Beiträge von finsbury

    Jetzt habe ich viel Zeit in ein ziemlich chauvinistisches Zeitdokument investiert, in Gustav Freytags Autobiografie "Erinnerungen aus meinem Leben". Immerhin habe ich jetzt eine gute Grundlage, um zu verstehen, auf welchem Hintergrund sich die neuen literarischen Strömungen der 1880er Jahren abhoben und habe ein bisschen Einblick in die zunächst biedermeierliche, dann nationalliberale Haltung großer Bereiche der literarischen Welt in der Mitte des 19. Jahrhunderts erhalten.

    Im Rahmen meines diesjährigen Projekts - 1880er bis 1930er Jahre - bin ich nochmal zu Freytag zurückgekehrt und habe seine Lebenserinnerungen gelesen.


    Gustav Freytag: Erinnerungen aus meinem Leben (1887)

    Gustav Freytag (1816-1895) war ein Schriftsteller des deutschen Realismus, ungefähr gleichaltrig mit Theodor Fontane. Bis in die Zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts war er in Deutschland sehr viel bekannter als Fontane, insbesondere für seinen Roman „Soll und Haben“ (1855), ist aber aus guten Gründen heute ziemlich vergessen gegenüber dem immer noch ( und mehr) hoch angesehenen Fontane.


    Inhalt:
    Gustav Freytag wird 1816 in einer oberschlesischen Kleinstadt als Sohn des Bürgermeisters und einer Pfarrerstochter geboren. Er erlebt eine behütete Kindheit und Jugend in einem halb ländlichen Milieu, allerdings vor dem Hintergrund von Aufbauarbeiten und der Neukonsolidierung nach den Befreiungskriegen. Nach dem Besuch des Gymnasiums in der Nachbarstadt studierte er in Breslau und Berlin Philologie. Während des Vormärz war er für eine politische Stellungnahme noch zu jung, verurteilte die „Jungdeutschen“ aber später als überzogen fordernd, stand dann bei der 48er Revolution auf der Seite der Nationalliberalen, wäre sogar einmal fast von den Preußen verhaftet worden, weil man ihm die Veröffentlichung von peinlichen Staatsgeheimnissen vorwarf. Den Nationalliberalen blieb er auch später treu und saß sogar in den Sechziger Jahren für sie im Reichstag.

    Seine schriftstellerische Karriere begann er als Dramatiker und arbeitete über Jahrzehnte als Journalist und Herausgeber der sächsischen Zeitung „Die Grenzboten“. Später veröffentlichte er vor allem historische Schriften in erzählerischer Form sowie einige umfangreiche Romane, neben „Soll und Haben“, vor allem „Die verlorene Handschrift“ und den Romanzyklus „Die Ahnen“. Die biografischen und zeitgeschichtlichen Schilderungen reichen ungefähr bis in die Anfangsjahre der 1880er. Seine Memoiren beinhalten neben der Charakterisierung seiner Werke –auch ihrer Mängel - insbesondere die (zum Teil rührende) Würdigung seiner vielen Freunde und Arbeitskollegen, mit denen er durch viele Jahre einen intensiven Austausch pflegte. Daneben macht er sich sehr für das Deutschtum stark und sieht – vielleicht auch geprägt durch das Aufwachsen in den Randprovinzen Oberschlesiens und das zähe Ringen um das Zustandekommen des deutschen Nationalstaates – im deutschen Wesen etwas besonders Bewahrenswertes und Gutes. Auch der preußische Staat und dessen Monarchen sind ihm wichtige Pfosten seiner weltanschaulichen Orientierung, dem Verbleib des Adels in den leitenden Stellungen steht er dagegen kritisch gegenüber. Von Privatem, seiner Familie und seinen Kindern bleibt die Biografie merkwürdig unberührt. Man erfährt noch nicht einmal die Namen von Frau und Kindern.


    Meine Meinung
    Diese gar nicht so umfangreiche Autobiografie war ein herausforderndes Stück Arbeit für mich, denn

    1. ärgerte mich der Nationalchauvinismus und die Ressentiments, die Freytag besonders gegenüber den slawischen Völkern, insbesondere den Polen hegt, sehr, auch dass bis auf die Mutter Frauen keinerlei Rolle spielen bzw. biedermeierlich auf ihre Pflicht als Hausfrau und Mutter zurückgesetzt werden,

    2. musste ich sehr viele Namen und Ereignisse nachschlagen: Ich bin zwar laienhaft interessiert an Geschichte und meine schon, ein Grundwissen der deutschen Geschichte zu haben, aber die Einzelheiten, die ein Zeitgenosse noch erinnert, gehen natürlich weit über das Schul- und nebenher erworbene Wissen eines Menschen hinaus, der 150 Jahre später lebt.

    Dennoch habe ich viel darüber erfahren, wie das (Bildungs)bürgertum in der Mitte des 19. Jahrhunderts lebte und was es über die Lebensumstände und solche Abstrakta wie Volk / Monarchie und Demokratie dachte. Auch die Entstehung des modernen Journalismus, die in diese Zeit fiel, war mir interessant. Positiv ist Freytag auch anzurechnen, dass er sehr selbstkritisch mit seiner akademischen Leistungsfähigkeit und auch mit seinen Werken umgeht, allerdings nicht mit dem, was ihn aus einer überzeitlichen Bedeutung herausfallen lässt – sein nationaler Chauvinismus und dem damit verbundenen Argumentieren mit nicht nachweisbaren angeblichen nationalen Charaktermerkmalen. Wenn ich z.B. lese, dass die (deutschen) Dramatiker – insbesondere Freytag selbst - des vorangeschrittenen 19. Jahrhunderts ihr Handwerk besser beherrschen als es Shakespeare tat, dann kann ich nur sagen: Wen kennt heute noch die ganze Welt? Sicherlich nicht Gustav Freytag!

    Am Wochenende unglaublicher Fund in meinem bevorzugten öffentlichen Bücherschrank.

    Akzente. Zeitschrift für Dichtung. Jahrgang 1.1954 bis 20.1973. Nachdruck bei Zweitausendeins in fünf unsagbar dicken, kleinformatigen (15,5 x 11 cm), kleinbuchstabigen Bänden.

    Buchrücken jeweils ca. 6,3 cm breit. Paginierung jahrgangsweise. Pro Jahrgang so überschlägig 550 Seiten ... soweit ich sehe kein Gesamtregister - das hätte noch das Kleinod auf die Krone gesetzt. Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diesen Nachdruck nicht. Wo stell ich das nur noch hin ...

    Eine Gesamtlektüre ziehe ich eher nicht in Erwägung.

    Die Ausgabe hatte ich auch mal. Als ich dann aber ehrlicherweise in zwanzig Jahren so gut wie nie reingeschaut hatte und auch sonst keine Literaturzeitschriften lese, habe ich sie einem Freund vermacht, bei dem sie jetzt, wenn ich die Anzeichen richtig deute, ebenso ungelesen im Regal steht. Dir, Leibgeber, wünsche ich auf jeden Fall mehr Lesernutzen an dem Fund.
    Aber ich habe mich auch über einen ungewöhnlichen Fund im öffentlichen Bücherschrank gefreut: Eine Auswahl früher Briefe von Alfred Kerr, die sehr schön in mein diesjähriges Buchprojekt passt: "Warum fließt der Rhein nicht durch Berlin? Briefe eines europäischen Flaneurs".

    Ich beginne nun mit den Lebenserinnerungen von Gustav Freytag, von dem ich vor einigen Jahren seinen Romanzyklus "Die Ahnen" las. Ich erhoffe mir, parallel zur Lektüre eines Sachbuchs über "Die Gründerjahre" eine historische Unterfütterung zu meinem für dieses Jahr gewählten Projektzeitraum, auch wenn Freytags Leben und die Gründerjahre zum großen Teil vorher stattfanden.

    Ach, und ich war heute in Münster, in der Thalia-Buchhandlung, vormals Poertgen-Herder. Hab zwar nichts gekauft, aber mich in der Geschichts- und geisteswissenschaftlichen Abteilung an der Vielzahl der Bücher zu jeweils einem Thema, einem Zeitabschnitt erfreut. So was findet man in Dortmund nicht mehr und auch in anderen Ruhrgebietsstädten selten. Wenn die Unis auf dem Campus liegen, handeln die Innenstadtbuchhandlungen oft nur mit Mainstream und Schrott.

    Die KI hat die bisher genaueste Übersetzung, allerdings die falsche Präposition vor "Gedanken" und eine damit verbundene unschöne Doppelung.

    Dass der Titel auf "Bettelknabe" abgeändert wurde, kann ich schon verstehen, denn selbst Twain selbst und natürlich besonders die Verlage sahen wohl die Hauptzielgruppe bei Kindern und Jugendlichen. Da ist die Anspielung auf die eigene Altersgruppe im Titel durchaus ein Marktargument.

    Da werden Erinnerungen wach ... mein großer Bruder hatte eine TB-Ausgabe "für die Jugend", die ich gelesen habe, als ich ungefähr zehn war, evtl. auch noch jünger.
    Ich weiß nicht, ob es mir damals schon auffiel, jedenfalls erinnere ich mich, dass mir - damals oder evtl. später - doch erhebliche Zweifel an einer solchen Verwechslung kamen. Mit einem einfachen Kleidertausch ist es wohl kaum getan. Haare, Fingernägel ... na ja. Beeindruckt war ich trotzdem.
    So lange es her ist, ich habe noch den Satz im Kopf: "Eines Morgens stand Tom hungrig auf und verließ das Haus mit knurrendem Magen."

    Das denke ich auch: Die Verwechslung ist etwas an den Haaren herbeigezogen. Denn die Bediensteten hätten ja den Prinzen mit dem Jungen zu seinen Zimmern laufen sehen und sich später über diesen Umstand Gedanken gemacht . Und sie kennen den Prinzen von klein auf in jedem Detail. Aber so ist nun mal Romanliteratur ..., gerade im Jugendbereich.

    In meiner Übersetzung lautet der von dir erinnerte Satz zu Beginn des 3. Kapitels: "Tom erhob sich hungrig, und hungrig machte er sich davon."

    Ich kenne ihn nur als wichtigen niederländischen Roman, habe ihn aber noch nicht gelesen. Von Multatuli habe ich hier noch die "Minnebriefe" stehen, aber nicht gelesen, die ich mal von irgendeinem Krabbeltisch gegriffen habe.

    Ich habe derweil einen weiteren Klassiker der Jugendliteratur für den 1880er Zeitraum gelesen, Mark Twains Roman "Der Prinz und der Bettelknabe". War unterhaltsam, aber nicht weltbewegend.

    Mark Twain: Der Prinz und der Bettelknabe (1881)


    Mark Twains (d.i. Samuel Langhorne Clemens, 1835-1910) historischer Roman behandelt eine angebliche Verwechslung des jungen Prinzen und nachmaligen Königs Edwards VI. von England, Sohn Henrys VIII., mit einem Betteljungen, wonach beide für längere Zeit in den angenommenen Rollen bleiben müssen.


    Inhalt

    Tom Canty lebt in einem Armenviertel Londons als Sohn eines Säufers, Diebes und Schlägers mit seiner Mutter, seinen beiden Schwestern und der ebenfalls gewalttätigen Großmutter von Bettelei. Nur der dort ebenfalls lebende Vater Andrew, ein ehemaliger Mönch, der Heinrichs Klosterauflösung zum Opfer fiel, kümmert sich um die Bildung des Jungen, bringt ihm Lesen, Schreiben und ein wenig Latein bei. Außerdem leiht er ihm Bücher insbesondere über die Geschichte der englischen Könige. Tom träumt sich in die Rolle eines königlichen Prinzen hinein und spielt mit den Kindern seines Viertels entsprechende Rollenspiele. Als er eines Tages sehnsüchtig am Parkzaun des Westminster-Palastes entlangstreift, wird er von der Wache festgenommen, aber von Prinz Edward befreit, der wegen dieser Übergriffigkeit seiner Soldaten erbost ist. Er nimmt Tom mit in seine Zimmer, die Jungen tauschen zum Spaß ihre Kleidung und erkennen beim Blick in den Spiegel, dass sie sich extrem ähnlich sehen. So kommt es, wie es kommen muss. Als der Königssohn in Toms Kleidung hinunter zur Wache eilt, um sich wegen eines Schlags auf Toms Hand zu beschweren, wird er von den Soldaten weggejagt. Tom dagegen halten die adeligen Bediensteten für Edward und sind sehr besorgt, dass dieser plötzlich wahnsinnig geworden sei, weil er sich an keine Umstände seines Lebens erinnert und ständig behauptet, der Betteljunge Tom zu sein. Sie versuchen dies aber gegenüber der Öffentlichkeit zu verbergen, und Tom lernt mit den Wochen dazu, so dass er unauffällig sein Amt versehen kann, obwohl er zunächst gerne zu seinem früheren Status zurückkehren würde. Der König stirbt und der „Prinz“ wird nunmehr auf seine Krönung vorbereitet.


    Währenddessen lernt Edward die Härten des Lebens der Armen kennen, wird von seinem angeblichen Vater geschlagen, soll zum Betteln gezwungen werden, kann ihm aber entfliehen und lernt dabei den adeligen Soldaten Miles Hendon kennen, der sich fortan um ihn kümmert und ihm auch seine Rolle als Prinz gönnt, auf der Edward hochfahrend besteht. Hendon nimmt Edward nach allerlei Abenteuern mit in seine Heimat, die er jahrelang aufgrund seiner Soldatenkarriere nicht gesehen hat, doch im Herrenhaus regiert jetzt sein jüngerer Bruder, ein Bösewicht, der Vater und ältere Bruder sind gestorben. Dieser jüngere Bruder hat Miles‘ Jugendliebe geheiratet und bringt sie wie die Dienerschaft unter Drohungen dazu, Miles‘ Existenz zu leugnen. Dieser wird sogar mit Edward ins Gefängnis geworfen, nach einer Prügelstrafe aber wieder frei gelassen. Beide kommen rechtzeitig zur Krönung in London an, um ihre jeweiligen Identitäten einzuklagen. Sie verschaffen sich Zugang zur Krönungszeremonie, Edward kann mit Toms williger Hilfe seine Identität klären und wird nun richtig gekrönt. Aufgrund seiner Erfahrungen der Armut und Hilfsbedürftigkeit, auch der Willkür von Verwaltung und Justiz wird Edward VI. in seiner kurzen Regierungszeit ein milder König, der einige Reformen anstößt, aber aufgrund seiner Minderjährigkeit und seines frühen Todes nicht viel erreichen kann. Miles und Tom werden in ihrem Rang erhöht und führen ein glückliches Leben.(Auf Edward folgte die katholische Maria, die Tochter aus der ersten Ehe Heinrichs, die unter dem Namen „Bloody Mary“ berüchtigt wurde, das gehört aber nicht mehr zum Inhalt des Romans.)


    Stil und meine Meinung

    Der Roman wird linear, aber mit Perspektivwechseln zwischen den beiden Protagonisten in der Er-Perspektive erzählt, ist auch für Kinder und jugendliche Leser gedacht, bei denen allerdings einiges an Kenntnissen der englischen Geschichte und Gesellschaftsstruktur vorausgesetzt wird. Twain erzählt hier „englischer“ als in seinen berühmten Romanen um Tom Sawyer und Huckleberry Finn, ist stark darum bemüht, in fast dickensscher Weise die Armut und ungerechte Behandlung der unteren Bevölkerungsschichten zu schildern. Der Roman ist spannend und farbig erzählt und in meiner Ausgabe (Insel-Taschenbuch Werkausgabe in zehn Bänden) mit zahlreichen zeitgenössischen Illustrationen geschmückt.


    Mir persönlich gefallen Twains amerikanische Romane und seine Reiseerzählungen besser, aber gut unterhalten habe ich mich allemal gefühlt.

    Zustimmung. Vom inzwischen fast 65jährigen.

    Und das scheint mir ein Grund zu sein, warum Wiederlektüren öfters enttäuschend sind.

    Es ist der Wunsch, ein Madeleine-Erlebnis zu erfahren. Was dann nicht klappt.

    Das gilt wohl für die ganz frühen Lektüren. Aber so ein Leserleben ist ja lang ... . Und das, was man so ab Mitte zwanzig gelesen hat, behält - für mich zumindest - bei einem Reread meist seinen Wert.

    Zu Hardy habe ich nie den richtigen Zugang gefunden. Am ehesten hat mir noch "Der Bürgermeister von Casterbridge" gefallen, aber nicht vergleichbar mit anderen englischen AutorInnen, die ich mag.

    Seine Art zu schreiben erinnert mich eher an die großen französischen Realisten. Ist also keineswegs eine Wertung, sondern nur Geschmackssache

    Den Lese-Alzheimer kenne ich auch! Je länger eine Lektüre her ist, aus der Jugend oder jungen Erwachsenenzeit, desto besser erinnere ich mich, aber viele in den letzten dreißig Jahren gelesenen sind mir aus dem Gedächtnis gewichen, allerdings vor allem Unterhaltungsliteratur, weil ich zu denen nichts schreibe. Schreiben hilft mir wirklich, mich besser zu erinnern.

    Zefira, ich kann gut nachvollziehen, was dich zu den Zweitlektüren treibt. Bei mir soll der Anteil auch höher werden, aber ich habe auch noch so viele ungelesene "Klassiker" (dem Alter nach) in meinen Regalen, dass die Zweitlektüren sich doch in Grenzen halten. Und meine geliebtesten Romane sind allesamt dicke Brummer: die Dostojewskijs, Doderers, Stifters, Thomas Manns, Dickens, Tolstois usw. usw. Da geht schon viel Zeit flöten, wenn auch in angenehmster Gesellschaft.

    Ja, das ist ein Problem! Wahrscheinlich würde er heute auch den Kickl gut finden. Ach, es ist schon schade, wenn solche genialen Autoren politisch so kurzsichtig und undemokratisch sind.

    Ich musste auch direkt an den "Herrn der Fliegen " denken, als ich das Thema des Verne-Romans erlesen habe. Aber das sind eher Antagonisten, diese beiden Romane. In Verne geht es darum, wie Zivilisation trotz Gefährdung auch in einer kleinen Gruppe sehr junger Menschen entstehen kann, und in Goldings Roman, den ich aber noch nicht , sondern nur über ihn gelesen habe, scheint ja genau das Gegenteil thematisiert zu werden, wie sich eben kaum erlernte Zivilisation auflöst und einem aggressiven "Natur"zustand weicht.