Beiträge von Sir Thomas


    Ich frage mich nach 4 Kapiteln, wie Stifter so eine zeitentrückte Sicht auf die Welt entwickeln konnte.


    Ja, und ich frage mich, warum der in den ersten beiden Kapiteln geschilderte Werdegang des Erzählers so absolut blutleer und kraftlos auf mich wirkt. Erschreckend wahllos häuft er Wissen unterschiedlichster Gebiete an – ohne einen irgendwie zugrunde gelegten oder erkennbaren Zusammenhang, quasi ein Wissen um des Wissens willen. Das ist nicht unbedingt zu verurteilen, zeugt aber letztlich von (noch) nicht vorhandenen Maßstäben für die Einordnung des Wissens in Kategorien wie Nützlichkeit, Ästhetik o.ä.. Möglicherweise wird die allmähliche Entwicklung dieser Kategorien eines der Hauptthemen des Buchs (das wäre zumindest im Sinne eines sog. Bildungsromans durchaus folgerichtig).


    LG


    Tom


    Etwas mühselig für mich ist der Abschnitt über die Schreinerwerkstatt und die ganzen Zeichnungen... Wenn es um die Natur geht (z.B. das Gewitter), kann es mich mehr fesseln.


    Ja, die Natur ist eindeutig Stifters Ding! Aber auch die Passage in der Schreinerwerkstatt fand ich interessant, geht es doch hier (soweit ich das beurteilen kann) um Stifters Ästhetik des Kleinen, des Details, dessen Fehlen oder fehlerhafte Ausführung dem Ganzen zum Nacheil gereicht. Schlimmer noch: Wird ein Detail nicht im Geiste des Gesamten konzipiert, entsteht etwas ganz und gar Falsches und ästhetisch Fragwürdiges. So zumindest habe ich diesen Abschnitt aufgefasst.


    LG


    Tom

    In seinem Buch "Beethovens Klaviersonaten - Ein musikalischer Werkführer" geht der Autor Siegfried Mauser u.a. auf die Stellung des künstlerischen Spätwerks innerhalb des Gesamtwerks ein. Bevor er auf Beethoven im Besonderen kommt, spricht er von zwei Grundtendenzen, die ein Alterswerk häufig durchziehen:
    1. eine extrem gesteigerte Vergeistigung, verbunden mit einem hohen Abstraktionsgrad, der auf Reduktion und Konzentration beruht
    2. eine individuelle Radikalisierung, die endgültig mit Konventionen bricht und einen utopischen Gestaltungswillen offenbart.


    Das mache das Spätwerk eines Künstlers (und auch das Beethovens) zu einer harten Nuss für das zeitgenössische Publikum. Insbesondere die drei letzten Sonaten op. 109 - 111 wurden erst im Laufe des 19. Jahrhunderts verstanden und geschätzt.


    Die beiden o.g. Tendenzen treffen mMn. besonders auf das Werk Robert Schumanns zu (wenn wir schon bei der Musik sind). Ein Vergleich zwischen den agilen, flirrenden Frühwerken (z.B. "Papillons" oder "Kreisleriana") und den kontemplativen letzten Klavierzyklen ("Fughetten", "Gesänge der Frühe", "Variationen über ein eigenes Thema") zeigen sehr schön eine radiale Vergeistigung der Musik und ein hohes Mass an Konzentration auf einfache, aber niemals simple musikalische Themen.


    Das alles spricht natürlich nicht für die allgemeine Überlegenheit des Spätwerks, sondern lediglich für dessen wie auch immer beschaffene Ausnahmestellung in vielen künstlerischen Biografien.


    Es grüßt


    Tom


    ... heute ist alles so schnell und hektisch, hat Stifter das damals schon kommen sehen, dass die Moderne diesen Zeitraffer mit sich bringen würde?


    In seinem ausführlichen Essay "1857 - Flaubert, Baudelaire, Stifter" hat Wolfgang Matz die radikale Artifizialität des "Nachsommers" als zukunftweisend für die Moderne charakterisiert. Ich habe das zunächst nicht verstanden, bekomme aber allmählich eine Ahnung, was damit gemeint sein könnte. Vielleicht sollten wir die Modernität dieses Werks einmal gesondert betrachten und diskutieren.


    Gestaunt habe ich, als ich herausfand, dass Marcel Reich-Ranicki den "Nachsommer" nicht in seinen Literaturkanon aufgenommen hat. Stifter ist mit nur einer einzigen Erzählung aus den "Bunten Steinen" in MRRs Kanon vertreten. Das kann ich nicht verstehen, genau wie die Ablehnung von Musils "Mann ohne Eigenschaften" (MRR: "Ein gescheitertes Buch").


    LG


    Tom


    Das sind doch schon freie Rhythmen: 3 Hebungen - 4 Hebungen - 3 Hebungen - 4 Hebungen.


    Interessanter Ansatz! Bislang habe ich eine "Lyrisierung" in Prosatexten nur bei Hölderlin und Rilke erspürt und entdeckt.


    Einige Sätze zur Ästhetik des Romans, insbesondere des "Rosenhauses": Die Welt, in die Stifter uns entführt, ist eine bis in alle Details sorgsam, fast schon pedantisch geordnete und deshalb auf den ersten Blick langweilige Idylle. Jeder Raum des Hauses hat nur einem Zweck zu dienen (z.B. dem Aufbewahren und Lesen von Büchern), jedes Buch wird nach Gebrauch sofort an seinen Regalplatz zurückgestellt, die Fußböden werden geschont, in dem Filzpantoffeln über das Schuhwerk gezogen werden … Ist es ein gesteigertes Harmoniebedürfnis, das sich da äußert? Wir wissen, dass Stifters persönliche Verhältnisse über einen langen Zeitraum alles andere als harmonisch und geordnet waren.


    Wie ich schon schrieb: Oberflächlich betrachtet verströmen der Erzähler und dessen Heim, aber auch das Rosenhaus und dessen Bewohner eine sehr gepflegte Langeweile, die sich natürlich gründlich von dem modernen Ennui mancher Flaubert- und Fontane-Figuren unterscheidet. Ich habe noch nicht herausgefunden, was sich unter der Oberfläche dieser Kultiviertheiten verbirgt. Nicht zuletzt diese Neugier, aber auch der schöne und ruhige Erzählfluss Stifters halten mein Leseinteresse hoch.


    LG


    Tom


    Die Poesie fehlt bei Stifter aber vollkommen.


    Das kann ich nicht bestätigen, lieber Lost. Es ist natürlich eine eigenartige, sehr leise, unaufdringliche und überwiegend spröde Poesie, die Stifter uns serviert.


    Bezeichnend für die Stiftersche "Ästhetik" ist für mich folgendes Zitat, das aus der Vorrede der "Bunten Steine" stammt: Ein ganzes Leben voll ... Einfachheit, Bezwingung seiner selbst, Verstandesgemäßheit, ... Bewunderung des Schönen, verbunden mit einem heiteren, gelassenen Sterben, halte ich für groß: mächtige Bewegungen des Gemütes, furchtbar einherrollenden Zorn, die Begier nach Rache, den entzündeten Geist, der nach Tätigkeit strebt, ... halte ich nicht für größer, sondern für kleiner, da diese Dinge so gut nur Hervorbringungen einzelner und einseitiger Kräfte sind ... Wir wollen das sanfte Gesetz zu erblicken suchen, wodurch das menschliche Geschlecht geleitet wird.


    Die Hervorhebung stammt von mir.


    LG


    Tom


    ... Bildung und Ausbildung ...


    Hallo Lost,


    beim Thema "Bildung" möchte ich ein wenig verweilen. Mir scheint, als beruhe der Bildungsbegriff des Vaters auf dem aufklärischen, neuhumanistischen Ansatz aus der Zeit der Weimarer Klassik. Bildung galt als Möglichkeit, geistige, emotionale und körperliche Fähigkeiten durch Übung individuell zu vervollkommnen. Eine dem einzelnen Menschen entsprechende Bildung, so die herrschende Meinung, leiste unweigerlich auch einen Beitrag zur Humanität der Gesellschaft.


    Als Vorbild des gebildeten Menschen bzw. als Bildner seiner selbst galt im 19. Jahrhundert vor allem Goethe. Dessen geistige Größe wurde auf die unablässige Arbeit an der Ausbildung seiner Persönlichkeit zurückgeführt. Das ist durchaus problematisch, weil geistige Größe nicht unbedingt mit menschlicher Größe einhergeht. Thomas Mann hat das sehr anschaulich in seinem Goethe-Roman “Lotte in Weimar” herausgearbeitet.


    Und Du hast vollkommen recht: Emotional ist unser Erzähler ein "Krüppel".


    Das Bildungskonzept des Vaters wirkt in der Industriegesellschaft des 19. Jahrhunderts natürlich hoffnunglos antiquiert, weil es nicht unbedingt die kapitalistischen Tugenden wie Fleiß, Sparsamkeit etc. hervorbringt. Das ist dem Vater, einem Kaufmann(!), offensichtlich egal. Dazu gehören widerum Mut und geistige Unabhängigkeit.


    Sehr ambivalent, das Ganze. Und damit auch sehr interessant.


    LG


    Tom


    wie ich an anderer Stelle schon erwähnt habe, war ich am letzten Wochenende in Essen und Samstagabend dort in der Aalto-Oper. Schon das Gebäude (von dem durch das Bauhaus beeinflussten finnischen Stararchitekten Alvar Aalto entworfen aber erst nach dessen Tod erbaut) stimmt auf einen besonderen Abend ein.


    Hallo Hubert,


    schön, dass es Dir im Aalto-Theater gefallen hat. Das Haus ist hier in der Region meine bevorzugte Spielstätte. Schade, dass die am kommenden Wochenende (11.2.) anstehende Aufführung der Gluckschen Orpheus-Oper in Dortmund statt in Essen stattfindet. Das Dortmunder Opernhaus ist leider eher Durchschnitt im Vergleich zur Aalto-Oper. Hoffentlich "verhunzen" die Dortmunder den "Orpheus" nicht allzu sehr ...


    LG


    Tom

    Ich habe begonnen, die Ilias-Übertragung von Wolfgang Schadewaldt aus dem Jahr 1974 zu lesen. Im Unterschied zu der schwer lesbaren Voß-Übersetzung hat Schadewaldt sich gegen die Übertragung in Hexametern entschlossen und stattdessen freie, rhythmisierte Verse gebildet. Das bekommt der Sache gut, hat Saft und Kraft und ist hervorragend lesbar. Ich bin froh, mich letztlich gegen die neue Prosa-Übersetzung von Raoul Schrott entschieden zu haben, obwohl auch diese sicher einiges für sich hat und überwiegend gelobt wurde.


    LG


    Tom


    ... von Huysmans habe ich noch nichts gelesen, da ich ihn für einen Zola-Epigone hielt, aber vielleicht täusche ich mich da.


    Ja und nein. Die ersten Werke Huysmans' sollen sehr am Naturalismus orientiert sein. Ich kann das allerdings nicht aus eigener Lektüre beurteilen. Ein Werk wie "Gegen den Strich" ist hingegen allerfeinste Décadence - und damit eine bewusste Abwendung von Zola.


    Es grüßt


    Tom

    Franz Liszt - "12 Etudes d’exécution transcendante". Was für eine strapaziöse Musik!


    Ich kenne nicht alles von Liszt, schließe mich aber nach den aktuellen Eindrücken Tschaikowskis Meinung an: „Seine Kompositionen lassen mich kalt; sie verraten mehr poetische Absichten als echte schöpferische Kraft, mehr Farbe als Form, mehr äußeren Glanz als inneren Gehalt, so ganz im Gegensatz zu Robert Schumann.“


    Ein schönes Wochenende!


    Tom


    Danke, Gronauer! Das war wirklich fix!


    Liebe Grüße


    Tom


    Für mich war Ovid eine Entdeckung, um nicht zu sagen eine Offenbarung!


    Entdeckung ja. Mit Offenbarungen habe ich es nicht so ... :breitgrins:



    Tja, und weil’s so schön war, habe ich nun die ars amatoria auch noch gelesen.


    Ich habe für einen späteren Zeitpunkt Ovids Erstling "Amores - Liebesgedichte" notiert. Vielleicht treffen wir uns ja noch einmal, um das Ovid-Triptychon zu vervollständigen.


    Viele Grüße


    Tom

    Die späten Klaviersonaten Schuberts (D 958 - 960). Am Klavier sitzt Alfredo Perl, der sich redlich müht, "die Ausdruckssphären der Vereinsamung und des Verlorenseins" (Piano News 4/2010) herauszuarbeiten. Schöne und empfehlenswerte CD!


    LG


    Tom


    Herman Melville: Maskeraden. Oder Vertrauen gegen Vertrauen.


    Diesen noch, dann habe ich alle Romane von Melville beisammen.


    Beneidenswert! Ich schätze Melville sehr, habe mich allerdings an seine frühen Romane ("Mardi" etc.) sowie an das Spätwerk noch nicht herangetraut (Ausnahme: "Billy Budd"). Falls es Dir nichts ausmacht, lass uns an Deinen Eindrücken im Melville-Ordner teilhaben.


    LG


    Tom

    Hallo Gontscharow,


    vielen Dank für Deine letzten und ausführlichen Eindrücke. Meine Erinnerungen sind schon ein wenig blass. Daher nur soviel: Die letzten beiden Briefpaare fand ich weniger gelungen. Nach dem mit viel Ironie durchsetzen Paris-Helena-Geschehen hätte das Ganze enden können, ohne dass mir etwas gefehlt hätte. Nichtsdestotrotz habe ich die Lektüre des kompletten Werks natürlich nicht bereut.


    Noch in diesem Jahr werde ich erneut in die Antike zurückkehren. Ich warte derzeit auf die Lieferung neuer Übersetzungen der Ilias und Odyssee. Beide noch einmal in der Voß-Übertragung zu lesen, kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen - auch wenn die Voß-Schwarten immer einen Ehrenplatz im Regal behalten werden.


    Noch einmal vielen Dank für diese kleine, feine Ovid-Runde!


    LG


    Tom