Mitten im dritten Band äussert sich Risach zur Künstlerproblematik:
“Der Künstler macht sein Werk, wie die Blume blüht, sie blüht, wenn sie auch in der Wüste ist und nie ein Auge auf sie fällt. Der wahre Künstler stellt sich die Frage gar nicht, ob sein Werk verstanden werden wird oder nicht. … Und sollte der Künstler das wirklich Schöne nicht für die Geweihten schön halten? … Es sind dies die Größten, welche ihrem Volk voran gehen und auf einer Höhe der Gefühle und Gedanken stehen, zu der sie ihre Welt erst durch ihre Gedanken führen müssen. Nach Jahrzehnten denkt und fühlt man wie jene Künstler, und man begreift nicht, wie sie konnten mißverstanden werden. Man hat durch diese Künstler erst so denken und fühlen gelernt.”
Für mich wirft das folgende Fragen auf:
Hat Stifter geahnt, dass sein „Nachsommer“ das Schicksal des über Jahrzehnte Unverstandenen teilt?
Vermutlich nicht, denn er war wohl sehr enttäuscht über die ablehnende Aufnahme des Romans.
Hat Stifter sich auch zu den Künstlern gezählt, die „das wirklich Schöne für die Geweihten schön halten“? Wahrscheinlich, denn wenn man bedenkt, dass in der Mitte des 19. Jahrhunderts die literarische Auseinandersetzung auf dem weiten Feld des Realismus stattfand, dann steht „Der Nachsommer“ mit seinen schöngeistigen Idealen und Ideen vollkommen außerhalb dieser Diskussion. Die beiden gesellschaftlichen Krankheiten des 19. Jahrhunderts, Beschleunigung und Ennui (das kleinbürgerliche Syndrom aus geistiger Versumpfung, diffuser Sehnsucht und gelebter Verantwortungslosigkeit), scheint Stifter zwar wahrgenommen, aber als das „Nicht-Schöne“ bewusst aus seinem Werk herausgehalten zu haben.
Last but not least: Was haltet Ihr von einem derartigen Kunstverständnis? Anfangs hielt ich es für arg elitär, aber je länger ich darüber nachdenke, umso bereitwilliger möchte ich Stifter zustimmen.
Das letzte Kapitel ist übrigens äußerst originell. Wer hätte gedacht wie sich das alles zusammenfügt. ( :breitgrins:)
Der Schluss ist eigentlich nicht mehr als das Rondo nach einer anstrengenden Sonate. Wahrscheinlich bleibt alles, wie es ist, denn: „Werde wie Dein Vater!“ Was für eine Aufforderung zum Zementieren der Verhältnisse und zum Stillstand! Irgendwie erzreaktionär – wenn nicht diese außergewöhnliche Sprache und der ausgeprägte Hang zum Schönen wie ein ständig blauer Himmel über dem Roman läge.
Fazit: Zwiespältig, aber gut.
Um es mit eigenen Worten zu sagen: Heinrich mir grauts vor dir.
:breitgrins: :breitgrins: :breitgrins:
Ich bin trotz allem froh, den „Nachsommer“ gelesen zu haben. Vielleicht berichte ich im allgemeinen Stifter-Ordner über das Spätwerk „Nachkommenschaften“.
Ladies & gentleman: Es war schön mit Euch.
So long,
Tom