Beiträge von finsbury

    Den Lese-Alzheimer kenne ich auch! Je länger eine Lektüre her ist, aus der Jugend oder jungen Erwachsenenzeit, desto besser erinnere ich mich, aber viele in den letzten dreißig Jahren gelesenen sind mir aus dem Gedächtnis gewichen, allerdings vor allem Unterhaltungsliteratur, weil ich zu denen nichts schreibe. Schreiben hilft mir wirklich, mich besser zu erinnern.

    Zefira, ich kann gut nachvollziehen, was dich zu den Zweitlektüren treibt. Bei mir soll der Anteil auch höher werden, aber ich habe auch noch so viele ungelesene "Klassiker" (dem Alter nach) in meinen Regalen, dass die Zweitlektüren sich doch in Grenzen halten. Und meine geliebtesten Romane sind allesamt dicke Brummer: die Dostojewskijs, Doderers, Stifters, Thomas Manns, Dickens, Tolstois usw. usw. Da geht schon viel Zeit flöten, wenn auch in angenehmster Gesellschaft.

    Ja, das ist ein Problem! Wahrscheinlich würde er heute auch den Kickl gut finden. Ach, es ist schon schade, wenn solche genialen Autoren politisch so kurzsichtig und undemokratisch sind.

    Ich musste auch direkt an den "Herrn der Fliegen " denken, als ich das Thema des Verne-Romans erlesen habe. Aber das sind eher Antagonisten, diese beiden Romane. In Verne geht es darum, wie Zivilisation trotz Gefährdung auch in einer kleinen Gruppe sehr junger Menschen entstehen kann, und in Goldings Roman, den ich aber noch nicht , sondern nur über ihn gelesen habe, scheint ja genau das Gegenteil thematisiert zu werden, wie sich eben kaum erlernte Zivilisation auflöst und einem aggressiven "Natur"zustand weicht.

    Jules Verne: Zwei Jahre Ferien (1888)

    Dieser Roman um eine Gruppe von Jugendlichen und Kindern des berühmten französischen Romanciers Jules Verne 1828-1905) ist eine Robinsonade, wie auch einige andere Bücher des Autors (z.B. Die Schule der Robinsons, 1885).

    Inhalt:
    1860 schiffen sich 15 Jungen zwischen acht und vierzehn Jahren des Internats Chairman, Auckland, Neuseeland, in den Sommerferien als Belohnung für ihre guten schulischen Leistungen auf dem Schoner „Sloughi“ ein, um eine Rundtour um die beiden neuseeländischen Inseln zu machen. Am Abend vor dem Start sind die Kinder allein auf dem Schiff, da die Mannschaft sich noch einen feuchtfröhlichen Abschiedsabend an Land macht. Durch einen zunächst ungeklärten Vorfall löst sich das Schiff von der Mole und treibt in den offenen Pazifik ab. Ohne einen Erwachsenen an Bord müssen die Jungen einen mehrtägigen Sturm aushalten, der sie schließlich an ein unbekanntes Ufer wirft. Selbst unbeschadet müssen die Jungen den Verlust des zertrümmerten Schiffes hinnehmen, können aber das Wrack ausräumen und auch alles retten, was ihnen das Überleben leichter macht, neben Konserven vor allem Kleidung, Waffen und Baumaterial.

    Die Jungen erkunden das Land und müssen nach einiger Zeit des Erforschens feststellen, dass sie auf einer zwar großen, aber unbewohnten Insel gelandet sind, von der aus man nur in weiter Ferne weiteres Land vermuten kann. Dennoch bietet ihr neuer Lebensraum alles, was das Überleben möglich macht: Es gibt einen großen See in der Inselmitte, zahlreiche Tiere, essbare Pflanzenteile und sie finden eine Höhle in der Nähe des Sees, die von einem früheren schiffbrüchigen Franzosen angelegt worden war, der auch eine Karte und Aufzeichnungen hinterlassen hat.

    Das Leben auf der Insel wird durch die harten Winter beeinträchtigt, da die Insel, wie die Jungen richtig vermuten, vor der südwestlichen Küste Südamerikas, also im Einzugsgebiet antarktischer Luftströmungen, liegt. Mehr noch leidet die Gemeinschaft unter der Rivalität unter zwei älteren Mitgliedern der Gruppe, dem stolzen, aus einer reichen englischen Familie stammenden Boniphan und dem französisch stämmigen Briant, den Jules Verne seinem jugendlichen Freund und späteren französischen Ministerpräsidenten Aristide Briand nachgezeichnet hat. Briant und sein drei Jahre jüngerer Bruder Jacques tragen neben dem 14jährigen Amerikaner Gordon und dem Schiffsjungen Moko viel zum Überleben auf der Insel bei.

    Im zweiten Jahr landet eine Schaluppe voller Piraten an der Ostküste der Insel, und die Jungen müssen diese mithilfe zweier erwachsener Gefangener, die sich aus der Gewalt der Piraten befreien konnten, besiegen, da die Piraten ihre Schaluppe mit den Vorräten der Jungen reparieren und beladen und dafür die Kinder töten wollen. Es gelingt, die Feinde zu beseitigen. Nach der Reparatur der Schaluppe reist die Gruppe Richtung Südamerika, begegnet auf dem Weg einem australischen Dampfer, wird von diesem nach Auckland zurückgebracht und von den Eltern und der ganzen Stadt, die sich das unerklärliche Verschwinden der Jungen nie erklären konnte (Jacques hatte aus Spielerei die Taue gelöst) , begeistert wieder in Empfang genommen.


    Stil und meine Meinung

    Der Roman ist von seiner Thematik und seinen Protagonisten her ein typischer Jugendroman. Allerdings benutzt Verne wohl in der Originalausgabe sehr viele botanische und zoologische Fachbegriffe, was die Lektüre einer unbearbeiteten Ausgabe für Jugendliche etwas anstrengend machen könnte. Ich habe mir meine Ausgabe auf einem Bücherflohmarkt in Frankfurt an der Oder gekauft, wo Bestände der Stadtbibliothek veräußert wurden. Diese Ausgabe verzeichnet keinen Übersetzer und ist bearbeitet, so dass ich keine Schwierigkeiten mit lateinischen Fachbegriffen hatte. Dennoch finde ich, dass dieser Roman einer der schwächeren von Verne ist, weil er sich einerseits minutiös mit dem Aufbau einer sowohl materiell als auch sozial funktionierenden Kleinstgesellschaft beschäftigt, was sicher interessant ist, aber wenig für Spannung sorgt. Auch der Konflikt zwischen Boniphan und Briant und der Sieg über die Piraten werden zu wenig ausgeführt, als dass sie für atemlose Spannung sorgen. Zusätzlich machen einige Bemerkungen zum Umgang mit Moko, der als Farbiger kein Mitspracherecht hat und ganz selbstverständlich mit dienenden Aufgaben betraut bleibt, dem heutigen Leser wenig Freude. Kann man lesen, aber es gibt Besseres von Verne.

    Vult, darüber haben wir weiter oben etwas diskutiert: Gustav Meyrink, der Prager Autor, der den "Golem" geschrieben hat, übersetzte sechs Romane bzw. Erzählbände von Dickens, u.a. den Copperfield. Ich finde diese Übersetzung, ohne das englische Original zu kennen, in sich stimmig und auch heute noch gut zu lesen. Die Ausgabe von Melanie Walz ist noch irre teuer. Für mich ist auch immer die Frage, ob es einem älteren Roman immer so gut tut, ihn auf ein zeitgemäßeres Sprachniveau zu bringen. Der Roman stammt aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, da kann eine Übersetzung ruhig auch ein bisschen "altmodisch" sein, solange sie nur den Geist der Vorlage nachempfindet und natürlich dicht an der Vorlage bleibt.

    Nun habe ich eine Schnitzler- Biogafie gelesen, die mich etwas ratlos zurücklässt.


    Hartmut Scheible: Schnitzler (Rowohlts Bildmonografien, 1976)


    Inhalt

    Arthur Schnitzler wurde 1862 in Wien als Sohn des jüdischen Arztes und Klinikchefs Prof. Dr. Johann Schnitzler und seiner Frau Louise Schnitzler geboren. Vom Vater für die Nachfolge bestimmt studierte er Medizin und arbeitete auch lange in diesem Beruf. Nebenbei baute er sich aber auch eine schriftstellerische Karriere auf, bei der in den ersten Jahrzehnten seines Schaffens die Dramatik in ihrer öffentlichen Wirkung überwog. Schnitzler verarbeitet in seinen Werken die grundlegende Unstimmigkeit seiner Epoche, die einerseits an den überkommenen patriarchalischen Machtverhältnissen mit ihrer monarchisch - feudalen Struktur sowie dem aufklärerischen Gestus des liberalen Bürgertums festhielt und andererseits aber durch die Industrialisierung und Verstädterung, das Aufkommen neuer Gesellschaftsschichten und die explosionsartige Entwicklung der Wissenschaften zu einer Orientierungslosigkeit bzw. zu einer Flucht in Ideologien führte, seien diese nun nationalistisch-rassistisch oder positivistisch, weil viele Menschen die Diskrepanz nicht anders verarbeiten konnten. Schnitzler nahm sich nun in diesem Umfeld sehr oft literarisch der Geschlechterbeziehung an und enthüllte in seinen Dramen und seiner Prosa die Hohlheit der überkommenen Beziehungen in Ehe und Liebschaft, innerhalb und zwischen den Gesellschaftsschichten. Dabei gelingen ihm gekonnte Portraits gebrochener Persönlichkeiten, wie zum Beispiel „Leutnant Gustl“ und „Fräulein Else“. Vor allem bei den Frauencharakteren stellt er einfühlsam die Einwirkung der gesellschaftlichen Verhältnisse auf das Leben und die Psyche der Protagonistinnen dar, denen meist die Möglichkeit des selbstbestimmten Lebens versagt ist. Die tiefgehende Analyse der psychischen Persönlichkeit weisen Schnitzler als einen Zeitgenossen Freuds aus, der aber sich weigert, das Unbewusste als schicksalhaften Einflussfaktor zu akzeptieren. Schnitzlers große Zeit der öffentlichen Anerkennung liegt in dem Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg, wo die Aufführung seiner Werke, insbesondere des „Reigens“ und der „ Liebelei“ zu regelrechten Theaterskandalen führt. Nach dem Krieg kann Schnitzler, obwohl hier entscheidende Prosawerke - wie „Fräulein Else“ und die „Traumnovelle“ – entstehen, nicht mehr an frühere Erfolge in der Öffentlichkeit anknüpfen. Vom Selbstmord seiner Tochter Lilli 1928 zutiefst erschüttert, erholt er sich davon nicht mehr und stirbt 1931 an einer Gehirnblutung.


    Zur Gestaltung und meine Meinung

    Scheible ist ein beinharter Literatursoziologe, der in seiner Darstellung Schnitzlers weniger dessen Lebensereignisse und -eindrücke als die Analyse seiner Stücke aus der entsprechenden Richtung zugrunde legt. Ich halte die Literatursoziologie – in Kombination mit anderen Interpretationsansätzen – für eine legitime und sinnvolle Art der Herangehensweise an literarische Werke, aber in dieser Biografie fehlt mir so ziemlich das Biografische, das ja nun jenseits der gesellschaftlichen Verhältnisse auch Einfluss auf das Werk nimmt. Zusätzlich erschwert wird die Lektüre durch den typischen literatursoziologischen Duktus, der zwar auch mein Studium bestimmte, aber dennoch ziemlich anstrengend war und ist. Ich schätze diesen Band trotzdem, weil ich ihn nach der Lektüre weiterer Werke Schnitzlers bestimmt noch öfter in die Hand nehmen werde, um Scheibles Interpretationsansätze mit meinen eigenen Leseeindrücken zu vergleichen, aber er lässt mich in Bezug auf die sehr interessante Persönlichkeit Schnitzlers und seine privaten Lebensumstände etwas orientierungslos zurück.

    Sag ich doch! Wir haben schon tolle Übersetzer, die selber gute Schriftsteller waren. Man denke auch an Voss mit seinen Homer-Übersetzungen, den ich gerade erst als eigenständigen Autoren entdeckt habe. Oder der hier erfreulicherweise allseits geschätzte Wieland oder die Shakespeare-Romantiker ... .

    "Little Dorrit" habe ich noch ungelesen vor mir, wobei ich meine, gehört zu haben, dass dieses Werk ein bisschen sehr viel Taschentuch-Verbrauch erfordert, was ihn etwas nach hinten rückt.
    Zu der Band "Uriah Heep" bin ich auch in der gleichen Zeit gekommen wie zu der Lektüre des David Copperfield, und ich höre hin und wieder immer noch gerne die Stücke dieser tollen Band.
    Meine Auswahl-Dickens-Ausgabe ist die vom Manufactum Verlag lizensierte sechsbändige Zweitausendeins-Ausgabe der Meyrink-Übersetzungen, auch sehr schön in Leinen gebunden und mit Fadenheftung.

    Charles Dickens: David Copperfield (1848)
    Dieser umfangreiche (in meiner von Gustav Meyrink übersetzten Version 950 Seiten dicke) Roman wurde von Dickens (1812-1870) selbst von allen seinen Werken am meisten geschätzt, wahrscheinlich auch, weil er in ihm sehr viel Autobiografisches verarbeitet hat.


    Inhalt

    David Copperfield wächst als Halbwaise an der Seite seiner jungen hübschen Mutter und der ihnen beiden sehr zugetanen Kinderfrau Peggotty in Suffolk auf. Seine frühe Kindheit ist friedlich und schön. Aber als David ungefähr sechs ist, verliebt sich die Mutter in den Geschäftsmann Mr. Murdstone und heiratet ihn. Während der Braut- und Hochzeit besucht David zusammen mit Peggotty deren Bruder, einen Fischer in dem Küstenort Yarmouth, und dessen zusammengewürfelte „Familie“, die Witwe seines Partners Mrs. Gummidge, die adoptierte Waise Emily und den Neffen Ham. David fühlt sich dort sehr wohl, doch als er zurückkommt, wohnen Mr. Murdstone und seine Schwester im Haus der Mutter und unterdrücken diese und nun auch David in massiver Weise. Er, der immer gerne gelernt hatte, wird durch sinnloses Auswendiglernen unter Androhung von Strafen immer unkonzentrierter und zieht den Zorn beider Murdstones auf sich. Wenn die Mutter David freundlich behandelt, wird sie scharf verwiesen und ist schließlich völlig eingeschüchtert und abhängig von ihnen. Irgendwann kann David es nicht mehr aushalten und verletzt Murdstone - durch dessen Grausamkeiten aufgestachelt - an der Hand. Als Folge wird er in das Internat Salemhouse in der Nähe von London verfrachtet. Hier ist es kaum besser: Das Haus wird von dem eingebildeten und brutalen Mr. Creakle geleitet, der alle Jungen bis auf den älteren James Steerforth, einen hübschen und freundlichen, aber auch sehr selbstverliebten Jüngling, maßlos verprügelt. Der kleine David, immer noch kaum älter als sieben oder acht Jahre, findet trotz der gewalttätigen Atmosphäre in Steerforth einen eigennützigen, aber dennoch gutmütigen Beschützer und einen weiteren Freund in Tom Traddles, der durch seine fröhliche, ungeschickte Art besonders viele Prügel auf sich zieht. In den Sommerferien kommt David zurück zu seiner Mutter. Diese hat inzwischen ein Baby und steht völlig unterwürfig unter der Knute der beiden Murdstones. Kurze Zeit später sterben sie und das Baby an Schwäche und fehlender Zuwendung . Murdstone sieht nun nicht mehr ein, Geld in Davids Bildung zu investieren und gibt ihn seinem Kompagnon Quinion als Arbeitskraft für die gemeinsame Weinhandlung nach London mit. Der immer noch weniger als zehnjährige Junge muss nun Schwerstarbeit im Lager der Handlung verrichten und bekommt kaum genug Geld, um sich ein karges Mahl selbst zu besorgen. Untergebracht wird er bei Mr. Micawber und dessen Familie, die kurz vor dem Schuldgefängnis stehen, weil sich Micawber durch Schuldverschreibungen immer mehr in den pekuniären Schlamassel herabzieht. Der zwischen himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt schwankende großsprecherische Micawber und seine Angehörigen führen ein ständig zwischen übertriebenen Gelagen, wenn sie wieder einen Kredit bekommen haben, und verzweifelten Hilferufen hin und her getriebenes Leben, an dem David mitleidig Anteil nimmt und schließlich die Familie im Schuldgefängnis häufig besucht, wohin diese dann doch kommt. David, der in immer prekärere Verhältnisse gerät, beschließt mit zehn Jahren, die Weinhandlung zu verlassen und zu seiner Tante nach Dover zu wandern, der Schwester seines Großvaters väterlicherseits. Diese, eine nach außen hin harte und willensstarke, aber eigentlich sehr gutherzige Frau, adoptiert den völlig abgerissenen und durch die Erlebnisse der letzten Jahre traumatisierten Jungen und schickt ihn nach Canterbury auf die Schule des Dr. Strong, wo er nun eine gute Bildung mit sinnvollen pädagogischen Methoden erhält. David wohnt beim Anwalt der Tante, Mr. Wickfield, und dessen Tochter Agnes. Die Mutter von Agnes starb bei deren Geburt, der Vater trauert immer noch um sie und ist daher dem Alkoholismus verfallen. Dies nützt sein verschlagener Gehilfe Uriah Heep aus, eine der schaurigsten und zugleich am wunderbarsten beschriebenen Gestalten Dickens‘. Während der weiteren Handlung des Romans gerät Wickfield aufgrund seiner Alkoholkrankheit immer mehr in den Einfluss Heeps, bis dieser mit Fälschungen und Lügen all dessen Eigentum in seinen Besitz gebracht hat und nun auch noch Agnes selbst zur Frau haben will. David, der Agnes zunächst wie eine Schwester liebt, beobachtet die Entwicklung mit zunehmender Verzweiflung, kann aber nichts dagegen unternehmen.

    Währenddessen tritt David in Doctors Commons, London, eine Lehre zum Proctor an, eine Art unstudierten Anwalt , finanziert von seiner Tante und verliebt sich in die bezaubernde, aber völlig kindliche Dora, die Tochter seines Lehrherren Spenlow. Nach dem Tod von Mr. Spenlow und als sich Davis finanzielle Lage, die durch die plötzliche geheimnisvolle Verarmung seiner Tante sehr verschlechtert hatte, wieder durch Zusatzarbeiten verbessert hatte, heiraten David und Dora. Der junge Ehemann, der sich inzwischen einen Namen als Schriftsteller macht, findet in seiner Ehe aber wenig Halt, weil Dora nicht in der Lage ist, einen Haushalt zu führen und die Dienstboten zu beaufsichtigen. Nach einer Fehlgeburt wird Dora immer schwächer und stirbt schließlich. David geht für einige Jahre auf dem Kontinent auf Reisen, kehrt schließlich zurück und erhält nach einigen Missverständnissen die Hand von Agnes, die er eigentlich schon immer geliebt hatte.

    Diese Haupthandlung wird bereichert durch viele köstlich ausgeführte Nebenfiguren, wobei einige den tragischen Teil vertreten, wie Emily, Ham, Steerfort, dessen gefühlskalte und rangstolze Mutter und seine leidenschaftliche Cousine Rosa Dartle, andere dagegen die lustig-satirische oder gemütlich-vernünftige Seite wie Mr. Micawber und seine Familie und Tom Traddles, der endlich seine Sophie und damit deren ganze Familie heiratet.


    Stil und meine Meinung

    Der Roman ist ein klassischer Bildungsroman, linear durch David Copperfield in der Ich-Perspektive erzählt. Er ist in zwei ungleiche Hälften geteilt, die unglückliche Kindheit und Jugend Davids bis einschließlich 13. Kapitel und der danach glückliche Aufstieg mit Hilfe der Tante und anderer freundlich gesinnter Helfer. Bis hin zur Verlobung und Hochzeit mit Dora bleibt der Ich-Erzähler auch auf dem Empfindungsniveau des Kindes, Jungen und jungen Mannes und schildert sehr genau, wie die Umwelt auf diese wirkt. Später rückt der Ich-Erzähler mehr in den Hintergrund und wird oft zum Beobachter der Geschehnisse, wenn er auch immer als Freund oder angenommener Feind darin involviert ist.

    In den gefühlvollen Szenen, bei denen Liebe oder Religion im Mittelpunkt stehen, schrammt Dickens aus heutiger Sicht öfters hart am Kitsch vorbei. Der Leser wird aber durch das Dickensche Figurenuniversum mit der unnachahmlichen, zugleich satirischen und verständnisvollen Schilderung übervoll dafür entschädigt.

    „David Copperfield“ habe ich mit vierzehn Jahren mit großer Freude zum ersten Mal gelesen, und ein halbes Jahrhundert später hat mir die Lektüre wieder sehr viel gegeben. Meine Lieblingsfigur war früher und ist auch heute Uriah Heep, dessen unnachahmliche Schilderung ihn jedem Leser lebhaft in Erinnerung bleiben lässt.

    In meinem 20. Jahrhundertprojekt fand ich vieles gut. Besonders beeindruckt hat mich Christa Wolfs Roman "Kindheitsmuster", weil dieser ihre Kindheit im Nationalsozialismus aufarbeitet und sie sich dabei immer sehr um Wahrhaftigkeit gegenüber sich selbst bemüht und sich oft hinterfragt.
    Die Lyrik Georg Heyms hat mich auch angerührt. Was für eine Sprachmacht dieses noch so jungen Lyrikers, der mit 24 Jahren beim Eislaufen ertrank, weil er einen Freund retten wollte. Seine Gedichte werde ich noch häufiger zur Hand nehmen.

    Über den Jahreswechsel hinweg bin ich immer noch gerne mit Dickens "David Copperfield" beschäftigt, im ersten Teil eine erschütternde Sozial- und Erziehungsstudie, im zweiten Teil ein Aufmarsch skurriler, meist liebenswerter Typen und spannender Handlung, wie man sie von Dickens kennt. Und natürlich Uriah Heep, einer der interessantesten Bösewichte der Weltliteratur ... . Nebenher eine Schnitzler-Biografie, denn mit dessen Erzählungen will ich mich bald weiter befassen, nachdem mir "Casanovas Heimfahrt" so gut gefallen hat. Und begonnen habe ich mit einer Anthologie naturalistischer Lyrik, wo im Moment das interessante Vorwort zu dieser Epoche ansteht. Ich hatte bisher gar nicht gewusst, dass die Naturalisten auch im Bereich Lyrik stärker unterwegs waren. Für mich war das immer ein Widerspruch.