Ich habe nun Kapitel 30 beendet.
Insgesamt gefällt mir das Buch weiterhin sehr gut, wobei ich sagen muss, dass ich die längeren Passagen der wörtlichen Rede Higgins' oder Bessys nicht so ganz leicht zu lesen finde, da sie in einem etwas ungewöhnlichen Englisch verfasst sind.
Margaret - es ist ja offensichtlich, dass die Autorin eine Figur wie Margaret braucht, die von außen in die Konflikte der Industrieregion hineinkommt, gleichmaßen zu allen Schichten Zugang hat und somit der Autorin die Möglichkeit gibt, aus einem Blickwinkel die verschiedenen Standpunkte zu beleuchten. Zugleich bringt die Hauptfigur durch ihr impulsives Verhalten immer wieder die Handlung voran. Sie interveniert im Streik, stellt sich den marodierenden Arbeitern entgegen, lädt kurzerhand Higgins nach hause ein und konfrontiert ihren Vater mit ihm, sie schreibt an ihren Bruder, ohne die möglichen Konsequenzen zu bedenken. Das hält mich als Leser bei der Stange, zugleich merkt man dem Roman aber an, dass er als Fortsetzungsroman konzipiert wurde und hier immer wieder neue Cliffhanger geschaffen werden mussten. Es muss sozusagen in jedem Kapitel ein neuer Konflikt entstehen, um das Interesse des Publikums wach zu halten. Die gelegentlichen Ausflüge ins rührselige Fach verzeihe ich der Autorin dabei recht gern. :zwinker:
Ich stimme Dir, finsbury, darin zu, dass die Gesamtperspektive des Romans (jedenfalls bis Kap 30) doch recht unternehmerlastig ist. John Thornton vertritt eine radikal individualethisch geprägte Position. Die soziale Stellung des Menschen spielt für ihn keine Rolle (vgl. seine Kritik am Begriff des Gentlemans), hingegen nur, wie sich einer als 'Mann' verhält.
Demgegenüber steht die Position von Higgins, der bereits sozialethisch denkt. Er erkennt, dass die sozialen Probleme nur gelöst werden können, indem Menschen sich auf gemeinsame Interessen verständigen und diese gemeinsam vertreten: "Our only chance is binding men together in one common interest." (S. 229). Die Methoden, mit denen die Gewerkschaft das versucht, sind zwar zweifelhaft (soziale Ausgrenzung von Nichtmitgliedern). Aber insgesamt steht hier doch der Paternalismus alter Schule gegen einen Ausgleich sozialer Interessen. Und da scheint mir, dass die Autorin den Paternalismus der Unternehmer zu sehr verteidigt. Sie muss das natürlich gewissermaßen tun, da einer ihrer Hauptcharaktere schließlich noch zum Schluss mit der Protagonistin verheiratet werden soll, also darf er nicht zu böse daherkommen. Und man darf vielleicht auch nicht außer acht lassen, dass die Leser von Frau Gaskells Romanen insgesamt wohl eher der Oberschicht zuzurechnen waren, mithin eine Identifikation mit den Unternehmern die natürliche Prädisposition war.
Man muss wohl ziemlich weit laufen, nämlich bis nach Russland und zu Tschernyschewkis Roman 'Was tun' (Tschto delat') aus dem Jahr 1863, um eine radikal andere Sicht auf die unternehmerischen Verhältnisse in der Literatur der Zeit zu finden. Aber vielleicht kennt jemand andere Beispiele??
Eine leichte Enttäuschung hat sich eingestellt nach dem Gespräch zwischen Higgins, Mr. Hale und Margaret. Was zu einer interessanten Diskussion hätte werden können, kommt auf den ersten Blick doch daher wie ein recht plumper Missionsversuch der treuen Anhängerin der C of E und des Dissenters Mr. Hale an dem 'ungläubigen' Higgins. Aber vielleicht entwickelt sich diese Sache in einem der nächsten Kapitel noch besser.