Na, bei den vielen biografischen Bezügen sind die Infos ja nicht OT. Danke dafür, sandhofer. Ich habe mir schon oft gedacht, dass eine Kulturgeschichte des Verlagswesens eine große Bereicherung für die Literaturgeschichte wäre, aber vielleicht gibt es ja sogar schon so was. Das i s t jetzt aber OT.
Beiträge von finsbury
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Johann Heinrich Voß: Idyllen und Gedichte (ca.1772-1793)
Johann Heinrich Voß (1751-1826) war ein Dichter, der sowohl Elemente der Aufklärung, der Empfindsamkeit, aber auch des Sturm und Drangs und der Klassik in seinem Werk vereinte. Man kennt ihn heute vor allem für seine „klassische“ Übersetzung der beiden homerischen Epen Ilias und Odyssee.Voß wurde als Sohn eines ehemaligen Kammerdieners und späteren Gastwirts sowie einer Organistentochter in einem mecklenburgischen Dorf geboren. Die Eltern vermittelten ihm Zug zur Bildung, und ihm wurde trotz der Armut seiner Eltern der Besuch einer Lateinschule ermöglicht. Daraufhin eröffnete sich ihm wie vielen anderen Stürmern und Drängern die ziemlich demütigende Laufbahn als Hofmeister für die anspruchsvollen Sprösslinge des Adels und ihrer arroganten Eltern. Zahlreiche negative Erfahrungen mit dem Adelsstand spiegeln sich in seinen späteren Werken.
Später gelang es ihm mithilfe des Herausgebers des Göttinger Musenalmanachs, in dieser Stadt klassische Philologie zu studieren. Dort gründete er mit den beiden Grafen Stolberg, Ludwig Hölty und anderen den Göttinger Hain, einen Dichterbund, der sich auf den von der schriftstellernden Jugend verehrten Dichter Klopstock, auch ein früherer Absolvent der Uni Göttingen, berief. Ihre dichterischen Erzeugnisse huldigten zumeist der Empfindsamkeit , setzten sich aber auch mit den klopstockschen Inhalten Freiheit, Vaterland und Liebe auseinander.
Voß nun selber war aufgrund seiner kleinbürgerlichen, von Armut geprägten Herkunft und seiner Erlebnisse mit dem Adel trotz der klassischen Formen, die er für seine Lyrik verwendete, für seine Zeit auffallend sozialkritisch. In der zweiteiligen Idylle „Die Leibeigenschaft“ geht er äußerst deutlich auf den menschenverachtenden Umgang des Grundherren mit seinen leibeigenen Hintersassen ein, indem er schildert, wie der Grundherr eine versprochene Hochzeit eines Leibeigenen, dessen Familien dem Junker dafür ihren letzten Besitz gaben, aufgrund falscher Anschuldigungen platzen lässt. Demgegenüber wird im zweiten Teil dann tatsächlich idyllisch geschildert, wie Grundherr und befreite Bauern mit erträglicher Pacht harmonisch und in gegenseitiger Achtung miteinander umgehen.
Auch in anderen Idyllen und Gedichten wird ein scharfer Ton gegenüber dem preußischen Junkertum angeschlagen, insbesondere in der bissigen Idylle „Junker Kord“, die ironisch das bildungsferne und genussbestimmte Leben des Junkers schildert, der weder auf Tiere noch unter ihm stehende Menschen irgendeine Rücksicht nimmt, aber in seiner Borniertheit selbst dumm wie Brot ist.
Ein Beispiel für seine scharfe Adelskritik bietet auch
STAND UND WÜRDE
Der adliche Rat
Mein Vater war ein Reichsbaron!
Und Ihrer war, ich meine …?
Der bürgerliche Rat
So niedrig, dass, mein Herr Baron,
Ich glaube, wären Sie sein Sohn,
Sie hüteten die Schweine.
(Idyllen und Gedichte, Reclam 1967, S. 3)
Natürlich sind einige Gedichte auch konventionell und zeittypisch, aber insgesamt bin ich erstaunt, hier einen Dichter für mich wieder entdeckt zu haben, der schon so früh soziale Strukturen durchschaute und mutig kritisierte. Ich schätzte bisher sehr seine Homer-Übersetzungen, die, wie ich finde, von großer sprachlicher Schönheit sind, aber seine eigenständigen Leistungen als Dichter kannte ich noch nicht. Ein wichtiger Wegbereiter für die Menschen- und Freiheitsrechte.
Noch eine kleine Anmerkung zur obigen Erwähnung der Kritik durch Goethe und Schiller: Ich könnte mir vorstellen, dass diese beiden, aus arrivierten bürgerlichen Verhältnissen stammenden und geadelten Weimarer Größen sich schon allein deshalb gerne über den niederdeutschen, auch mal in Platt schreibenden und aus seiner Herkunft keinen Hehl machenden Voß lustig machten. Wobei es auch einige Idyllen gibt, die sich wirklich sehr in Einzelheiten verlieren
(z.B. Der siebzigste Geburtstag).
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So hat jeder seine Erfahrungen mit dem Herrn der Ringe. Meine ist, dass ich mit 18 oder 19 eine Verwandte in Berlin besuchte. Tja, und die hatte den Herrn der Ringe im Regal. Tagsüber war ich allein und hätte mir Berlin ansehen können. Was habe ich gemacht? In drei Tagen die Trilogie gelesen und von Berlin nichts mitgekriegt, nur abends kurz und dann gleich weitergelesen.
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Ich habe es auf den letzten Metern geschafft, "Das letzte Abenteuer" von Doderer zu lesen. Ich habe es als Ebook mit dem kundigen Nachwort von Martin Mosebach. Hat mir sehr gut gefallen - vielleicht empfindet es der eine oder die andere hier als Sakrileg, wenn ich das so sage, aber der Erzählton hat mich manchmal sehr an Tania Blixens phantastische Geschichten erinnert. Das Buch ist ein Kleinod.
Warum sollte es ein Sakrileg sein? Blixen ist genau wie Doderer eine große Stimmungsschilderin, da passt der Vergleich schon.
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Im Wesentlichen bin ich jetzt mit meinem Lesevorhaben für dieses Jahr fertig. Es kommt wohl höchstens noch ein Sachbuch dazu. Zuletzt habe ich noch ein kurzes Drama gelesen, Eugène Ionescos "Der neue Mieter".
Insgesamt habe ich achtundreißig Werke aus dem 20. Jahrhundert gelesen, vom klassischen Krimi über dicke und dünne Romane, Erzählungen, autobiografische Schriften, Dramen bis hin zur Lyrik. Dazu kommen sechs historische Magazine und drei Biografien, die sich auf den Zeitraum beziehen und zwei aktuelle belletristische Werke, die sich vorwiegend auf das 20. Jahrhundert beziehen.
Das Projekt hat mir große Freude bereitet, meine ungelesenen Bücher zwar nicht wirklich stark, aber immerhin etwas vermindert und mir tiefere Einblicke in dieses für unser Dasein jetzt entscheidende Jahrhundert gebracht, in dem wohl die meisten von uns hier im Forum einige Jahrzehnte verbracht haben. Deshalb werde ich ähnlich im nächsten Jahr weitermachen. -
Hier gibt es noch keinen Thread für diesen bedeutenden Dramatiker, also beginne ich mal damit.
Eugène Ionesco (1909-1994), Sohn eines rumänischen Vaters und einer französischen Mutter, ist Mitbegründer der Strömung des sogenannten „absurden Theaters“ und gilt heute als einer der größten Dramatiker Frankreichs im 20. Jahrhundert. Das absurde Theater handelt in einer sinnentleerten Welt, die Sprache hat ihre Bedeutung als sinnstiftende Kommunikation zwischen den Menschen verloren und besteht oft nur noch aus Floskeln.Eugène Ionesco: Der neue Mieter (1955)
Inhalt:
Im Einakter „Der neue Mieter“ sehen wir zunächst eine Concièrge, die in einem leeren Zimmer in dem von ihr mit verwalteten Haus auf den neuen Mieter wartet. Als dieser kommt, bietet sie sich ihm für haushälterische Tätigkeiten an, worauf er nicht eingeht, was zu wüsten Beschimpfungen ihrerseits führt. Während dieses hauptsächlichen Monologs der Concièrge misst der Mieter sein Zimmer aus und überlegt, wo die demnächst zu erwartenden Möbel hingestellt werden sollen. Schließlich verschwindet die Concièrge, und zwei Möbelpacker erscheinen, zunächst nur mit Kleinmöbeln und Nippes, die sie auf Anweisung des Mieters an den Wänden verteilen. Der Mieter selbst markiert in der Mitte des Zimmers einen Kreis, in den nur ein Sessel gestellt werden darf. Nach und nach kommen immer mehr Möbel, ein Buffet versperrt zur Freude des Mieters das einzige Fenster. Die Möbel, die immer größer werden, erscheinen schließlich von selbst und werden von den Möbelpackern nur noch hereingezogen, so dass sie immer mehr der Fläche des Zimmers verstellen. Kurz bevor sie den Mieter auf seinem Sessel völlig eingekreist haben, erzählen ihm die Möbelpacker, dass die immer mehr ankommenden Möbel inzwischen nicht nur das Treppenhaus, sondern auch die Straßen von Paris, ja sogar die Schifffahrt auf der Seine versperren. Den Mieter scheint das nicht zu beunruhigen, und schließlich verschwinden die Möbelpacker irgendwie, obwohl kein Ausgang mehr frei ist. Von dem Mieter ist vor lauter Möbeln nichts mehr zu sehen.
Meine Meinung:
Das Stück hat burleske Momente, ist aber eigentlich zutiefst traurig, weil die Personen nicht wirklich aufeinander bezogen sprechen und die Überflutung mit materiellen Dingen jeden Ausdruck von Leben schließlich verhindert. Aufgeführt wirkt es sicher noch sehr viel stärker denn als Lesedrama, weil diese Überwältigung durch die sich verselbstständigenden Möbelstücke, die in der entpersonalisierten, kommunikationslosen Welt die eigentlichen Rollen übernehmen, in der Anschauung sicher eindrücklicher wirken, als nur in den Regieanweisungen dargestellt. -
Das macht m. E. die Qualität des Textes aus, Casanova als sich selbst überlebender, narzisstischer Egomane, der nun im Alter noch nicht mal auf seinem ureigensten Gebiet reüssieren kann. Einsam, unfähig zu jeder Beziehung, einzig vermeintlich sexuelle Erfüllung suchend erinnert er an Humbert Humbert - und um einen solchen Blick hinter die Kulissen des "glücklichen" Frauenhelden Casanova schien es Schnitzler zu gehen. Da wäre eine moralinsaure Betrachtungsweise kontraproduktiv, Literatur muss sich ja nicht selbst erklären oder gar auf der Rückseite jedes Buchblattes die entsprechende Interpretation liefern.
Da hast du sicherlich Recht, und in diesem Sinne hatte ich ja auch argumentiert. Aber einem sogenannten "woken" Lesepublikum würde diese indirekte Kritik wohl nicht mehr reichen.
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Kann ich nur empfehlen, zum Teil extrem brutal, aber wirkungsmächtig. Bei "Der Irre" musste ich allerdings ein paar Mal innehalten, weil ich es kaum ertragen konnte.
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Und ich lege immer noch einmal im Jahr ihr Album "Wonderworld" auf. Das konnte ich mit 14/15 fast auswendig.
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Dankeschön, Zefira. Ich freue mich auch schon sehr zunächst auf die Zweitlektüre des David Copperfield, den ich tatsächlich mit 14 Jahren das erste und bisher einzige Mal las. Die Lektüre hat auch den Anlass dazu gegeben, dass ich als Teenie jahrelang ein großer Fan der Rockband Uriah Heep war. Natürlich auch, weil mir ihre Musik und Texte gefielen ..
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Als Nebenlektüre habe ich in den letzten zwei Monaten eine Auswahl der Lyrik und Prosa des leider viel zu jung verstorbenen Georg Heym gelesen. Eine ganz besondere Leseerfahrung!
Dagegen habe ich nach wenigen Seiten die Lektüre des Hunderomans "Jerry, der Insulaner" von Jack London abbrechen müssen. Bei allem Verständnis für historische Gebundenheit: Der hier hemmungslos kultivierte Rassismus der sogenannten Herrenrasse gegenüber den indigenen Völkern der Südsee, der sich sogar in ihren Hunden spiegelt, ist nicht zu ertragen.
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Georg Heym: Gedichte und Prosa (ca. 1907-1911)
Georg Heym (1887-1912) war einer der Begründer des literarischen Expressionismus. Er wurde als Sohn eines Staatsanwaltes geboren, verlebte seine Kindheit in Schlesien und seine Jugend sowie junge Erwachsenenzeit in Berlin. Ende Januar 1912 ertrank er bei dem Versuch, seinem Freund aus einem Eisloch zu helfen, worin dieser bei einer gemeinsamen Schlittschuhpartie gefallen war.
Der von mir gelesene Band stammt von 1962 und vereint von Hans Rauschning ausgesuchte Gedichte und Prosastücke von zu Lebzeiten und aus dem Nachlass veröffentlichten Sammlungen.
Die zu Lebzeiten erschienenen Bände „Der ewige Tag“ (Lyrik) und „Der Dieb“(Prosa), ebenso wie die Texte aus dem Nachlass sind geprägt von der Unwirtlichkeit und Bedrohlichkeit der großen Stadt, vom Tod und seinen Erscheinungsformen, von Kriegsahnung und Abnormitäten aller Art. Bei der Lyrik gibt es aber auch immer wieder spätimpressionistische Liebes- und Landschaftsgedichte. Heym verbleibt in der Form traditionell im Versmaß und strengen metrischen Formen, dagegen sind seine Inhalte neu für die Lyrik jener Zeit. Er führt - zusammen mit anderen Frühexpressionisten - die moderne Großstadt mit ihrer industriellen Prägung, dem Gestank, dem Lärm und den ausgebeuteten Menschen als Thema in die Literatur ein. Auch sonst ist er sehr stark auf das Negative fixiert, und seine Gedichte sind voller Düsternis, aber auch Melancholie. Mystiker könnten darin eine gewisse Todesahnung sehen, es kann aber auch eine Revolte gegen ein ungeliebtes Jurastudium und einen strengen Vater sein, die ihn zusammen mit einer entsprechenden Veranlagung in diese Negativ-Fixierung getrieben haben. Die Gedichte entfalten trotz ihrer düsteren Themen eine große sprachliche Schönheit, viele davon haben mich fasziniert. Er benutzt neue, unverbrauchte große Metaphern, gerne auch aus dem spirituellen Schatz der alten Kulturen. Ein berühmtes Beispiel:
Der Gott der Stadt (1910)
Auf einem Häuserblocke sitzt er breit.
Die Winde lagern schwarz um seine Stirn.
Er schaut voll Wut, wo fern in Einsamkeit
Die letzten Häuser in das Land verirrn.Vom Abend glänzt der rote Bauch dem Baal,
Die großen Städte knieen um ihn her.
Der Kirchenglocken ungeheure Zahl
Wogt auf zu ihm aus schwarzer Türme Meer.Wie Korybanten-Tanz dröhnt die Musik
Der Millionen durch die Straßen laut.
Der Schlote Rauch, die Wolken der Fabrik
Ziehn auf zu ihm, wie Duft von Weihrauch blaut.Das Wetter schwält in seinen Augenbrauen.
Der dunkle Abend wird in Nacht betäubt.
Die Stürme flattern, die wie Geier schauen
Von seinem Haupthaar, das im Zorne sträubt.Er streckt ins Dunkel seine Fleischerfaust.
Er schüttelt sie. Ein Meer von Feuer jagt
Durch eine Straße. Und der Glutqualm braust
Und frißt sie auf, bis spät der Morgen tagt.
Zitiert nach Der Gott der Stadt (1910) - Deutsche LyrikIst die Lyrik durch ihre Gebundenheit und durchgängige Melancholie trotz ihrer düsteren Themen von einer eigenartigen Schönheit, so gilt das nicht für die Prosa. Hier – zumindest in der Auswahl, die meiner Lektüre zugrunde liegt – herrscht meist nackte Gewalt. In „Der Irre“ wird ein Geistesgestörter aus der Anstalt entlassen und mordet sich durch auf dem Weg zu seiner Frau, die er so geprügelt hatte, dass er deswegen in der Anstalt inhaftiert wurde. „Jonathan“ ist ein Matrose, der nach einer Beinverletzung im Hospital liegt, von Schmerzen und Einsamkeit fast überwältigt, und dem man die kurzzeitig mögliche Kommunikation mit seiner Zimmernachbarin, diesen kleinen Hoffnungsstreif, aus „Heilungsgründen“ verbietet. Schließlich wird er nach Wundbrand amputiert und stirbt an deren Folgen und seiner Hoffnungslosigkeit. Die titelgebende Erzählung „Der Dieb“ ist inspiriert von dem im August 1911 erfolgten Diebstahl der „Mona Lisa“ aus dem Louvre und legt sie einem Mann zur Last, der unter religiösem Wahn in dem Bild die Verkörperung der Großen Hure Babylon sieht, die er vernichten muss. Heym hat nicht mehr erlebt, wie sich der Diebstahl im Dezember 1913 aufklärte.
Das ist eine der beeindruckendsten (Wieder)begegnungen, die dieses Lesejahr mir gebracht haben. Ein schon in jungen Jahren extrem stilsicherer und wortgewaltiger Dichter, der uns intensive Bilder und Eindrücke geschenkt hat, die später in seinen Nachfolgern fortgewirkt haben. Wie schade, dass er so früh gehen musste und wie gut, dass er schon so früh so vollendet war!
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Das klingt gut, und es ist auch wichtig, dass wir diese großartigen Werke über dem aktuellen Konflikt nicht vergessen. Ich habe hier noch ungelesen sehr viel Leichteres über die russische Literatur von Wladimir Kaminer " Tolstois Bart und Tschechos Schuhe", eine vergnügliche Annäherung an die russischen Klassiker.
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Vogelbeere, deine Auswahl gefällt mir sehr. Das Vorhaben mit David Copperfield und Demon Copperhead habe ich auch, in einer analogen Leserunde hier vor Ort, wir beginnen mit dem Dickens direkt im Januar und hoffen, dass der Demon Copperhead dann möglichst bald als Taschenausgabe erhältlich ist.
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Leibgeber, das ist eine sehr interessante und äußerst bandbreite Liste. Weniges davon habe ich schon gelesen und freue mich auf deine Kommentare. Gutes Gelingen!
Nun habe ich auch meine Liste eingestellt. Mir hat mein Vorhaben von diesem Jahr sehr gefallen, weil es mich nicht auf bestimmte Bücher beschränkte, sondern auf einen bestimmten Zeitraum. Dadurch konnte ich mir relativ spontan aussuchen, was zu meinen Interessen oder auch etwaigen anderen Wettbewerben oder Leserunden passte, an denen ich auch noch teilnahm. Auf diese Weise bin ich meinem riesigen SUB etwas zu Leibe gerückt und habe gleichzeitig auch ein paar (zu wenige) lohnenswerte Zweitlektüren machen können. Dabei ist mir aufgefallen, dass natürlich alle Jahrzehnte zu kurz gekommen sind, aber dass ich besonders in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts noch empfindliche Lücken habe. Meiner Ansicht haben die 1900er-1920er viele Gemeinsamkeiten mit den Entwicklungen, die mit der deutschen Reichsgründung begannen. Allerdings möchte ich diesmal nur fünf Jahrzehnte zugrunde legen, nicht wie dieses Jahr ein ganzes Jahrhundert, und beginne mit den 1880ern, in denen nach einer wirtschaftlichen und politischen Konsolidierung eine Phase einerseits des Konservatismus begann bzw. sich fortsetzte, andererseits sich auch progressive Strömungen ausweiteten, die sowohl positiv als auch negativ den Verlauf des letzten Jahrhunderts beeinflussten. Daneben will ich auch passende Sachbücher oder -magazine lesen sowie vielleicht auch das eine oder andere belletristische Werk, das aus einem anderen Zeitraum stammt, aber sich auf die ausgewählten Jahrzehnte bezieht.
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Ich knüpfe an und überschneide mit meiner diesjährigen Liste, nehme mir aber einen nicht ganz so langen Zeitraum vor:
Meine Liste ist wieder offen, nur die Zeiträume sind vorgegeben.
Literatur der 1880er bis 1920er - deutschsprachig und international
1880-1889 deutschsprachig- Gustav Freytag: Erinnerungen aus meinem Leben (1887) 01/25
1880-1889 andere Literaturen
- Jules Verne: Zwei Jahre Ferien (1888) 01/25
- Mark Twain: Prinz und Bettelknabe (1881) 01/25
1890-1899 deutschsprachig
Arthur Schnitzler: Die Frau des Weisen / Die Toten schweigen(1897) 02/25
1890-1899 andere Literaturen1900-1909 deutschsprachig
Arthur Schnitzler: Leutnant Gustl / Der blinde Geronimo und sein Bruder (1900) 02/25
Arthur Schnitzler: Das Schicksal des Freiherrn von Leisenbohg (1903) 02/251900-1909 andere Literaturen
John Galsworthy: Die Forsyte Saga (1906-1921 03/25
1910-1919 deutschsprachig
Arthur Schnitzler : Fräulein Else (1924) / Spiel im Morgengrauen (1926) 02/25Richard Dehmel: Blinde Liebe (1912) 03/25
1910-1919 andere Literaturen
Maxim Gorkij: Unter fremden Menschen (1915/16) 04/251920-1929 deutschsprachig
Carl Zuckmayer: Schinderhannes (1927) 03/25
1920-1929 andere Literaturen
Virginia Woolf ; Ein Zimmer für sich allein (1929) 02/25
Sachbücher, die sich ungefähr auf diesen Zeitraum beziehen
- Hartmut Scheible: Schnitzler (Rowohlts Bildmonografien) 01/25
- Günter Ogger: Die Gründerjahre. Als der Kapitalismus jung und verwegen war02/2
Literarische Werke, die aus einem anderen Zeitraum stammen, sich aber auf die 1880er bis 1930er beziehen
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Danke für den Tipp, eins der großartigsten Bücher aus Lateinamerika, da ist es schön, dass es auch dort und mit dortigen Schauspielern verfilmt wird. Ich habe keinen Netflix -Zugang, aber vielleicht wird die Serie auf Dauer auch bei anderen Streaming-Diensten angeboten.
Und schön, dass du dich mal wieder meldest, Vult! -
Ich habe Schnitzlers Novelle "Casanovas Heimfahrt" für den Abschnitt 1910-1919 gelesen, eine eindrucksvolle Lektüre. Nun lese ich noch ein Beispiel für das Absurde Theater der Fünfziger Jahre: Der neue Mieter von Eugène Ionesco.
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Arthur Schnitzler: Casanovas Heimfahrt (1917)
Diese Novelle des österreichischen Schriftstellers Arthur Schnitzler (1862-1931) behandelt einen fiktiven Aufenthalt des historischen Lebemannes und Frauenhelden Giacomo Casanova (1725-1798) auf dem Landsitz eines Freundes in der Nähe Mantuas.
Inhalt:
Casanova ist nach Jahrzehnten des Exils – „in seinem dreiundfünfzigsten Lebensjahr“ - auf dem Weg zurück in seine Heimatstadt Venedig, aus deren Staatsgefängnis, den Bleikammern, er als junger Mann geflohen war. In Mantua trifft er zufällig einen alten Bekannten, dem er in dessen Jugend die Heirat mit Amalia ermöglicht hatte. Olivo lädt ihn auf sein Landgut ein, und Casanova nimmt dort für zwei ereignisreiche Tage Aufenthalt. Die Familie, drei Töchter zwischen zehn und dreizehn und Amalia, empfangen den alten Freund herzlich, ja Amalia scheint sogar daran interessiert, die alte Liebesbeziehung wieder aufleben zu lassen. Casanova indes entbrennt Hals über Kopf für die Cousine der Familie, Marcolina, eine zurückhaltende, gelehrte junge Frau, die sich insbesondere der höheren Mathematik verschrieben hat. Marcolina durchschaut Casanova sofort und weist ihn spöttisch und geistig überlegen in seine Schranken, als er vor ihr mit seinen Schriften gegen Voltaire renommieren will. Dieser versucht nun Amalia zu manipulieren, Druck auf Marcolina auszuüben, damit diese ihm zu Willen sei. Amalia weist das aber ab mit dem Hinweis auf die hohe Moral ihrer Cousine. Doch in den späten Stunden der gleichen Nacht, nach einem Glücksspiel mit dem benachbarten Marchese, dem Offizier Lorenzi und anderen Nachbarn, erlebt der schlaflos im Garten wandelnde Casanova, wie Marcolina Lorenzi nach einer eindeutig miteinander verbrachten Liebesnacht aus ihrem Zimmer in den Park entlässt. Bereits am folgenden frühen Nachmittag, nachdem der enttäuschte Casanova aus Frust die älteste, dreizehnjährige Tochter Olivos und Amalias vergewaltigt hat, ergibt sich für ihn die Möglichkeit, zu seinem Ziel zu gelangen. Indem er Lorenzi anbietet, dessen hohe Spielschulden zu begleichen, verlangt er von diesem, dass er ein letztes Stelldichein mit Marcolina vereinbare, bevor er zu seinen Truppen eile, ihm seinen Offiziersmantel überlasse, sodass Casanova in der Rolle Lorenzis bei der Ersehnten zum Zuge kommt. Die Intrige geht auf, aber Marcolina wendet sich, nachdem sie im dämmernden Tag den alternden Casanova erkannt hat, angeekelt von diesem ab. Auf dem Weg zu seiner Kutsche, mit der er nach Venedig weiterreisen will, fängt ihn Lorenzi ab und duelliert sich mit ihm. Dabei tötet Casanova den Offizier und reist sofort ab. In Venedig angekommen übernimmt er Spitzeldienste für die von ihm zutiefst verachtete venezianische Regierung, denn das war der Deal, wieder in Venedig wohnen zu dürfen.Stil und meine Einschätzung:
Die Novelle wird ohne Erzählerkommentar in Er-Perspektive mit Innensicht erzählt. So erfahren wir viel über die widersprüchlichen Gefühlswelten Casanovas, der sich nicht mit dem Attraktivitätsverlust beim andern Geschlecht durch sein Altern abfinden kann und in den glänzenden Erinnerungen an seine Eroberungen vergangener Jahre schwelgt. So bricht immer wieder Gewalt aus ihm hervor, um sich die Genüsse zu verschaffen, die ihm in seiner Glanzzeit von selbst zufielen. Auch dass er sich dazu hergibt, Spitzeldienste für die verhasste venezianische Regierung zu übernehmen, löst in ihm zeitweise Selbstekel aus, dennoch wird dies immer wieder von seiner Eigenliebe und Selbstüberschätzung überdeckt.Schnitzler erzählt dies alles ganz aus der Perspektive der Hauptgestalt, benutzt dabei auch oft die Technik des Bewusstseinstroms. Dabei legt er Casanova auch eine Kernstelle in den Gedankengang:
„Hatte er nicht schon unzählige Male erfahren, dass in jedes wahrhaft lebendigen Menschen Seele nicht nur verschiedene, dass sogar scheinbar feindliche Elemente auf die friedlichste Weise darin zusammenwohnten?“ Dies alles findet in einer paradiesischen Landschaft in Oberitalien statt, deren heiße Tage und schwüle Nächte die Atmosphäre zusätzlich anheizen.
Nicht nur Casanova offenbart uns seine egomane Gewalt zur Durchsetzung seiner Interessen und die Ambivalenz seiner Lebenshaltung, sondern auch einige Nebenfiguren wie der Marchese und Lorenzi, die aus Eigennutz bedenkenlos andere in Mitleidenschaft ziehen.
Aus heutiger Sicht ist die Lektüre an manchen Stellen schwer zu ertragen, und es mag Leser geben, die sich eine eindeutigere Distanzierung des Autors von seiner Hauptfigur gewünscht hätten. Ich aber finde, dass gerade diese kommentarlosen Einblicke in die Seele eines egomanen Lüstlings viel stärker wirken, als man durch irgendwelche moralischen Entrüstungen erzielen könnte.
Die ganze Handlung auf dem Landsitz ist der Fantasie des Autors entsprungen, dagegen ist nachgewiesen, dass Casanova tatsächlich nach seiner Rückkehr in Venedig Spitzeldienste versehen hat.
Ich kannte bisher nur Schnitzlers Wiener Stücke „Reigen“ und „Liebelei“, die mir nicht besonders viel sagen, Schnitzler als Prosaschriftsteller beeindruckt mich mit dieser Novelle dagegen umso mehr.
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Leibgeber, sei so nett und poste deine Kommentare in den Kommentar-Thread, weil hier nur die Listen gepflegt werden sollen. Danke