Beiträge von JHNewman


    Danke JHNewman für diese schöne Gesamtdarstellung der Handlung!


    Zum "Paradies von Helstone" fällt mir gerade auf, wie klug es von Mrs. Gaskell war, nachträglich für die Buchausgabe Margarets Besuch in Helstone - zusammen mit Mr. Bell - zu ergänzen: Dort wird das "Paradies" aus Margarets Kindheit/Jugend ein wenig entzaubert, denn auch Helstone hat sich zwischenzeitlich verändert. Dadurch kann Margaret vielleicht mit dem Ort "abschließen".


    Gruß, Gina


    Ja, Gina, das fand ich auch ein tolles Kapitel. Margaret sieht Helstone mit anderen Augen und hat durch ihren Reifeprozess einen klareren Blick auch für die Begrenzungen des alten Lebensumfelds. An einer Stelle wird sie ja auch mit dem Aberglauben und der Rückständigkeit der Dorfbewohner konfrontiert (die geröstete Katze!!).


    JA , JHNewman hat's mal wieder auf den Punkt gebracht. Ob Gaskell die Parallelen ihrer Romanhandlung zur gesellschaftlichen Entwicklung selbst so klar gesehen hat, will ich gar nicht unbedingt annehmen. Aber groß macht ein Werk immer, dass es viel mehr enthält, als sein Schöpfer vielleicht selbst intendierte, und in diesem Sinn haben wir hier ein großes Buch.


    Übrigens noch mal zu Margarets Konflikt wegen ihrer Lüge. Ich habe diese Stelle einfach nicht kapiert, und tendiere wie Bell dazu, hier mal Fünfe gerade sein zu lassen. Ich kann überhaupt nicht verstehen, warum Margaret sich so zerquält. Zum Zeitpunkt der Lüge konnte sie nicht damit rechnen, dass ihr Bruder schon in Sicherheit ist, und deswegen steht für mich der Schutz ihres Bruders, auch wenn er sich später als unnötig erwies, viel höher als der Wille zur Wahrheit. Margaret folgt hier der Kanteschen Ansicht, der auch für die Wahrheit plädiert, wenn das andere das Leben kosten könnte. Ich halte hier - wenn auch sonst eher nicht - mit den Utilitaristen: Das größere Wohl wird durch die Lüge erzeugt, so stellt es sich jedenfalls in dem Moment dar.


    Das sehe ich ganz ähnlich. Margaret tut in dem Moment das, was ihren Bruder schützt. Insofern erscheinen uns heute die moralischen Skrupel und das schlechte Gewissen, die sie dann plagen, ein wenig seltsam.


    Aber mein Verdacht ist, dass es der Autorin gar nicht unbedingt um das konkrete Fehlverhalten geht oder um die Frage, ob Margaret da wirklich etwas 'Schlimmes' getan hat. Vielleicht geht es eher darum, die Hauptfigur in eine Situation zu bringen, in der sie die moralische Komplexität der Welt erfährt. Sie erkennt, dass sie schuldlos (wider Willen oder trotz ihres Willens, recht zu handeln) schuldig wird, oder anders gesagt: dass es ein einfaches schuldloses Sein in der Welt für den Menschen nicht gibt.


    In der klassischen christlichen Theologie ist das die Auswirkung der 'Erbsünde' - der Mensch kann nicht schuldlos in der Welt sein, er hat die Fähigkeit verloren, nicht zu sündigen, er kann nicht nicht sündigen (non posse non peccare). Dieser Zustand ist die Folge des Sündenfalls und der Vertreibung aus dem Paradies, die Margaret (literarisch) gerade durchlebt. -- Vielleicht hat hier Elizabeth Gaskell einfach ein bisschen klassische Dogmatik von ihrem Herrn Papa gelernt und kreativ literarisch verarbeitet? :zwinker:

    Ich war die letzten Tage beruflich unterwegs (leider in diesem Jahr nicht in Leipzig... :sauer: ) und konnte daher nicht weiter schreiben.


    Nachdem sich der Roman jetzt bei mir ein paar Tage setzen konnte, lasse ich die Handlung Revue passieren. Der Roman beschreibt insgesamt einen Prozess des Erwachsenwerdens und des Reifens, der zugleich eine Vertreibung aus dem Paradies darstellt. Margaret verlässt das Paradies von Helstone, das Paradies der Sorglosigkeit und der Unschuld, wird aus dem Paradies der Familie vertrieben - parallel dazu löst sich die Gesellschaft aus dem (vermeintlichen) Paradies des sozialen Gleichgewichts der alten Ordnung und tritt in das Zeitalter neuer sozialer und wirtschaftlicher Konflikte ein. Margaret wird selbst mit einer neuen wirtschaftlichen und metaphysischen Unsicherheit konfrontiert, aber sie muss auch selbst ihren eigenen 'Dämonen' stellen. Sie begehrt zum ersten Mal einen Mann und sie verliert moralisch gesehen durch die Lüge ihre 'Unschuld'. Die Umarmung, auf die Du Volker anspielst, ist der selbst für Margaret überraschende Ausbruch einer Leidenschaft, derer sie sich noch gar nicht bewusst ist. Sie selbst ist ja ebenso verwirrt wie die Umstehenden und versucht daher, das Geschehene zu negieren bzw. ihm einen anderen Sinn zu geben. Aber auch die Lüge über ihre Anwesenheit am Bahnhof in der Dämmerung ist so ein Moment, das Margaret in eine neue Lebensphase bringt.


    Margaret muss lernen, für sich selbst, ihr Verhalten und ihre Impulse Verantwortung zu übernehmen, mithin einfach: erwachsen zu werden. Das finde ich doch sehr gelungen und überzeugend dargestellt. Und erst als sie diesen Prozess des Erwachsenwerdens durchlaufen hat, ist sie frei für ihre Bindung mit Mr Thornton. Das ist eigentlich auch ein sehr moderner Gedanke.


    Und dass der Roman mit einem nachgeradezu Bell'schen Augenzwinkern beendet wird und nicht mit einer großen kitschigen Umarmung, hat mir auch sehr gut gefallen. :zwinker:


    Nochmal zu den Cliffhangern in der Zeitschriftenausgabe, Volker und JHNewman, . Laut Wiki- Artikel zu "Norden und Süden" war Dickens, in dessen Zeitschrift Gaskell veröffentlichte, gar nicht zufrieden mit ihren Kapitelschlüssen und hätte sie gern viel dramatischer gehabt. Gaskell ließ sich da aber kaum reinreden,das spricht auch wieder für ihre Qualität und Eigenständigkeit.


    Ja! Echte 'Cliffhanger' sind es nicht, aber man merkt, dass jedes Kapitel die Handlung weitertreibt und keine Zeit vegeudet wird für längere Pausen oder Reflektionen. Und ich sehe es ähnlich: Die Widerborstigkeit von Ms. Gaskell gegenüber Herrn D. gereicht ihr zur Ehre. :breitgrins:

    …kann er so abgrundschlecht nicht sein, wenn die Gesinnung stimmt? :zwinker: Wie ist es im umgekehrten Fall, bei guter Literatur mit der "falschen" Gesinnung (Doderer, Jünger z. B.)? Rhetorische Fragen, die ich nicht beantworten kann und du nicht musst.


    :cool: :cool:


    Ich wollte damit nur andeuten, dass ein Roman ja durchaus mit Gewinn gelesen werden kann, auch wenn seine literarischen Qualitäten nicht so sehr hervortreten. Eine Geschichte kann es wert sein, erzählt zu werden. Und so geht es mir bei Jünger auch: ich kann erkennen, wie brillant er schreibt, ich sehe seine Meisterschaft, auch wenn ich mich mit seiner Haltung gar nicht identifizieren mag.



    Zitat

    Noch ein Wort zu Houellebecqs Unterwerfung: Du merkst kritisch an:



    Ein Widerspruch ja. Aber einer mit hohem historischen Wiedererkennungswert! Bzw. ein in der Geschichte leider häufig aufgetretenes Phänomen... wenn da nur Unrecht war und keine Empörung…(Brecht: An die Nachgeborenen)


    [/quote]


    Ich unterrhielt mich gestern auf einer Wanderung mit einem Houellebecq-Leser über dieses Phänomen. Wir waren uns darin einig, dass man häufig Veränderungsprozesse nicht wahrnimmt oder sie nicht als dramatisch erfährt, wenn man sie selbst durchlebt. Diesen Aspekt (die Darstellung der Passivitität und des Opportunismus) fand ich bei Houellebecq durchaus realistisch, sogar die Passivität angesichts dramatischer Veränderungen. War mir nicht plausibel erschien, war lediglich das Faktum, dass Frauen ihre Posten an den Universitäten räumen mussten, bloß weil ein Muslim Präsident wurde. Aber das ist eine Detailfrage der Handlung.

    Ich habe nun Kapitel 30 beendet.


    Insgesamt gefällt mir das Buch weiterhin sehr gut, wobei ich sagen muss, dass ich die längeren Passagen der wörtlichen Rede Higgins' oder Bessys nicht so ganz leicht zu lesen finde, da sie in einem etwas ungewöhnlichen Englisch verfasst sind.


    Margaret - es ist ja offensichtlich, dass die Autorin eine Figur wie Margaret braucht, die von außen in die Konflikte der Industrieregion hineinkommt, gleichmaßen zu allen Schichten Zugang hat und somit der Autorin die Möglichkeit gibt, aus einem Blickwinkel die verschiedenen Standpunkte zu beleuchten. Zugleich bringt die Hauptfigur durch ihr impulsives Verhalten immer wieder die Handlung voran. Sie interveniert im Streik, stellt sich den marodierenden Arbeitern entgegen, lädt kurzerhand Higgins nach hause ein und konfrontiert ihren Vater mit ihm, sie schreibt an ihren Bruder, ohne die möglichen Konsequenzen zu bedenken. Das hält mich als Leser bei der Stange, zugleich merkt man dem Roman aber an, dass er als Fortsetzungsroman konzipiert wurde und hier immer wieder neue Cliffhanger geschaffen werden mussten. Es muss sozusagen in jedem Kapitel ein neuer Konflikt entstehen, um das Interesse des Publikums wach zu halten. Die gelegentlichen Ausflüge ins rührselige Fach verzeihe ich der Autorin dabei recht gern. :zwinker:


    Ich stimme Dir, finsbury, darin zu, dass die Gesamtperspektive des Romans (jedenfalls bis Kap 30) doch recht unternehmerlastig ist. John Thornton vertritt eine radikal individualethisch geprägte Position. Die soziale Stellung des Menschen spielt für ihn keine Rolle (vgl. seine Kritik am Begriff des Gentlemans), hingegen nur, wie sich einer als 'Mann' verhält.


    Demgegenüber steht die Position von Higgins, der bereits sozialethisch denkt. Er erkennt, dass die sozialen Probleme nur gelöst werden können, indem Menschen sich auf gemeinsame Interessen verständigen und diese gemeinsam vertreten: "Our only chance is binding men together in one common interest." (S. 229). Die Methoden, mit denen die Gewerkschaft das versucht, sind zwar zweifelhaft (soziale Ausgrenzung von Nichtmitgliedern). Aber insgesamt steht hier doch der Paternalismus alter Schule gegen einen Ausgleich sozialer Interessen. Und da scheint mir, dass die Autorin den Paternalismus der Unternehmer zu sehr verteidigt. Sie muss das natürlich gewissermaßen tun, da einer ihrer Hauptcharaktere schließlich noch zum Schluss mit der Protagonistin verheiratet werden soll, also darf er nicht zu böse daherkommen. Und man darf vielleicht auch nicht außer acht lassen, dass die Leser von Frau Gaskells Romanen insgesamt wohl eher der Oberschicht zuzurechnen waren, mithin eine Identifikation mit den Unternehmern die natürliche Prädisposition war.


    Man muss wohl ziemlich weit laufen, nämlich bis nach Russland und zu Tschernyschewkis Roman 'Was tun' (Tschto delat') aus dem Jahr 1863, um eine radikal andere Sicht auf die unternehmerischen Verhältnisse in der Literatur der Zeit zu finden. Aber vielleicht kennt jemand andere Beispiele??


    Eine leichte Enttäuschung hat sich eingestellt nach dem Gespräch zwischen Higgins, Mr. Hale und Margaret. Was zu einer interessanten Diskussion hätte werden können, kommt auf den ersten Blick doch daher wie ein recht plumper Missionsversuch der treuen Anhängerin der C of E und des Dissenters Mr. Hale an dem 'ungläubigen' Higgins. Aber vielleicht entwickelt sich diese Sache in einem der nächsten Kapitel noch besser.

    Oh pardon, verkürzte Kommunikation! Also: Ich wollte einem vorschnellen, eventuell ungerechten Urteil über sein Werk vorbeugen durch Lektüre immer weiterer Romane. :zwinker: Die Geschwister Oppermann fand ich noch anstandslos gut, die historischen Romane Jud Süß, Josephus -Trilogie, Jüdin von Toledo, Goya etc dann - wenn auch nicht uninteressant zu lesen - zunehmend eher kolportagehaft und nahe am Trivialroman. (Feuchtwanger ist für mich der Vater der Romane a la Der Medikus und Die Wanderhure). Ich las quasi gegen mein Unbehagen an, immer in der Hoffnung, dass dieser rennomierte, einflussreiche Schriftsteller mir in seinem nächsten Buch doch gefallen möge. Leider erfolglos. Bei der Lektüre des Schlüsselromans Erfolg habe ich dann entnervt aufgegeben und den Wälzer halbgelesen beiseite gelegt.


    Habe gerade Sebalds Ein Kadisch für Österreich - Über Joseph Roth noch einmal gelesen- als Gegenzauber sozusagen gegen den Weidermann’schen Firlefanz.


    Ah, Gontscharow, danke für diesen Begriff. "Firlefanz" - das ist so wunderbar treffend! :klatschen: :klatschen:


    Im Hinblick auf Feuchtwanger kann ich Dir nicht widersprechen. Seine Romane sind nicht brillant. Allerdings möchte ich für ihn gerne in die Wagschale werfen, dass er viele Themen und Entwicklungen sehr hellsichtig und klar beschreibt. Die Wartesaal-Trilogie halte ich für ein wichtiges historisches und soziales Zeugnis der Zeit. Natürlich macht die richtige Gesinnung keinen schlechten zu einem guten Roman, aber immerhin kann ich sagen, dass ich von seinen Büchern auch profitiert habe. Stilistisch hingegen gibt es daran viel auszusetzen.

    Stimmt, da funktioniert es!
    Sunset von Klaus Modick kenne ich nicht. Lohnt das? Ich muss dazu sagen, dass ich Feuchtwangers Romane, obwohl fast alle quasi vorbeugend gelesen, doch nicht besonders mag.


    Ja, Sebald. Aber der ist ja auch eine Klasse für sich.


    Modick habe ich gerne gelesen. Aber es ist sicher kein Buch, das man kennen muss. Was meinst Du mit der 'vorbeugenden' Lektüre der Romane Feuchtwangers? :zwinker:

    Ich habe heute die Gaskell-Lektüre mal unterbrochen, um den letzten Roman von der Nominierungsliste zu lesen: Norber Scheuer, Die Sprache der Vögel.


    Nun kann ich sagen: Meines Erachtens sollte Michael Wildenhains Roman 'Das Lächeln der Alligatoren' den Preis bekommen. Das ist m. E. der thematisch und erzählerisch eindrucksvollste Beitrag auf der Nominierungsliste. Norber Scheuers Buch wäre auch ein würdiger Preisträger, kommt aber nicht ganz an Wildenhains Roman heran. Scheuers Buch lebt sehr stark von der Kontrastierung der Vogelbetrachtung (es sind auch zahlreiche wunderschöne Illustrationen im Buch, die Scheuers Sohn Erasmus beigesteuert hat) mit dem grausamen Geschehen im Afghanistan-Krieg. Als Roman bietet es aber deutlich weniger als Wildenhains Buch.


    Kleine Fußnote: Das Buch ist erst dieser Tage erschienen. Als ich heute bei meiner Buchhandlung nachfragte, ob es denn schon da sei, holte die Buchhänderin es verschämt aus der Natur-Ecke. Angesichts der tagebuchartigen Struktur und der Illustrationen meinte sie beim Einräumen, es gehöre wohl doch eher zu den vogelkundlichen Sachbüchern... :breitgrins:


    Die Bücher von Ursula Ackrill und Teresa Präauer konnten mich leider nicht überzeugen. Den Gedichtband habe ich nicht gelesen. Jetzt gewinnt bestimmt DER. :zwinker:


    Jetzt geht es aber weiter mit North and South.

    Zum Glück hat er das nicht! Mir sind solche Fiktionalisierungen äußerst suspekt, "parasitär" hat Luis Borges sie einmal genannt.


    Guten Literaten erlaube ich das. Ich denke nur an die hinreißende Novelle 'Das Treffen in Telgte' von Günter Grass, oder meinetwegen Christa Wolf mit Kein Ort.Nirgends (zu Kleist), gerne auch Klaus Modick und sein Sunset etc. Nur finde ich es hier nicht besonders geglückt, aber das scheint Dir ja ähnlich zu gehen.

    Ich wollte dir bezüglich der Satire erst widersprechen und beim nochmals lesen deines Beitrags gemerkt, dass du es NICHT überzeugend als Satire fandest. Dem kann ich nur zustimmen. Ich fand die Lektüre und die Darstellung eines möglichen islamischen Frankreichs (oder Europas) interessant, hatte mir aber aufgrund der Berichterstattung fast etwas mehr erhofft. Insgesamt hat sich das Buch gelohnt zu lesen, aber inhaltlich und stilistisch fand ich es teilweise etwas durchwachsen. Manches erklärt er sehr detailliert, dann wird wieder mehr skizziert...(politisch) kontrovers wird es eigentlich erst auf den letzten 50 Seiten. Dennoch fand ich die Ruhe/Gelassenheit/Gleichgültigkeit der Bürger im Ganzen als nicht ganz nachvollziehbar. Die (individuelle) Haltung François schon eher. Die Möglichkeit bzw. Wahrscheinlichkeit so einer Realität ist nochmals eine ganz andere Diskussion.


    Darin lag für mich auch einer der Widersprüche im Roman: Dass Houellebecq einerseits einen radikalen Wechsel beschreibt (Frauen verlieren innerhalb von wenigen Wochen ihre Stellen an Universitäten etc. - das hielt ich für grob unrealistisch), andererseits aber eine enorme Passivität und einen enormen Opportunismus in bestimmten Kreisen. Für ein nettes Gehalt und ein paar minderjährige Nebenfrauen kriegt man offenbar eine Menge Leute... :zwinker:


    Was ich ganz interessant finde, ist, dass die Hales sich ja als etwas besseres vorkommen, weil sie aus dem "aristokratischen Süden" sind und diese Atmosphäre harter Arbeit nicht kennen. Sie sind ja auch ein bißchen irritiert über die Vergangenheit der Thorntons, auch wenn Margaret anerkennt, dass John Thornton sich aus eigener Kraft nach oben gearbeitet hat. (Wobei Mrs Hale an der alten Spitze, die Mrs Thornton trägt, erkennt, dass die Familie doch einmal wohlhaben gewesen sein muss.)


    Im Gegensatz dazu denken die Thorntons (v.a. Johns Mutter), dass sie die weitaus höher gestellten sind, da Hale ja nur ein Hauslehrer ist und quasi schon fast zu den Dienstboten gehört. Also hält sich jeder für besser als es der andere ist...


    Thopas, das finde ich auch bemerkenswert. Es gibt ja auf beiden Seiten einen gewissen Dünkel und ein leicht aggressiv gefärbtes 'Klassenbewusstsein'. Auch die Arbeiterklasse und die Schicht der Industriellen (the Masters) beharren jeweils forsch auf ihrer Identität und grenzen sie gegenüber den aristokratisch geprägten 'Southerners' ab.


    Aus einer bürgerlich deutschen Sicht ist dies schon etwas ungewöhnlich. Einen Konflikt zwischen Aristokratie, Bürgertum und Industrie im Hinblick auf das Standesbewusstsein kannte man hier sicherlich auch (man denke nur an die hinreißenden Passagen in Fontanes 'Frau Jenny Treibel'), aber ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein der Arbeiterklasse VOR den großen sozialen Bewegungen wie Kommunismus und Sozialdemokratie war aber m. E. doch eher ungewöhnlich.

    Oh, mit dem Hörbuch habe ich auch schon geliebtäugelt. Ist es denn ein Negativpunkt, dieses sachbuchartige?
    Gerade höre ich "1913" von Florian Illies, das gefällt mir bisher ausgesprochen gut.


    "Unterwerfung" habe ich auch ausgelesen. Weiter geht es mit "Mrs. Dalloway" von Virginia Woolf.


    Hallo Elinor,


    wie ging es Dir mit Houellebecq? Ich fand das ganz interessant zu lesen, aber letztlich inhaltlich und auch als Satire nicht wirklich überzeugend.


    Zu Weidermann: Ich hatte eine Novelle erwaret. Frag mich nicht, warum. Irgendwoher hatte ich im Kopf, dass er eine Novelle zu Stefan Zweig und Joseph Roth geschrieben habe. Daher wunderte ich mich, als die sachliche Exposition so gar kein Ende zu nehmen schien. :zwinker: Es ist schon nicht uninteressant, man erfährt eine Menge über Roth und Zweig, Keun, Koestler und eine Menge andere Leute. Ulrich Noethen liest es auch sehr gut. Was mir allerdings zunehmend auf die Nerven geht, ist die aufgesetzte Schönschreiberei von Herrn Weidermann. Das ist effekthascherisch und auf die Dauer einfach etwas ermüdend, ohne wirklich Substanz zu bieten.


    Nur so als Beispiel: Volker Weidermann kann nicht einfach schreiben:
    "Nachmittags treffen sich die Exilanten sich im Café am Boulevard und trinken gemeinsam Wein."


    Bei ihm klingt das dann so:
    "Nachmittags trifft man sich. Im Café. Unter der Markise am großen Boulevard. Da sitzen sie: die Exilanten, die Vertriebenen, die Heimatlosen. Wie jeden Tag. Und trinken. Trinken Wein. Trinken Wermuth. Trinken Schnaps. Und reden. ... usw."

    Ich bin nicht sehr viel weiter gekommen.


    Kapitel 15 ist aber für mich ein erster großer Höhepunkt des Romans: Ein Streitgespräch zwischen Margaret und Mr. Thornton zur 'Klassenfrage'. Hier prallen die Positionen ganz hart aufeinander. Mr Thornton vertritt den Standpunkt des autoritären Kapitalisten, der die von ihm abhängigen Schichten despotisch beherrschen will und sogar vor dem unsäglichen Vergleich mit Cromwell nicht zurückschreckt ("ein Cromwell wäre der richtige, um die Lage zu beherrschen" - sinngemäß).


    Margaret hingegen denkt in den Kategorien einer partnerschaftlichen Beziehung zwischen den Klassen - Fabrikanten und Arbeiter sind voneinander abhängig. Die einen brauchen Lohn und Arbeit, die anderen die Arbeiter, um ihre Fabriken zu betreiben. Daher wäre ein Verhältnis der gegenseitigen Fürsorge und Verantwortung angemessen. Auch erwähnt sie das Konzept des 'stewardship' i.e. den Reichen ist ihr Reichtum nur anvertraut, es ist somit nicht in ihr Belieben gestellt, wie sie damit verfahren, sie sind letztlich einer höheren Autorität verpflichtet. In Margarets Argumentation klingt der christliche Gedanke durch, wie er etwa durch John Wesley und den Methodismus sehr stark in den sozialen Konflikten der britischen industriellen Revolution vertreten wurde.


    Auch wenn sie angesichts der sozialen Probleme möglicherweise etwas naiv erscheint, so kommt Mr Thornton doch in erster Linie hart und selbstgerecht daher. Trotz der harten sachlichen Gegensätze scheint am Ende so etwas wie Sympathie zwischen den beiden auf.


    Im folgenden Kapitel 16 bewahrheiten sich dann die schlimmsten Befürchtungen hinsichtlich des gesundheitlichen Zustandes von Mrs. Hale. Bemerkenswert finde ich aber, dass in diesem Kapitel das Gegenmodell zu den autokratischen Herrschaftsvorstellungen von Mr Thornton gezeigt wird: Trotz aller Konflikte zwischen Dixon und der Familie wird doch deutlich, dass die Hausangestellte und ihre Arbeitgeber in einer fürsorglichen Beziehung zueinander stehen.

    Mr. Hales "Zweifel": Es ist ein wenig unbefriedigend für den Leser, dass nicht klipp und klar gesagt wird, warum genau Mr. Hale denkt, er könne kein Pfarrer mehr sein. Schließlich ist der Wegzug der Familie Hale aus Helstone der Ausgangspunkt für die gesamte nachfolgende Handlung. Anfangs war ich von der Erklärung aus der BBC-Verfilmung beeinflusst und dachte, es ginge um spezielle Formulierungen in der Liturgie, mit denen sich Hale nicht mehr identifizieren kann. Aber das Zitat des Mr. Oldfield und Mr. Hales Aussage, dass er die Kirche so liebe, haben mich dazu gebracht, zu glauben, dass es um pure Selbstzweifel geht. Mr. Hale hält sich nicht mehr für würdig und dazu berufen, anderen Menschen im Namen Gottes zu predigen und sie zu segnen.
    Wie gesagt, geht der eigentliche Grund m. E. nicht eindeutig aus dem Text hervor. Bemerkenswert ist jedenfalls die Tatsache, dass die Macher der BBC-Verfilmung es für nötig gehalten haben, den Punkt auszuschmücken und zu verdeutlichen.


    Ah, interessant! :winken:


    Die BBC-Verfilmung kenne ich nicht. Dass das alles etwas unmotiviert daher kommt, finde ich auch, zumal jetzt in den folgenden Kapiteln das Thema gar nicht mehr angeschnitten wird (aber da kommt vielleicht noch mehr).


    Mr. Hale erwähnt in seinem Offenbarungsgespräch mit Margaret ja eine Option, die er geprüft habe: die angebotene neue Pfarrstelle auszuschlagen und still in Helstone als Geistlicher seine Tage zu beschließen. Dies hätte ihn der Notwendigkeit enthoben, die 'conformity to the Liturgy' noch einmal zu erklären. Allerdings verwirft er diese Option aus Gründen der Wahrhaftigkeit. Dass es immerhin eine Option war, scheint mir darauf hinzudeuten, dass es nicht nur um Selbstzweifel geht, sondern doch um Zweifel an irgendetwas, das in der Declaration of Assent benannt wird, das also liturgischer oder dogmatischer Natur ist.


    Aber was dann in der Tat verwundert: Mr. Hale scheint keinerlei Anschluss an andere Dissenter zu suchen. Sollte er in die unitarische Richtung tendieren, könnte er doch in Milton ein entsprechende Gemeinde aufsuchen... Es bleibt also ein bisschen rätselhaft.

    Ich habe jetzt Kapitel 14 beendet.


    Bisher hat sich eine sehr schöne Konstellation eingestellt, die sehr interessante Konflikte erahnen lässt.


    Da ist Margaret, die im Sinne der alten aristokratischen Philanthropie auf die sozialen Probleme eingeht, die sich ihr in Milton präsentieren. Da ist der interessante Mr. Thornton, der ganz im Sinne der kapitalistischen Ethik (Sparsamkeit - Leistungswille - Lebensdisziplin) argumentiert. Und Mr. Higgins, der einen praktisch-rationalen Materialismus vertrirtt ("ich glaube nur an das, was ich weiß und sehe"), aber eine schwerkranke Tochter hat, die unter 'methodistischen Fantasien' leidet. :breitgrins:.


    Besonders schön fand ich auch eine Stelle am Ende eines der früheren Kapitel (war es bei der Übernachtung in London auf dem Weg nach Milton?), in der Margaret nach nach der Überlegung zum mitleidslosen Kosmos (wir hatten die Stelle oben besprochen) auch die Mitleidslosigkeit der Gesellschaft empfindet.


    Und noch eine Beobachtung: Beim Besuch bei den Higgins' erzählt Margaret Bess von ihrem Leben in Helstone - und es wird sofort deutlich, dass sie bisher nur eine Zuschauerin des Lebens war, während sie jetzt in Milton zu einer Handelnden wird.