erstes Motiv zu töten, der materielle Grund, wird Raskolnikoff sehr schnell als Selbsttäuschung bewußt. Deshalb will er auch die Beute wieder schleunigst loswerden. Auch sein zweites Motiv, lebensunwertes Leben zu töten, ist nicht haltbar, da er ja die von ihm geachtete Schwester der Pfandleiherin auch erschlagen hat. Deshalb kommt er zu der Selbsterkenntnis, daß er völlig sinnlos gemordet hat. Er merkt auch, daß er unter der Last dieser Erkenntnis zu zerbrechen droht. Immer stärker wird der Wunsch, die Wahrheit möge endlich ans Licht kommen, um diese Last los zu sein. Sich zu offenbaren traut ers ich aber doch nicht, obwohl er ahnt, daß Porphyri ihn längst durchschaut hat. Grandios fand ich das 5. Kapitel des 4. Teils. Mit welch subtiler "psychologischen Gewalt" Porphyri Raskolnikoff da in die Enge treibt - da habe ich richtig den Atem angehalten. Wahnsinnig spannend!


    Zitat

    "Verbrechen und Strafe" wäre für einen Profiler Pflichtlektüre, findet ihr nicht?


    Ja. Dieser Mordfall wäre für einen Profiler aber schon eine harte Nuß. Es deutet wenig auf Raskolnikoff als Täter hin. Im Grunde ist er ja kein schlechter Mensch. Sehr hilfsbereit sogar. Das stärkste Argument für eine Täterschaft wäre für mich dieser juristische Aufsatz. Aber daraus ein Mordmotiv abzuleiten, käme mir allerdings schon sehr absurd vor.


    Ich komme nun zum 5. Teil.


    Viele Grüße
    ikarus

    "Der Umgang mit Büchern bringt die Leute um den Verstand" (Erasmus von Rotterdam)

  • Hallo Ihr Alle!!
    Ich lese übrigens auch mit, still und heimlich, denn ich bin erst beim dritten Teil angelangt, habe mir das Buch erst letzten Freitag zugelégt, weil ich super viel um die Ohren hatte. :erroet: Hoffentlich hole ich Euch noch ein, uah!
    Bis jetzt gefällt mir der Stil Dostojewski´s auch sehr gut, begeistert mich aber nicht so wie der eines Thomas Manns oder Stefan Zweigs. Die Geschichte gestaltet sich durchaus spannend und so langsam beginnt sich der Charakter Raskolnikows zu wandeln, man erkennt sehr gut, wie ein Mensch sich unter bestimmten Einflüssen auf seine Psyche und Seele verändert (seine Armut, die Ohnmacht, dass er wegen Geldmangels nicht so handeln kann, wie er möchte; seine Krankheit; natürlich der Mord; etc.). Ich bin gespannt, wohin all diese Verstrickungen führen.
    Schnelle Grüsse (heute abend kann ich schon wieder nicht lesen, es ist zum Heulen!!), von Nele, die sich bemüht, schnell hinterher zu kommen!!

  • Hallo Nele
    toll, daß du mitmachst. :-)
    Mach dir bloß keine Gedanken, ich bin erst im 4. Teil Kapitel 1. Also nur etwas weiter wie du.


    und wenn ich schon dabei bin mit posten, wünsche ich Heidi noch einen schönen erholsamen Urlaub.


    Im 3. Kapitel kristallisiert sich schon einiges an Motiven heraus, wie du aus den Beiträgen schon herauslesen konntest. Interessant ist, daß Armut (war für mich eigentlich ein naheliegendes Motiv) anscheinend nicht zum Tragen kommt.


    Bin auf weitere Diskussionen gespannt.
    LG Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Hallo, liebe Mitleser,
    durch meinen Urlaub bin ich etwas ins Hintertreffen geraten. Ich habe mir eine Woche lang Wien angesehen. Eigentlich wollte ich auf der Bahnfahrt viel lesen, war aber dann doch zu müde.


    Ich bin zur Zeit noch am Beginn des 2. Teils, hoffe aber noch aufzuholen.


    Herzliche Grüße
    Erika

    Wer Klugheit erwirbt, liebt das Leben und der Verständige findet Gutes.
    <br />Sprüche Salomo 19,8

  • Hallo zusammen,
    bin jetzt gerade im 5. Teil angelangt. Mittlerweile finde ich das Buch sehr spannend und mir gefällt die Geschichte immer besser. Besonders ausschlaggebend dafür war das Kapitel, in dem Porfirij Raskolnikow verhörte und mit seiner Psyche spielte. Ich konnte sehr genau nachvollziehen, warum Raskolnikow irgendwann die Nerven durchgegangen sind, und er im Prinzip genau das tat, worauf Porfirij abzielte mit seinem Verhör. Das Ganze hat sich dann natürlich gewandelt, als die "Surprise" dann auftauchte, nachdem Nikolaj die Tat gestanden hat. Auch das Kapitel, in dem Pjotr Petrowitsch entlarvt wurde, hat mir sehr gut gefallen, die Art, wie langsam seine wahre Intention und sein wahrer Charakter zutage traten. Von Raskolnikow habe ich eine sehr gespaltene Auffassung: gerade die Sorge um seine Schwester und die Absicht, die Lüge und Schlechtigkeit von Dunjas Bräutigam ans Licht zu holen, seine Schwester vor diesem Unheil zu bewahren, deutet eigentlich darauf hin, dass Raskolnikow ein guter Mensch ist. Trotzdem will mir nicht genau klar werden, was genau jetzt das Mordmotiv ist. Wenn es wirklich so ist, dass er von den Menschen tatsächlich so denkt, dass man sie in zwei Klassen einteilen kann und die eine davon Verbrechen begehen kann, ohne dafür bestraft zu werden, einfach um die Menschheit zu "straffen", um Grenzen zu überschreiten, um dem Volk ein wenig "die Rute zu geben", dann finde ich es tatsächlich eine unglaubliche, wahnsinnige Theorie. Diese Theorie gibt es ja durchaus auch bei uns, in unserem Alltag, wie oft hört man Leute sagen, dass Naturkatastrophen von der Natur deshalb eingerichtet sind, um die Population zu schmälern, quasi eine Selbsthilfe, gerade in überbevölkerten Gebieten. Ist ja auch sher schlüssig. Wenn das Ganze dann aber von Menschenhand entschieden wird.... das finde ich sehr bedenklich.
    Steffi, was Du erwähntest, die Stelle, in der Raskolnikow befindet, dass er die Grenze nicht habe überschreiten können, dass er "nur" töten konnte, finde ich sehr aufschlussreich, das unterstützt diese Theorie.
    Später sagt er, dass er unter all den Läusen die allerunnützeste wählte und sich vornahm, genausoviel nach dem ihrem Tod zu nehmen, wie er für den ersten Schritt brauchte, er versucht sein Tun also zu rechtfertigen mit einem übergeordneten Ziel, das er anstrebt: Er möchte nicht an einer hungernden Mutter vorübergehen, und seinen Rubel in der Tasche festhalten müssen, er sei dabei "einen Baustein für das allegmeine Wohl zu stiften, und wiege mich deshalb in Seelenruhe". Hält er sich für Gott? Dass er meint, er habe das Recht über Leben und Tod von seiner Meinung nach unnützen Lebewesen zu richten?
    Doch gleich darauf relativiert er sich wieder selber, indem er sagt, dass er "möglicherweise noch ekelhafter und übler bin als die getötete Laus... weil ich vorausfühlte, dass ich mir das sagen würde, nachdem ich getötet hätte!"


    Aufgrund all dieser Begebenheiten muss ich sagen, ich finde den alten Titel "Schuld und Sühne" irgendwie angemessener, "Verbrechen und Strafe" hört sich viel zu platt an für die komplexen Vorgänge, die sich in Raskolnikows Kopf und Umwelt abspielen, was meint Ihr?


    Zu Sonja muss ich mir noch mal ein paar Gedanken machen, ich bin noch nicht so ganz genau hinter ihre Rolle im Ganzen gestiegen. Wie seht Ihr sie denn und was stellt sie für Raskolnikow dar? Ein weiteres unglückliches Wesen, dem geholfen werden muss, weil es sich selbst nicht helfen kann?


    Viele Grüsse,
    Nele

  • Hallo zusammen
    ich bin am Ende des 4. Teils.


    Zitat von "Nele"


    Aufgrund all dieser Begebenheiten muss ich sagen, ich finde den alten Titel "Schuld und Sühne" irgendwie angemessener, "Verbrechen und Strafe" hört sich viel zu platt an für die komplexen Vorgänge, die sich in Raskolnikows Kopf und Umwelt abspielen, was meint Ihr?


    Bis jetzt (mal sehen wie es am Ende des Romans aussieht) finde ich den Titel 'Verbrechen und Strafe' passender. Denn bei "Schuld und Sühne" gehe ich davon aus, daß der Protagonist Reue empfindet. Er erkennt die Schuld und sühnt. Es sieht jedoch so aus, als ob er sich keiner Reue bewußt ist. Höchstens, daß sein Plan nicht ganz so geklappt hat wie geplant. Deswegen folgt auf das Verbrechen die Strafe, ob der Täter das möchte oder nicht.


    Zitat


    Zu Sonja muss ich mir noch mal ein paar Gedanken machen, ich bin noch nicht so ganz genau hinter ihre Rolle im Ganzen gestiegen. Wie seht Ihr sie denn und was stellt sie für Raskolnikow dar? Ein weiteres unglückliches Wesen, dem geholfen werden muss, weil es sich selbst nicht helfen kann?


    Da gab es für mich eine Stelle im 4. Teil da hab ich den Atem angehalten. Ich dachte, wenn Sonja nun nicht so reagiert wie Rodja sie sieht, dann geschieht noch ein Verbrechen.


    LG Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Hallo


    Die Geschichte ist ja sehr vielschichtig. "Verbrechen und Strafe" ist zwar die genaue Titelübersetzung und bezeichnet die rein juristische Sicht des Romans, "Schuld und Sühne" finde ich aber auch angemessen. Der Titel bezeichnet eher die moralisch-religiöse Sichtweise. Welcher Titel der treffendere ist, werden wir erst am Ende des Buches beurteilen können. Übrigens soll es 19! verschiedene Titelübersetzungen geben. Mein Exemplar (aus dem Zweitausendeins-Verlag) heißt z. B. einfach "Rodion Raskolnikoff".


    Zitat

    Zu Sonja muss ich mir noch mal ein paar Gedanken machen, ich bin noch nicht so ganz genau hinter ihre Rolle im Ganzen gestiegen. Wie seht Ihr sie denn und was stellt sie für Raskolnikow dar? Ein weiteres unglückliches Wesen, dem geholfen werden muss, weil es sich selbst nicht helfen kann?


    Ich sehe das so, daß sich da einfach zwei verwandte Seelen gefunden haben. Der Mörder und die Hure. Beide stehen außerhalb der Gesellschaft. Beide sind mehr oder weniger unfreiwillig in ihre Lage gekommen. Sonja aus materieller Not, Raskolnikoff aus seelischer "Not".


    Schöne Grüße
    ikarus

    &quot;Der Umgang mit Büchern bringt die Leute um den Verstand&quot; (Erasmus von Rotterdam)

  • Hallo !


    Das Verhältnis zwischen Sonja und Rsakolnikow sehe ich wie ikarus


    Zitat von "ikarus"


    Ich sehe das so, daß sich da einfach zwei verwandte Seelen gefunden haben. Der Mörder und die Hure.


    Diese Stelle im Buch fand ich richtig brutal. Da entwickeln Sonja und Raskolnikow seitenlang Gefühle füreinander, vorsichtig, ja geradezu zärtlich - und plötzlich meldet sich der unerbittliche Erzähler:
    Der Kerzenstumpf in dem verborgenen Leuchter war schon seit langem heruntergebrannt, und sein letztes trübes Flackern beleuchtete den Mörder und die Hure, die sich in diesem armseligen Zimmer so seltsam über dem ewigen Buch zusammengefunden hatten.


    Raskolnikow und Sonja - beide versuchen, ihre Handlungen zu rechtfertigen. Und ist es nicht immer tröstlich, zu wissen, dass es anderen genauso schlecht geht ?


    Im 5. Teil offenbart sich Luschins Charakter - auch vordergründig edle und moralische Menschen sind in Wahrheit hinterlistige, schlechte Monster!
    Vor allem, wie er darüber nachsinnt, wie er Dunja doch noch hätte ködern können, wenn er nicht so geizig gewesen wäre. Verblüffend gut beobachtet und doch scheußlich, die Moral,das letzte, das den Armen noch bleibt, so für sich auszunutzten ! Und wieder hat mich die Aktualität richtig gepackt !
    Wo bleibt die Strafe für solche Verbechen ? Wie ich das Buch einschätze, gibt es hier keine. Denn ich vermute, die Strafe liegt doch im eigenen Gewissen...


    Ich bin nun im 5.Teil, IV. Kapitel.


    Grüße von
    Steffi

  • Huch? Ihr lest noch? Ich war eine Woche im Urlaub und habe das Buch dort beendet.


    Die Strafe für moralische Verbrechen liegt wohl wirklich im Gewissen. Raskolnikow ist zeitweise ziemlich schroff und abweisend zu Sonja; ich deute das so, dass er sich bewusst ist, dass er als Mörder ihre Liebe nicht verdient hat, auch wenn er seine selbstdefinierten Gründe für die Morde hatte.


    Und Swidrigajlow erschießt sich. Sein Gewissen kommt gegen die krankhafte Begierde nach jungen Mädchen und gegen das Andenken an die Vergangenheit nicht mehr an. Und das, obwohl er nach außen seine Gründe bzw. Rechtfertigungen dargelegt hat.

  • Hallo !


    Heidi, das habe ich mir schon gedacht, dass du so schnell bist ...


    Die Szene zwischen Sonja und Raskolnikow, in der er ihr den Mord an Lisaweta "gesteht" (plötzlich ist von der Pfandleiherin gar nicht mehr die Rede), wirft doch ein ziemliches Licht auf den Charakter Raskolnikows. Er traut sich nicht, es Sonja oder auch sich selbst, offen einzugestehen sondern er lässt sie raten ! Also bisher hatte ich immer Mitleid und Verständnis für ihn aber jetzt ist meine Geduld erschöpft. Er versteht immer noch den Ernst der Lage nicht, es ist irgendwie ein Spiel für ihn. Wie er sich überlegt, welcher Grund den wohl am passendsten ist, richtig zynisch ist er da.


    Richtig dramatisch fand ich auch die Stelle, an der Sonjas Mutter stirbt - da hat Dostojewski ziemlich dramatisiert und die Tragik des Ganzen, die Verzweiflung, der Lächerlichkeit gegenübergestellt.


    Gruß von
    Steffi

  • Hallo zusammen


    Steffi hat schon ein paar mal auf die Aktualität des Buches hingewiesen. Völlig zu recht. Ich weiß nicht, ob es euch auch so geht, aber ich muß jedesmal an Raskolnikoff denken, wenn in den Nachrichten über diesen unheimlichen Heckenschützen in Washington, der scheinbar wahllos Menschen erschießt, berichtet wird. Der spielt auch Gott und bestimmt, wer leben darf und wer nicht. Vielleicht hat er ja auch so eine abstruse Gesellschaftstheorie wie Raskolnikoff. Sicher wird dieser Mörder eines Tages geschnappt werden, psychologisch untersucht und auch das Motiv seines abscheulichen Handelns wird er preisgeben. Die Medien werden darüber berichten und ich werde diese Geschichte jedenfalls mit größerem Interesse verfolgen, als ich es getan hätte, wenn ich den Dostojewski nicht gelesen hätte.
    Da lesen wir wirklich das richtige Buch zum richtigen Zeitpunkt.


    Viele Grüße
    ikarus

    &quot;Der Umgang mit Büchern bringt die Leute um den Verstand&quot; (Erasmus von Rotterdam)

  • Hallo zusammen


    ich bin nun auch durch mit "Verbrechen und Strafe" und bin mit euch einer Meinung, daß dieses Buch immer aktuell sein wird.


    Gesamtgesehen muß ich gestehen, daß ich sicher nicht alles verstanden habe, was Dostojewskij mir, dem Leser, übermitteln wollte. Ich spüre gewisse Tiefen, die mir noch unverständlich sind. So z. B. im Epilog Raskalnikows Traum von den Trichinen.


    Habt ihr verstanden, was damit D. ausdrücken wollte?


    Sehr verwirrend ging es für mich im letzten Drittel zu. Raskalnikows Nervenkrankheit war auf was gegründet? Auf Schuld sicherlich nicht. Weil er versagt hat, weil seine Methode, seine These nicht perfekt durch ihn durchgeführt wurde? Schon eher. Und doch, sein Gang zur Polizeistation
    war auch nicht ganz eindeutig klar. Er fühlte sich nicht als Verbrecher:


    Niemals, niemals habe ich das deutlicher begriffen als jetzt, und niemals habe ich weniger verstanden, worin mein Verbrechen bestehen soll! Niemals fühlte ich mich sicherer und überzeugter als jetzt!..


    warum ging er nicht zu Porfirij? Weil dieser ihn durchschaute?


    Ich glaube, Rodja wollte keine Antworten. Er wollte Leben, das Zuchthaus bedeutete für ihn "Freiheit". Hätte er sich vielleicht wie Swidrigajlow das Leben genommen, wenn ihm jemand "erkannt" hätte?


    Er läßt im Zuchthaus das ganze nochmals Revue laufen und wird davon wieder krank.... Dann plötzlich auf den letzten Zeilen hat er das Neue Testament unter dem Kissen und ist plötzlich ein Mensch mit Hoffnung. Also doch Sühne?


    Das Buch läßt mich ziemlich verwirrt zurück und wie ich mich kenne, werde ich noch Tage darüber grübeln.


    Wie fandet ihr den Epilog?


    Jetzt hab ich bestimmt einige Gedanken vergessen, die ich während des Lesens hatte. Ich weiß noch wie entsetzt ich war über Swidrigajlow. Dunjas Schüsse auf ihn, doch zuletzt konnte sie ihn nicht umbringen.


    Beide, Swidrigajlow und Raskolnikow, waren in der Nacht bzw. in den frühen Morgenstunden öfters auf dem Weg zum Fluß Newa, mit Selbstmordgedanken. Nur einer führte es durch. Warum?


    War es bei Swidrigajlow "Schuld und Sühne"? Sein geplagtes Gewissen über seine Neigungen? Er hat Wiedergutmachungen in Form von Geld verteilt. Was tat in dieser Hinsicht Rodja? Eigentlich nichts.


    Auch Sonja "sühnt" - sie begleitet Rodja nach Sibirien. Wenn das nicht eine persönliche Sühne ist, eine Selbstbestrafung, meines Erachtens.


    Paradoxerweiser bekommt R. Strafminderung wegen seiner guten Taten, die plötzlich am Ende des Buches erwähnt werden, und wegen verminderter Zurechnungsfähigkeit, bestätigt durch den Arzt.


    Hat er das verdient?


    Sorry, das der Beitrag ein bißchen wirr erscheint. Ich muß meine Gedanken auch erst sortieren.


    Wie sieht bei euch der Gesamteindruck aus?


    LG Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Hallo !


    Ja, diese zwei schuldigen Personen, Swidrigajlow und Raskolnikow, und die unterschiedliche Sühne - das hat mich auch beschäftigt. Bei Swidrigajlow ist das Verbrechen triebhaft und er kommt nicht dagegen an, wie ja auch sein Traum kurz vor seinem Selbstmord beweist. Vielleicht erkennt er (oder Dostojewski), dass es dagegen keine Sühne gibt. Raskolnikow sehnt sich nach der Anerkennung seines Verbrechens, er kann dann "offiziell" seine Strafe verbüßen und sein Leben wieder aufnehmen - im Grunde ist er ja ein "guter" Mensch mit seinen guten Taten. Er wollte ja nur etwas aus seinem Leben machen, mal seine Theorie ausprobieren, richtig bereut er seine Tat ja nicht, es ist ein Verbechen des Verstandes. Sonjas Gefühle kommen ihm ja eher lächerlich vor, so empfand ich das wenigstens. Warum aber der Glaube dann die Rettung bzw. der Trost sein soll, hat für mich gar nicht zur Thematik des Buches gepasst.


    Den Epilog fand ich auch ziemlich seltsam - irgendwie überflüssig, denn dadurch wurde der ganzen Geschichte irgendwie die Tiefe genommen. Beim letzten Satz kam mir der Erzähler wie ein Märchenonkel vor. Vielleicht wurde Dostojewski dieses Buch auch zu intim und er versuchte so, es nicht allzu autobiographisch aussehen zu lassen ?


    Manches hab ich auch nicht so richtig verstanden, das mit den Trichinen ist mir gar nicht so aufgefallen, das werde ich nochmal nachlesen.


    Insgesamt fand ich das Buch sehr intensiv und manche Theorien verblüffend realistisch und, wie gesagt, aktuell. Mir kam es auch ziemlich politisch vor, Machtgier und Moral im Hinblick auf die Gesellschaft spielen doch eine große Rolle. Schön fand ich auch, wie Dostojewski mit dem Leser gespielt hatte, manchmal wusste man ja nicht, spricht der oder träumt er - sowas gefällt mir immer ! Aber auch die Schilderungen der armen russischen Bevölkerung waren sehr bedrückend. Auf jeden Fall gab es ziemlich viel zum Nachdenken und diskutieren, oder ?


    Gruß von
    Steffi

  • Hallo Steffi
    Hallo an alle :-)
    danke für deine Gedanken, die mir geholfen haben meine zu ordnen :-)


    Zitat von "Steffi"

    Hallo !


    Ja, diese zwei schuldigen Personen, Swidrigajlow und Raskolnikow, und die unterschiedliche Sühne - das hat mich auch beschäftigt. Bei Swidrigajlow ist das Verbrechen triebhaft und er kommt nicht dagegen an, wie ja auch sein Traum kurz vor seinem Selbstmord beweist. Vielleicht erkennt er (oder Dostojewski), dass es dagegen keine Sühne gibt. Raskolnikow sehnt sich nach der Anerkennung seines Verbrechens, er kann dann "offiziell" seine Strafe verbüßen und sein Leben wieder aufnehmen - im Grunde ist er ja ein "guter" Mensch mit seinen guten Taten. Er wollte ja nur etwas aus seinem Leben machen, mal seine Theorie ausprobieren, richtig bereut er seine Tat ja nicht, es ist ein Verbechen des Verstandes. Sonjas Gefühle kommen ihm ja eher lächerlich vor, so empfand ich das wenigstens. Warum aber der Glaube dann die Rettung bzw. der Trost sein soll, hat für mich gar nicht zur Thematik des Buches gepasst.


    mmh - Sonja sehe ich als das christliche Element in diesem Roman. Vielleicht hatte Dostojewskij bedenken, daß sich sein Volk bereits zuweit von Gott entfernt hatte?


    Wir hatten ja schon die Namenserklärung von Raskolnikow. In meinem Buch steht noch der Zusatz:


    Die Raskolniki wurden auch die Popenlosen genannt, weil sie mit Kirche und Kultus auch die Geistlichkeit ablehnten. ..


    Zitat


    Den Epilog fand ich auch ziemlich seltsam - irgendwie überflüssig, denn dadurch wurde der ganzen Geschichte irgendwie die Tiefe genommen. Beim letzten Satz kam mir der Erzähler wie ein Märchenonkel vor. Vielleicht wurde Dostojewski dieses Buch auch zu intim und er versuchte so, es nicht allzu autobiographisch aussehen zu lassen ?


    Ähnliches habe ich mir auch gedacht, als ob er sich einen Freiraum für eine Fortsetzung ließ.


    Zitat

    Insgesamt fand ich das Buch sehr intensiv und manche Theorien verblüffend realistisch und, wie gesagt, aktuell. Mir kam es auch ziemlich politisch vor, Machtgier und Moral im Hinblick auf die Gesellschaft spielen doch eine große Rolle. Schön fand ich auch, wie Dostojewski mit dem Leser gespielt hatte, manchmal wusste man ja nicht, spricht der oder träumt er - sowas gefällt mir immer ! Aber auch die Schilderungen der armen russischen Bevölkerung waren sehr bedrückend. Auf jeden Fall gab es ziemlich viel zum Nachdenken und diskutieren, oder ?


    und manchmal sprach er den Leser direkt an. Ich kann dir nur zustimmen, es gab und würde bestimmt noch viele Gedanken geben um zu diskutieren. Sehr schön hat D. die russische Seele auch im Buch durch Swidrigajlow sagen lassen:


    Der russische Mensch ist überhaupt eine breite Natur, Awdotja Romanowna, breit wie sein Land, und neigt zum Phantastischen, zum Ordnungslosen; aber wehe einer breiten Natur ohne Genialität! Erinnern Sie sich noch, wie oft wir über dieses Thema miteinander gesprochen haben, wenn wir abends auf der Terrasse im Garten saßen, immer nach dem Abendessen? Damals haben Sie mir gerade diese Breite zum Vorwurf gemacht.....


    Dunja hat auch gern mit dem "Feuer" gespielt, mir scheint die Neigungen in der Familie zu "Experimentieren am Menschen" hatte nicht nur Rodja in sich.


    Wie seht ihr es, daß Swidrigajlow von "Amerika" sprach, wenn er von seinem Freitod sprach?


    und hier noch ein kleiner Text, nichts bedeutsames:


    "Trink Katja!...." Er schenkte ihr das Glas voll und legte einen gelben Schein daneben. Kaja trank das Glas in einem Zuge aus, so, wie Frauen trinken, das heißt, ohne abzusetzen, in zwanzig Schlucken, ....


    *ggg* jetzt wissen wir wie Frauen in Russland trinken ;-)


    LG Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Hallo -
    ich bin natürlich auch fertig, habe aber nicht die Zeit gefunden, mich noch einmal abschliessend zu äussern. Ich schliesse mich Euren Urteilen vollkommen an: ein wirklich wirklich tolles Buch. Das erste seit langem, das ich zugeschlagen habe und dachte, mensch, jetzt musst Du erst einmal durchatmen.
    Und natürlich noch sehr aktuell, dieses Thema ´verliert wohl gerade in den Gedanken der Menschen nie an Brisanz und Aktualität.
    Anschliessend habe ich "Ein rundherum tolles Land" gelesen von Frank McCourt und auf den ersten Seiten gleich las er eben dieses Buch! Toll.


    Erst einmal viele schnelle Grüsse,
    Nele

  • Hat dieser Verrückte in USA, der wahllos Leute abknallt vielleicht ähnliche Beweggründe wie unser Raskolnikow?
    Leute töten um einem für andere nicht ersichtlichen Zweck zu dienen?


    Das Thema bleibt eigentlich immer aktuell! :wink:

  • Hallo zusammen


    Ich bin nun auch mit dem Buch fertig und mir schwirren etwas die Sinne. Ich denke, daß der Roman in Bereiche vordringt, die ich nicht auszuloten vermag. Bestimmt habe ich nicht alles richtig verstanden und manches ist ganz rätselhaft geblieben. Trotzdem ist "Schuld und Sühne" einer der außergewöhnlichsten und intensivsten Romane, die ich je gelesen habe. Für Thomas Mann war er "der größte Kriminal-Roman aller Zeiten". Dostojewski selbst bezeichnete ihn allerdings als "psychologischer Bericht über ein Verbrechen". Und das ist zweifellos treffender. Es ist der seelische Zustandsbericht eines Mörders.
    JMaria, Du fragst, warum sich Raskolnikoff nicht auch (wie Swidrigailoff) umgebracht hat. Der Gedanke, sich umzubringen, ist ihm ja auch gekommen. Durch seine Tat hatte er sich von der Gesellschaft abgespalten. Dieser Zustand stürzte ihn in eine seelische Krise. (Nicht seine Tat! Die hat er ja nie als Verbrechen anerkannt.) Allmählich begreift er aber seine Schuld und daß nur eine Selbstanzeige bei der Polizei und die daraus resultierende Strafe zu seiner Erlösung führen können. Er wollte nicht sterben, sondern erweckt werden - wie Lazarus. Er wollte zurück ins Leben. Und, wie Du richtig schreibst, bedeutete für ihn das Gefängnis diese Rückkehr.
    Und natürlich die Liebe zu Sonja. Diese Liebe kann er sich (und Sonja) erst im Gefängnis gestehen. Ab diesem Zeitpunkt erst ist er erlöst und kann ein neues Leben beginnen.
    Der Epilog, mit dem ihr scheinbar etwas Schwierigkeiten hattet, dient meiner Meinung nach dazu, die verschiedenen Handlungsstränge zu verbinden und (vielleicht) den Leser mit der Hauptfigur zu versöhnen. Immerhin deutet sich eine Läuterung dieses gottlosen Menschen und seine Rückkehr zum christlichen Glauben darin an.


    Also Steffi! Dostojewski als "Märchenonkel" zu bezeichnen, muß ich natürlich auf das Empörteste verurteilen :wink: "Schuld und Sühne" war mein erstes Buch von ihm und so wie ich die Sache sehe, könnte er, nach Thomas Mann, zu einem meiner Lieblingsschriftsteller werden. Er hat mich schon sehr beeindruckt.


    Viele Grüße
    ikarus

    &quot;Der Umgang mit Büchern bringt die Leute um den Verstand&quot; (Erasmus von Rotterdam)