Beiträge von Karamzin

    Mich interessierte noch einmal, wo ich das mit dem "Zwangsurlaub" her hatte.
    Die entsprechende Verknüpfung ergab einen Hinweis auf das Buch "Aufbruch und Ende" von Hans Modrow, von dem offenbar 2014, nach 25 Jahren, als ich es das erste Mal in die Hand bekam, wieder eine Neuauflage erschienen war, die auch unter google books einsehbar wird. Das ist sicher seine subjektive Sicht.



    Aber ich erinnere mich genau an die Gerüchteküche im Sommer 1989, in der die Möglichkeit ängstigte, dass der für das Desaster der Wirtschaft zuständige Günter Mittag der Nachfolger Honeckers würde.

    Krenz war lediglich in China zum 40. Jahrestag der dortigen Pekinger Republik. Oder was meinst du mit "Zwangsurlaub"?


    Egon Krenz war Anfang Oktober zum 40. Jahrestag der Gründung der Volksrepublik China in Peking, was als Demonstration von Sympathien für eine gewaltsame Lösung verstanden wurde.
    Im August und September, als immer mehr Leute das Land verließen und von der Führung nichts mehr zu vernehmen war, saß Krenz nicht in Berlin, sondern größtenteils an der Ostsee. Dies in einer Zeit, in der gemunkelt wurde, dass nunmehr Günter Mittag und Joachim Herrmann die Führung der Partei übernehmen sollten, was wiederum bedeutete, dass der "Kronprinz" Honeckers ausgebootet werden sollte.
    Eine Woche nach dem Besuch in China tobte vor allem in Berlin und Leipzig eine Schlagstock-Orgie, zahlreiche Demonstranten wurden "zugeführt". Im November aber blieb die "chinesische Lösung" zum Glück aus.
    So liest sich das in etwa in den meisten Darstellungen zur DDR-Geschichte.

    Hallo, JHNewman,


    ich werde an dem entsprechenden Ort etwas zu dem Buch von Steffen Martus schreiben!


    Noch ein paar Worte zu Hermann Kant. Inzwischen war eine ganze Reihe von Nachrufen und Würdigungen erschienen. In meiner ersten Reaktion bin ich vielleicht etwas zu einseitig vorgegangen.


    Kolleginnen und Kollegen aus den westlichen Bundesländern berichteten mir, dass sie die "Aula" sehr wohl kannten und schätzten.


    Was war den bisherigen Nachrufen so alles zu entnehmen?


    Zwischen "Hofnarr" und "Großinquisitor" ist wirklich ein großer Raum vorhanden, beide Wertungen sind Extreme. Reich-Ranicki schätzte durchaus den Wortwitz Hermann Kants. Die Behandlung der Polen-Thematik im "Aufenthalt" wurde auch außerhalb der DDR als einer der ernsthaftesten Beiträge zur Literatur über den Zweiten Weltkrieg bewertet. Unter den bekennenden Gegnern des westlichen Systems war Kant ein munterer Geselle. Er trug zur Unterhaltung bei, suchte auf unterhaltsame Weise seine Belehrungen und Botschaften unterzubekommen. Die Frage war nur, ob man noch darüber lachen konnte, da doch manche Umstände eher zum Heulen waren. Wenn man genauer hinschaute, konnte man hinter der zur Schau getragenen Flapsigkeit auch Selbstzweifel entdecken, er war sensibel, reizbar.


    Das Ausbooten von Schriftstellern und Künstlern durch staatlich-administrative Maßnahmen, wie es Kant betrieb und wie es scharf verurteilt wurde, war nichts Neues unter der Sonne. Hermann Kant konnte übel nachtreten. Andere Literaten wiederum fühlten sich von ihm beschützt.


    Eine Assoziation zu einer ganz anderen Schreibweise: Irgendwo fand ich dieser Tage einen Hinweise auf Harry Thürk, den DDR-Vertreter des Agenten-Romans, der zur Unterhaltung auch Elemente der Kolportage nutzte. Ich weiß noch, dass sein "Gaukler" (1978), ein Angriff auf die CIA im Zusammenhang mit der Ausbürgerung A. Solzhenizyns und seiner Aufnahme durch Heinrich Böll, für die Thürk einen hohen Orden erhielt, damals in mir nur eine erdrückende Traurigkeit und Leere hinterließ. Immerhin wurde nach der "Perestrojka" auch deutlich, dass der Anprangerer des "Gulag", der reale Solzhenizyn, zugleich ein ziemlicher Antisemit war, der zudem dachte, seine Landsleute würden ihn nach der Rückkehr aus dem Exil im Triumphzug durch das Land führen und in ihm den nach Tolstoj zweiten russischen Messias erkennen.


    Nein, Hermann Kant war dann mit seinen Wortspielen doch eine ganz andere Kost.


    In den 1990er Jahren, als Kant sich nach Neustrelitz zurückzog und nur noch von einem bestimmten Publikum wahrgenommen wurde - ehemals hochgestellte Weggefährten wie Egon Krenz und Klaus Höpcke ("Bücherminister" oder Ober-Zensor, wie man will) erschienen zu seiner Ehrung - wurde ein Bild festgezurrt, wie es denn auch in den Medien und im Bildungswesen immer wieder erschien: es gab Täter, es gab Opfer, und die Mehrzahl der Leute waren mehr oder weniger angepasste "Nischenbewohner" (das stammte wohl von G. Gaus, der besonders zur Differenzierung bereit und fähig war) und Mitläufer. Wem das genügt, nun ja ...
    Der "Binnensichten" aber gab es in der DDR außerordentlich viele und so auch ganz verschiedene Schreibweisen der Literaten.

    2. Teil


    Ich gestehe es, ich kam mit der Schreibweise Hermann Kants seit den achtziger Jahren nicht mehr klar. Diese gequälten Witzchen und Wortspiele, seine Selbstgefälligkeit hinter vorgetäuschter Naivität. Ich konnte Hermann Kant nicht ernst nehmen, Christa Wolf hingegen schon, die ihre Zweifel ausbreitete.
    Hermann Kant kam hingegen mit einem Augenzwinkern daher: "Das ist sicher kritikwürdig, aber, wir wissen schon", den Leser unterharkend, "mit uns wird es weitergehen und sich alles zum Besseren wenden!"
    Mit seiner "Bronzezeit", dem "Dritten Nagel" oder anderen Erzählungen der Spätzeit konnte ich im Unterschied zu nahen Angehörigen nicht mehr klarkommen.
    Spielerisch dahertändeln und noch ironisch Seitenhiebe verteilen, wenn es doch in der Wirklichkeit schon recht eng wird? Es gab in meiner Umgebung Auseinandersetzungen um die Schreibweise Hermann Kants. Schließlich fand ich die Lektüre nicht mehr als ein "Muß", wie noch in besten DDR-Zeiten.


    Am meisten Einfluss hat wohl sein Roman "Der Aufenthalt" (1978), der auch verfilmt wurde, in Ost und West ausgeübt, der das Schicksal eines jungen Deutschen behandelt, der am Ende des Zweiten Weltkrieges in polnische Kriegsgefangenschaft geriet. Hier wurde das Verhältnis zum benachbarten Polen angesprochen. Und das war in den 1970er und 1980er Jahren alles andere als einfach. Hermann Kants Lebensgefährtin Vera Oelschlegel tat sich nach ihrer Trennung von Hermann Kant mit Berlins brutalem 1. Sekretär der Bezirksleitung der Partei Konrad Naumann zusammen, der als Vorläufer des nicht minder die Schriftsteller schikanierenden Schabowski, später zum Wahl Helmut Kohls aufrufender "Gewendeter", in der Zeit der endlosen Streiks 1980/81 auch schlichte antipolnische Töne in Berlin verlauten ließ und damit bei jenen Anklang fand, die Sprüche wie "Die Polen können nicht arbeiten" von Stapel ließen. An Geschichtsvergessenheit und antipolnischem Ressentiment mangelte es bei solchen Führungsgestalten nicht.
    Hermann Kant hingegen versuchte Verständnis für die Angehörigen eines Volkes zu erwecken, das nicht zum ersten Mal dem brutalen Angriff seiner deutschen Nachbarn ausgesetzt war.



    Doch halt - wirkte hier nicht noch die Vorstellung nach, dass Literatur "Lebenshilfe" sein und "Orientierung" bieten sollte? Ich war nicht imstande, Hermann Kants späte Prosa zu genießen. Andere können hier von anderen Leseerlebnissen berichten.

    1. Teil


    Im Sommer 1989 stieg der Druck im Kessel DDR. Der Kontakt der Bevölkerung zur Führung ihres Landes war völlig verloren gegangen, selbige unsichtbar geworden. Erich Honecker hatte sich irgendwohin schwerkrank zurückgezogen, Krenz war in Zwangsurlaub versetzt worden. Eine Staatskrise hatte eingesetzt, eine ungewohnte Situation, in der auch den erfahrensten Leuten nichts mehr zu der Frage einfiel, wie es mit dem Lande am Vorabend seines 40. Jahrestages der Gründung weitergehen könnte.


    Doch tausende Menschen verließen täglich das Land, über Ungarn und andere Orte, über die man entfliehen konnte. Die Mehrheit blieb, zwangsläufig.


    Wie gewohnt, erwarteten die Menschen irgendwelche Äußerungen der Partei- und Staatsführung "von oben" – nichts kam.
    Möglicherweise stellen sich bei dem einen oder anderen, der diese Situation in der DDR im Sommer 1989 miterlebt hat, Verbindungen zu gegenwärtigen Ereignissen ein.
    Als einer der ersten in dieser gespenstisch anmutenden Zeit des Schweigens der sonst so geschwätzigen Führung meldete sich schließlich Hermann Kant in einem Interview zu Wort. Er war ein nervöser Schriftsteller. Er hatte gespürt, dass etwas im Lande überhaupt nicht mehr lief, dass man jetzt eingreifen müsste, dass es bald zu spät sein könnte und die Angelegenheiten des Staates völlig entgleiten konnten, dem er sich wie Millionen dennoch verbunden fühlte.


    Viele wollten das Land verlassen, doch Millionen konnten es nicht und wollten es nicht. Es wurde nun in diesem September zu einem Dialog zwischen Staat und Volk aufgerufen.


    Es war zu spät, viel zu spät. Hermann Kant wurde in den Strudel des Untergangs der DDR gerissen. Etliche mochten mit ihm an der Vorstellung von einer „besseren“ Alternative im Osten Deutschlands mit Vollbeschäftigung, fehlenden Sorgen um bezahlbare Wohnungen festhalten. Das Regime trat ab von der Bühne, zum Glück völlig unblutig, und mit ihm das Mitglied des Zentralkomitees der SED Hermann Kant. Er fand weiterhin seine Leser und Zuhörer.
    Der 1965 veröffentlichte Roman “Die Aula“ berichtete vom Aufstieg von Angehörigen einer Generation, die nicht mehr mit dem traditionellen Bildungsbürgertum der Zeit vor 1945 verbunden war. Deren Vertreter waren in den Westen gegangen oder hatten sich in der Masse der Funktionsträger an den Schulen und in der Ärzteschaft aufgelöst.


    Die "Arbeiter-und-Bauern-Fakultäten" (ABF) („durchkoppeln“ lernten wir in der Schule, wie im Fall der „Arbeiter-und-Bauern-Inspektion“ mit hunderttausenden Mitarbeitern als allumfassendem Kontrollorgan, im Westen selbst Spezialisten heutzutage weitgehend unbekannt) mit der wichtigsten Einrichtung in Halle an der Saale sorgten dafür, dass tausende junger Menschen aus Kreisen der Arbeiter und Bauern eine Hochschulbildung erwarben, um recht schnell führende Positionen im Staats-oder Parteiapparat erlangen zu können. Sie wurden häufig von übrig gebliebenen Bildungsbürgern verspottet. Die konnten ja nicht einmal richtig Latein, sie beherrschten etwas Russisch, bekamen aber lebende Engländer oder Franzosen wegen der Mauer nicht zu sehen und erlernten die modernen europäischen und Weltsprachen an der ABF nur höchst mangelhaft.


    Es gab Hunderttausende Menschen, die Kants Roman lasen und als etwas Besonderes auffassten, die bereits nicht mehr über lebendige Verbindungen zu Westdeutschland verfügten, keine Westverwandtschaft hatten, keine westdeutschen Sender hörten oder sahen. Jetzt wird der 55. Jahrestag des Mauerbaus 1961 begangen - eine große Zahl von Menschen hatte sich damit abfinden müssen, dass Deutschland auf absehbare lange Zeit geteilt bleiben würde und man sich in dem Staatswesen dauerhaft einrichten müsste, das mit der Sowjetunion verbündet war, deren Armeen in den brandenburgischen und mecklenburgischen Wäldern standen.


    Die Besucher der Arbeiter-und-Bauern-Fakultäten wuchsen in einer religionsfreien Zone auf. Bis zu den fünfziger Jahren herrschte in der DDR ein militanter Atheismus, Jugendliche, die die Christenlehre besuchten und sich konfirmieren ließen, wurden diskriminiert und massiv am Fortkommen gehindert. 1965 jedoch, und das wird in Hermann Kants Roman "Die Aula" auch spürbar, war diese militante antikirchliche Linie nicht mehr durchzuhalten. Man versuchte, zu einem Arrangement zu kommen. 1967 sollte dann das Treffen des Landesbischofs Moritz Mitzenheim mit Walter Ulbricht zur Regelung des Verhältnisses zwischen Staat und Kirche stattfinden, die Losung von der "Kirche im Sozialismus" kam auf. Niemand braucht sich heute zu wundern, dass es im Osten Deutschlands Millionen religionsferner Menschen gibt, die nichts besonders gegen die Kirchen haben, sondern einfach nicht mit christlichen Dingen als einer für sie fremden Welt behelligt werden möchten. Auch unter dem Einfluss eines Romans wie "Die Aula" in ihrer Jugendzeit. Das erzeugte "Wir-Gefühl" jener Generation beruhte auch auf Religionsferne.



    Sie waren verstört, dass die Romangestalt „Quasi Rieck“ trotz affektiv demonstrierter Verbundenheit mit der DDR dennoch in den Westen ging, in Hermann Kants Heimatstadt Hamburg, um dort ein Kneipenwirt in einem trostlosen Milieu zu werden.

    Kürzlich griff ich wegen einer bestimmten Information nach Jahren wieder zu "Glanz und Elend der Kurtisanen", so wie hier in diesem Thread nach Jahren auch wieder etwas über Balzac geschrieben werden soll.
    Schon in meiner Kindheit sagte mein Vater, der in den fünfziger Jahren mit der Lektüre begonnen hatte: "Du musst Balzac lesen, wenn Du wissen willst, wie der Kapitalismus funktioniert!" :cool:
    Die Jahre nach 1984 war für mich die große Zeit der Balzac-Lektüre: ich griff zu einem Roman, zu einer Erzählung nach der anderen und versuchte mich an die Eigenheiten der Hunderten von Figuren zu erinnern, die immer wieder in den verschiedenen Werken vorkommen.
    Die Sentimentalität etwa in der "Lilie im Tal" empfand ich als süßlich im Vergleich zu den Originalromanen der Zeit der Empfindsamkeit von Rousseau und Goethe.
    Grauenhafte Typen kommen in den Romanen vor, Geldverleiher und Wucherer, Polizeispitzel und Kinderschänder.


    http://klassikerforum.de/forum/index.php?thread/4900.15 (weiter unten: über Typen bei dem Zeitgenossen Immermann und bei Balzac)


    Bestimmte Tricks aus dem Geschäftsleben, die ich nur bei Balzac fand, habe ich mir schon zu realsozialistischen Zeiten gemerkt: zwei Brüder der Finanzwelt behandeln einen ahnungslosen Kunden, der eine gibt ihm in eine Zusage und macht ihm schöne Hoffnungen, er reicht den Kunden mit einem Wisch zu seinem anderen Bruder eine Etage tiefer, auf dem er ein bestimmtes Zeichen hinterlassen hat, das dem Bruder signalisiert, genau das Gegenteil zu vollziehen, also das Kreditgesuch abzuschmettern ...


    Ich habe mich manchmal nach 1990 gefragt, ob es so etwas auch heute noch beispielsweise bei Anwälten gibt, man antwortete mir, dass das nicht mehr nötig sei, man wisse auch so, was der andere Anwalt vorhat.


    Begleitend las ich damals die Biographien von Stefan Zweig und Andre Maurois. Später kamen die Lebensbeschreibungen Balzacs und Stendhals von Johannes Willms als Lektüre hinzu, der, sagen wir mal so, ziemlich viele Bücher zu französischen Persönlichkeiten geschrieben hat.
    (bei Willms werden deutlich die finanziellen "Geschäfte des Herrn Balzac" behandelt. Was mich etwas abstößt, ist seine Art, von Frauen im Leben Balzacs zu schreiben, "die Hanska" vor allem; vielleicht kommt so etwas, wenn man sich lange im Ausland aufhält...)
    Noch ein letztes, bevor ich zum eigentlichen Anliegen dieses Posts komme:
    Man hatte sich damals also so richtig in die Welt des Balzacschen Paris und der französischen Provinzstädte eingesponnen. Aus seinem realen Leben war ich immer angezogen von der langjährigen wahren Freundin, die Balzac mit Sorge um ihn begleitet hat: Zulma Carraud, die Frau des Direktors einer Pulverfabrik. Von Stefan Zweig wurde sie gepriesen, bei Willms kommt sie nebenbei vor. Und als ich da ein Bild von ihr in die Hand bekam, war ich ja völlig hingerissen.


    Spätestens 1987 war Balzac wieder von meiner Leseliste verschwunden.


    Was ich mich also heute frage: Bei Balzac kommen Minister, Präsidenten und ein Generalsekretär des Staatsrates (Lousteau) vor, dieser düster-wichtige de Marsay, diese ominösen "Dreizehn", die ganz Paris im Geheimen beherrschen,


    obwohl doch jeder lesende Franzose wissen musste, wer das etwa im Jahr 1830 gewesen ist. Wie muss bei den damaligen Lesern so ein Spiel, solch eine Fiktion, angekommen sein? Es gibt auch Bände mit zeitgenössischen Reaktionen auf Balzac, aber da kommt dieser Umstand kaum ins Spiel.
    Bei Tolstoj unterhalten sich in "Krieg und Frieden" fiktive Personen, wie Andrej Bolkonskij und Pierre Besuchov, mit real-historischen Gestalten, wie Speranskij und Kutuzov, er wollte auch noch Karamzin einbauen, hat es aber dann unterlassen. Die deutschen Offiziere, die am Abend vor der Schlacht bei Borodino vorbeireiten, die hat es wirklich gegeben, Clausewitz und Wolzogen, und das waren keine arroganten Schnösel und Schreibtischstrategen, die nichts von den Russen verstanden hätten. Fontane lässt seinen fiktiven Schach von Wuthenow bei dem wirklichen, nur in Infinitiven sprechenden König Friedrich Wilhelm III. und der liebenswürdigen Louise vorstellig werden (herrliche Szene).



    Kann man sich das etwa so vorstellen, wie in einem neueren amerikanischen Film, wo beabsichtigt ist, den fiktiven Präsidenten umzuhauen und dann irgendwelche Leibwächter mit modernsten Waffen den Bösewichtern nachjagen, die eine Verschwörung gegen diesen Präsidenten angezettelt haben, der schon lange vor Obama eine dunkle Hautfarbe haben konnte?
    Also wenn ich mir vorstelle, einen heutigen Roman zu lesen über das gegenwärtige Berlin mit einem fiktiven Bundeskanzler anstelle von Angela Merkel und einem angenommenen Präsidenten anstelle des jetzigen ... (ab wann würde eigentlich der Präsidentenbeleidigungsparagraph dann greifen). Ich weiß auch nicht, wie sich das etwa in der Schweiz anfühlen würde, höre an der Stelle lieber auf.
    Aber merkwürdig ist das schon.

    Als ich den "Hyperion" wie auch den "Empedokles" zum ersten Mal achtzehnjährig im letzten Jahr der Erweiterten Oberschule las - die Deutschlehrer hatten die Hölderlin-Lektüre nicht empfohlen, das Reclam-Bändchen hatten wir zu Hause stehen - hatte ich immer auch ein klassisches Bild vor Augen: "Et in Arcadia ego " von Nicholas Poussin (1637), eine Reproduktion des Bildes hing an der Wand.


    Eine Frauengestalt im antiken Gewand lehnt milde blickend an einem Sarkophag, drei Männer, Hirten versuchen die Inschrift zu deuten. So stellte ich mir die Diotima vor, eine abgeklärte, allwissende Frau in einer idyllischen Landschaft.
    Dann gab es Hölderlin-Biographien: die Geschichte mit Susette Gontard und ihrem Bankiersgatten in Frankfurt am Main rührte mich schon an in einer Zeit, in der Ulrich Plenzdorf den Jugendlichen den "Werther" im zeitgenössischen Gewand nahebringen wollte, das Theater war gerammelt voll von Jugendlichen, und man johlte vor Vergnügen.
    Nun ja, so hatte man in der Jugendzeit beim Hölderlin-Lesen Sehnsucht nach idyllischen Zuständen, in denen der Alltag nicht durch Einheitspartei und Staat fremdbestimmt wurde...


    Später erfuhr ich, dass Hölderlin die beiden russisch-türkischen Kriege 1768-1774 und 1787-1792 anhand der aktuell-politischen Literatur und von Karten schon intensiv verfolgt hatte. 1796 ließ Katharina die Große noch kurz vor ihrem Tode eine russische Armee in den Krieg im Süden ziehen. Über Hölderlins Studien zu diesen Ereignissen gibt es ein Kapitel in dem Buch: Christoph V. Albrecht: Geopolitik und Geschichtsphilosophie 1748-1798, Berlin 1998.


    Hölderlin stand wie anderen Zeitgenossen das alte, das antike Griechenland wie das "neue" Griechenland seiner Zeit vor Augen, in dem die Aufklärung (u. a. Rhigas) gerade erst in einigen städtischen Zentren eingesetzt hatte, auf den Inseln und in den Bergen sich griechische Bergkrieger und Räuberbanden einen erbitterten Kleinkrieg mit den osmanischen Besatzern lieferten.
    Da erschien 1769 zum ersten Mal eine russische Flotte in der Ägäis, niemand hatte das in Westeuropa zunächst für möglich gehalten, und eine türkische Flotte wurde bei Tschesme in die Luft gejagt! (Bilderserie des Goetheschen Malerkollegen Philipp Hackert). Die Teilnahme des Helden am Krieg mit Alabanda ist eine Widerspiegelung konkreter Zeitereignisse.


    Dann aber verflogen erst einmal die Illusionen der humanistisch gebildeten Philhellenen für einige Jahrzehnte: Griechenland wurde nicht befreit, die griechischen Bergkrieger blieben, was sie waren, und die russischen Schiffe drehten wieder ab gen Gibraltar und St. Petersburg. Erst ab 1821 entflammten wieder die Herzen der Griechenfreunde, Lord Byron und andere Freiwillige zogen los, holten sich das Sumpffieber. Die freiheitsliebenden Neugriechen als Objekte der Begeisterung der Philhellenen hatten einen großen Vorteil: sie lebten schön weit weg von Deutschland.
    (was etwa der Begeisterung für Nordvietnam, Chile und Kuba um 1973 entsprach)


    Das vernichtende Urteil Hölderlins aber über die zeitgenössischen Deutschen, die "Barbaren von alters her", wie hat es damals nicht bei dem Jugendlichen gezündet. Und dann kam der arme Hölderlin aus Südfrankreich mit seinem gleißenden Sonnenlicht völlig abgebrannt und fertig wieder in seine Heimat, und dann bezog er für den Rest seines Lebens den Turm in Tübingen, den ich gleich nach der Herstellung der deutschen Einheit 1990 nun endlich mit eigenen Augen sehen durfte.

    Ich bitte um Entschuldigung, bin seit Wochen dermaßen mit Problemen belastet, dass ich keine Ruhe zum Weiterlesen und zur Teilnahme an der Leserunde finde. Hoffentlich bessert sich das wieder, ich wünsche allen viel Freude und manche Einsicht beim Lesen.

    Vielfach gewinnt man den Eindruck: die Schreiber können es wirklich nicht besser, oft auch professionelle Autoren.


    http://ifb.bsz-bw.de/bsz401388…E34F4CD1A1C998DB4?id=6569


    Das kann man beklagen, es ist aber nicht oder nur im konkreten Fall zu ändern, wenn noch eine Korrektur möglich ist. Es ergeben sich mehrere Fragen:
    Wo liegen die Ursachen für derartige Fehler? Wirklich durch Versäumnisse in der Schulzeit? Kamen dann zahlreiche Beeinflussungen in den alltäglich konsumierten Medien hinzu, die das einst Gelernte wieder in Vergessenheit geraten ließen?


    Oft werden Fehler dieser Art stillschweigend und resignierend hingenommen, in den meisten Fällen von niemandem bemerkt. Ich gestehe, dass ich auch über viele Fehler hinweglese.

    Der führende Immermann-Forscher im deutschen Sprachraum ist Peter Hasubek (* 1937).


    http://www.hasubek.de/


    Er hat die neuere Immermann-Ausgabe herausgegeben und kommentiert, die auch in der Leserunde genutzt wird.


    Er unterhielt die Informations-Möglichkeit "Immermann im Internet":


    http://www.immermann.de/


    Peter Hasubek hat anläßlich des 200. Geburtstages Immermanns eine Sammlung von eigenen Aufsätzen über den Magdeburger Schriftsteller vorgelegt; ein spezieller Aufsatz über die "Epigonen" fehlt allerdings darin.


    Peter Hasubek: Karl Leberecht Immermann. Ein Dichter zwischen Romantik und Realismus. Köln, Weimar, Wien 1986.



    Literatur über die Epigonen (I)


    Brandmeyer, Rudolf: Biedermeierroman und Krise der ständischen Ordnung. Studien zum literarischen Konservativismus. Tübingen 1982, S. 111-123.


    Emmel, Hildegard: Geschichte des deutschen Romans. Bern, München 1975, Bd. 2, S. 46-72.


    Feudel, Werner: Vom Unbehagen der Zeitgenossen. Industrielle Revolution im Roman. In: Unzeit des Biedermeiers. Historische Miniaturen zum Deutschen Vormärz 1830-1848. Hrsg. von Helmut Bock und Wolfgang Heise. Leipzig, Jena, Berlin 1985, S. 136-142.


    --> Helmut Bock war der führende Experte in der DDR über den revolutionären Zyklus 1830-1832; Wolfgang Heise ein herausragender marxistischer Literaturwissenschaftler ("Aufbruch in die Illusion"), der mißtrauisch von den Sicherheitsorganen beäugt wurde und von dem die Studenten begeistert waren, weil er sich zu Tabu-Themen äußerte.


    Finney, Gail: The counterfeit idyll: the garden ideal and social reality in 19th century fiction. Tübingen 1984, S. 74-83.


    Gadamer, Hans-Georg: Zu Immermanns "Epigonen"-Roman. In: Auf gespaltenem Pfad (Zum 90. Geburtstag von Margarete Susman, hrsg. von Manfred Schlösser). Darmstadt 1964, S. 254-273;
    Neudruck in: Gadamer, Hans-Georg: Kleine Schriften. Tübingen 1967, 2. Aufl. 1979, Bd. 2, S. 148-160.


    Grütter, Emil: Immermanns "Epigonen". Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Romans. Diss. Zürich 1951.


    Hasubek, Peter: Nachwort. In: Karl Immermann. Die Epigonen (1836). Familienmemoiren in neuen Bänden 1823-1835. Nach der Erstausgabe von 1836. Hrsg. von Peter Hasubek. München 1981, S. 801-824.


    Hasubek, Peter: Karl Immermann (1796-1840): Die Epigonen. In: Lützeler, Paul Michael (Hrsg.): Romane und Erzählungen zwischen Romantik und Realismus. Stuttgart 1983, S. 202-230.


    Jacobs, Jürgen: Wilhelm Meister und seine Brüder. Untersuchungen zum deutschen Bildungsroman. München 1972, S. 173-177.


    Maierhofer, Waltraud: Wilhelm Meisters Wanderjahre und der Roman des Nebeneinander. Bielefeld 1990, S. 59-116.


    Mayer, Hans (1907-2001): Karl Immermanns "Epigonen". In: Hans Mayer: Studien zur deutschen Literatur. Berlin 1954, S. 123-142.


    --> Der marxistische Literaturprofessor in Leipzig wurde von Ulbrichts Leuten in die Emigration getrieben, verstand sich aber auch im Westen weiterhin als Marxist. Er hatte Kontakt zur Gruppe 47 und zu B. Brecht.

    "Die Weltgeschichte", die Säkularisierung, die Umwandlungen im Königreich Westfalen 1807-1813 unter König Jerome "Lustick" Bonaparte machten sich auch auf den Gütern des Herzogs bemerkbar, wobei ich gestehen muss, ebenfalls nicht in die juristischen Feinheiten der Güterübertragung eingedrungen zu sein, mit denen sich Immermann auskannte.



    Was mich bei der Gestalt des "Oheim" besonders anregte, ist der Vergleich mit den etwa zur gleichen Zeit geschilderten Figuren des H. de Balzac. Dort finden sich grauenhafte und gruselige Unternehmergestalten und Geldverleiher, die die unschuldigen und unbedarften Menschen zugrunde richten, sich deren Erfindungen skrupellos aneigneten - die Brüder Cointet in den "Verlorenen Illusionen", die Kaufleute in "Cesar Birotteau". Die Ehrlichen gehen unter, die Skrupellosen triumphieren.


    Der Oheim alias Nathusius, der reichste Mann der Vaterstadt Immermanns Magdeburg, fiel den Zeitgenossen als geschäftstüchtig und unternehmend auf, nicht besonders fromm.


    http://de.wikipedia.org/wiki/Johann_Gottlob_Nathusius
    hier wird auch auf die Vorbildwirkung für Goethe und Immermanns "Epigonen" sowie C. v. Brentano aufmerksam gemacht.


    Aber derartige Brutalität wie in Paris oder in Balzacs Provinzstädten hatte in der mitteldeutschen Börde nicht Einzug gehalten. Feudale und Bürgerliche schlossen in Deutschland friedliche Kompromisse.

    Was kommen so alles für Autoren vor:


    In einem Forsthaus im Walde liegt der Novalis, das "schöne Märchen von Hyacinth und Rosenblütchen" (S. 53), in dem Hermann blättert, nachdem er auf der Suche nach Flämmchen dortselbst eingetreten war.



    "Nach der tiefsinnigen Bemerkung des seligen Asmus rühren die Mißverständnisse gewöhnlich daher, daß einer den andern nicht versteht." (S. 57) :belehr:
    Asmus war der 1815 verstorbene biedere "Der Mond ist aufgegangen"-Matthias Claudius, der in seinem Hamburg-Harburger Häuschen mit literarischen Erzeugnissen auftrat, die durch ihre tiefe pietistisch-fromme Unschuld, um nicht zu sagen Einfalt, die Zeitgenossen immer noch beeindruckten.
    Dieser Witz Immermanns erinnerte mich an die Darbietung der beiden Chinesen, die mit einem Gongschlag einen besonders "tiefen" Spruch ihres überaus geschätzten Philosophen ankündigten, worauf man wegen dessen ungewöhnlicher Banalität eine gewisse Zeit den Mund aufriß und überlegte: "Das muss jetzt also besonders tiefsinnig gewesen sein". Nicht jedem liegt diese Art von Humor Immermanns.



    Mit der "Schuld" des Adolph Müllner (1813), deren Handlung in der Komödiantenszene wiedergegeben wird, dürfte heutzutage wohl niemand mehr etwas anfangen können, ebensowenig mit dem "Lustigen Schuster", aber dem zeitgenössischen Zuschauer burlesker Komödien dürften diese Stücke wohl noch vertraut gewesen sein.


    Dass Hermann bei den Schauspielern auf ein verballhorntes "King-Lear"-Spiel stieß, mag wieder den Goethe-Konsumenten an die ernste Behandlung des "Hamlet" in "Wilhelm Meisters Lehrjahren" erinnern, Flämmchen ist die besonders wilde Variante der wechselnd in sich eingekehrten und gefühlvollen, dann wieder ausgelassenen Mignon. "Mord, Mord und Mortimer!" - wieder ein Schenkelklopfer Immermanns!



    "Die Liebe ist für Stunden, die Ruhe für das Leben" (S. 80), lehrt Immermann, der gerade mal über die Dreißig war.


    So, und im Gartenkabinett der Herzogin finden sich denn "Hermann und Dorothea", die Hymne des ruhebedürftigen, tugendsamen und im Hafen der Ehe gelandeten Kleinstädters, der oben erwähnte "Tasso", "Iphigenia", Homer und "die Gesänge unsres Schillers" (S. 97).
    Den Schillerspruch von 1786 aber sollte man sich merken:


    "Die Weltgeschichte ist das Weltgericht!"


    Später dann von Napoleon in der apokryphen Unterhaltung mit Goethe ausgebaut und variiert: "Die Politik ist das Schicksal"


    Kapitel 5 - ein kurzes Zwischenspiel. Immermann macht sich gern über die 'höheren' Ansprüche der Bauern und Handwerker lustig ... Hier ein Schneider.


    Wobei die Bezahlung des Schneiders durch den jetzt geldlich klamm gewordenen Hermann allein mit den "Vorderblättern" in den Anmerkungen zu meiner Ausgabe nicht erläutert wird.
    Der Schneider in seinem Nest war schon an die Bezahlung "in Naturalien, als Butter, Käse, Eiern u. dgl." gewöhnt. Doch: "Die Vorderblätter galten ihm weit mehr, als er fordern durfte, schon sah er sich im Geiste mit der Sonntagsweste aus dem Achttalertuche bekleidet; er schlug freudig ein."
    Aha, so ist das also mit den "Vorderblättern".



    Was gibt es noch so in den ersten Kapiteln.


    Also, BigBen, was die von Dir vermerkte "Langatmigkeit der Dialoge" betrifft, so gibt es in der Literatur jener Zeit Schlimmeres, regelrechte Romane in Dialogen. Nach so einem Gedankenaustausch, der in der Regel nicht zu tiefschürfend ist, steht zumeist bald wieder ein neues Abenteuer auf der Tagesordnung. Nehmen wir das Gespräch im folgenden sechsten Kapitel zwischen Herzog, Herzogin, hypochondrischem Kammerrat Wilhelmi und Hermannen über die "Beobachtung äußerer Sitte" (S. 28 der Ausgabe 1971), die im Gegensatz zur Tugendsamkeit als erstes ins Auge fallen würde. Das ist die populäre Fassung der Goetheschen Gespräche im "Torquato Tasso" über das, was sich in Gesellschaft ziemt. Erlaubt ist, was sich ziemt, und den Ton geben die schönen Frauen an (*schmeichel* an die Adresse Anna Amalia oder Charlotte von Stein).


    Der Herzog fügt an: "Am schlimmsten hat man es mit den Gelehrten" (S.29). Er lade nie zwei von dieser Sorte gleichzeitig ein. Wie die von der Diskussion über Sachfragen, mitunter winzige Kleinigkeiten, auf die persönliche Ebene zu persönlichen Beleidigungen übergehen ...





    BigBen
    Ich habe erst jetzt gelesen, dass Du eventuell einige Seiten eingescannt haben willst; ich gehe zwar selbst nicht mit dieser Technik um, kann das aber gern in meiner Umgebung in Auftrag geben.

    Der Schriftsteller und Literaturkritiker Theodor Mundt (1808-1861), der mit der literarischen Bewegung des "Jungen Deutschland" verbunden war, schrieb 1836 in einer Rezension des nunmehr vollständig vorliegenden Romans "Die Epigonen":



    Zit. in: Ulrich Hauer: Die Epigonen. Kriminalistische Ermittlungen zu den wahren Hintergründen des Epochenromans von Carl Leberecht Immermann. Haldensleben - Hundisburg 2008, S. 113.


    Theodor Mundt vermisst in dem Roman offensichtlich eine neue zukunftsweisende Tendenz. Die geschilderten Individuen sollen besser sein als die Verhältnisse, sie sollten zum Vorbild dienen.
    Im biedermeierlichen Deutschland erwachten nach 1830 die liberalen und demokratischen Kräfte. Sicher, der Frankfurter Wachensturm 1833 blieb vereinzelt, und Georg Büchner wirkte als Dramatiker seiner Zeit allzu weit voraus, als dass er von den meisten Zeitgenossen hätte verstanden werden können. Aber mit der "Friedhofsruhe" der Heiligen Allianz der europäischen Monarchen - im kommenden Jahr wird das 200jährige Jubiläum des Wiener Kongresses, der Heiligen Allianz und des Deutschen Bundes von 1815 begangen werden - war es vorbei.
    Das Bündnis des grundbesitzenden Adels und Teilen des aufkommenden bürgerlichen Fabrikantentums konnte in seiner bisherigen Form nicht mehr aufrechterhalten werden. Die Zollschranken mussten fallen. Erste Eisenbahnen rollten 1835 zwischen Nürnberg und Fürth.

    Ich habe jetzt an die 100 Seiten gelesen. Man hatte noch den Ernst von Goethes "Wanderjahren" im Hinterkopf und musste sich jetzt auf einen "Schelmenroman" einstellen, auf Scherz und Satire. Immermann hielt sich ja selbst eher für einen "Theatermenschen" und verabschiedet sich in der Szene mit dem Komödianten auch von seinen diesbezüglichen Illusionen. Die Prosa scheint ihm besser gelegen zu haben. Sein Ebenbild, der Hermann, mischt schon mal in einer Kneipenschlägerei mit und zieht schnell vom Leder, satisfaktionsfähig geworden durch seine Teilnahme am Befreiungskrieg gegen den großen Korsen als Offizier, herabgestiegen zu ödem bürgerlichem bürokratisch-juristischem Referendariatsalltag.


    Die Herzöge und Herzoginnen sind auch nicht mehr das, was sie einmal waren, sie umgeben sich mit nüchternen hypochondrischen Bürgerlichen und stehen nicht mehr einem steifen Hofstaat mit französischem Zeremoniell vor, wie er in der gleichzeitig gelesenen "Agnes von Lilien" der Caroline von Wolzogen (1796-1798) in der Residenzstadt anzutreffen war.



    Was mich jetzt am ehesten anzieht, ist der Lokalkolorit. Die Gegend, in der die Romanhandlung hauptsächlich angesiedelt ist, abgesehen von Westfalen, dem Hellweg und dem verschlafenen Salzkotten oder Verne ("schwarz - schwärzer - Paderborn"; Sennelager, wo heute noch geübt und geschossen wird; Verzeihung, wenn jemand aus der Ecke kommen sollte :zwinker:)


    - diese Landschaft um Alt-Haldensleben, Schloss Hundisburg und das Bebertal, wo die frühindustriellen Mühlen des steinreichen Magdeburger Unternehmers Nathusius ("der Oheim") klapperten, kenne ich ziemlich gut.


    Ich nahm die Erkundungen zur Hand:


    Ulrich Hauer: Die Epigonen. Kriminalistische Ermittlungen zu den wahren Hintergründen des Epochenromans von Carl Leberecht Immermann. Haldensleben-Hundisburg 2008 (an dieses Büchlein dürfte man wahrscheinlich nur schwer herankommen).


    Die "Epigonen" sind viel mehr ein "deutscher" Roman als die Goetheschen Erzählungen, der Held nahm am Wartburgfest 1817 teil (wo indes eine burschenschaftskritische Schrift des jungen Immermann verbrannt wurde), und der Philhellene kündet von jener Welle der Griechenbegeisterung, die nach 1821 auch die deutschen Lande errreichte. Hölderlin lässt im "Hyperion" seine hymnische Griechenbegeisterung wehmütig ausklingen, die Griechen der Gegenwart waren ihm ernüchternderweise Barbaren wie die Deutschen "von altersher". Immermann weiß schon, dass die gegen die Osmanen kämpfenden Räuberbanden nur entfernt an die Griechen des klassischen Alterums erinnerten. Die Teutschen begeistern sich für Freiheitskämpfe, die sich möglichst weit in der Ferne abspielen. Wenn das Flämmchen von einem polnischen Offizier abstammt - 1830-1832 war die große Zeit der Polenbegeisterung (siehe die Leserunde zu Fontanes "Stine"); heute vermag das niemanden mehr vom Hocker zu reißen.


    Und so scheint sich manches aus früheren Leserunden zu wiederholen: Den einen erscheint das Ganze zu flau, und sie sind vielleicht bald bereit, mit dem Lesen aufzuhören (es gibt halt Interessanteres), manche halten durch, trotz alledem; manche lassen sich das Vergnügen an der oft derben Komik nicht nehmen und manche graben sich mit einem sozusagen "antiquarischen" Interesse durch Raum und Zeit im Roman. :zwinker:

    Liebe Mitleserinnen und Mitleser,
    an alle Interessierte!


    Am 1. Oktober möchte ich die Leserunde zu dem Roman "Die Epigonen" von Karl Leberecht Immermann (1796-1840) eröffnen. Die Idee dazu entstand, als finsbury eine Diskussion über zeitgenössische Literatur zur industriellen Revolution im 19. Jahrhundert begann.


    Wir gehen wohl alle vielfältigen alltäglichen und beruflichen Verpflichtungen nach, die nicht bei allen immer eine kontinuierliche Teilnahme am Austausch ermöglichen (bei mir z.B. in diesen Tagen). Manche lesen parallel mehrere literarische Werke und berichten auch hier an anderer Stelle darüber. :smile:
    Ich möchte diesen Thread und auch den mit Material zu den Leserunden kontinuierlich mit Beiträgen bestücken.


    Es werden verschiedene Ausgaben benutzt, zumal, vorsichtig gesagt, Immermann-Texte in unseren Zeiten nicht gerade besonders auf dem Buchmarkt gefragt sind. Manche lesen e-books, andere bevorzugen gedruckte Ausgaben.
    Bei mir ist es:
    Karl Leberecht Immermann: Die Epigonen. Familienmemoiren in 9. Büchern: 1823-1835. Werkausgabe, hrsg. von Benno von Wiese, Bd. 2. Frankfurt am Main 1971.


    Es wird, wie sich gezeigt hat, mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten gelesen. Das macht auch nichts. Niemand sollte sich gedrängt fühlen. Man kann sich später zu bereits diskutierten Textstellen äußern.


    Angemeldet bzw. freundliches Interesse gezeigt oder angefragt haben:


    finsbury
    sandhofer
    BigBen
    giesbert Damaschke (eventuell)
    Lost
    mamila (fragte)
    Jaqui (hinzugefügt)
    Karamzin


    Sollte ich hier jemanden nicht genannt haben, so kann sie/er sich gern anschließen. Weitere Interessenten sind herzlich willkommen.

    Ansonsten: eine Empfehlung oder insgesamt eher eine Warnung?

    Danke für die guten Wünsche, einen erholsamen Urlaub in Südtirol wünsche ich! Ich werde übernächste Woche in die Gegenrichtung aufbrechen, in den Harz. :zwinker:


    Ich möchte das neue Buch von Sigrid Damm all denjenigen empfehlen, die an weiteren Aufschlüssen über den Personenkreis um Goethe interessiert sind.
    Von der Form her ist es eher eine Dokumentation, die streckenweise sehr nüchtern ausfällt.


    Deshalb der Vergleich mit einem "Notizbuch", aber noch nicht "Telefonbuch". (letzter Satz wieder "dammesk") :zwinker:


    Dir danke ich und wünsche ich ebenfalls eine schöne Reise in den Harz! Das Sammeln von Stempeln auf Wanderungen an markanten Punkten (Aussichtsplätze, Naturdenkmale; es gibt insgesamt 222 Stempelstellen im Ost- und Westharz) kann zu einem schönen Hobby werden. Der Bezug zum klassikerforum ist durch den "Goethe-Weg" gegeben. An Stellen, die mit Goethes Harzreisen verbunden sind, gibt es Extra-Stempel mit seiner Silhouette. Das Torfhaus ist übrigens nicht dabei, von dem aus Goethe 1777 seine Brockenbesteigung im Winter unternahm.

    Schon seit langem, seit der Lenz-Biographie "Vögel, die verkünden Land" (1985) und dem DDR-Buch "Ich bin nicht Ottilie" (1992) verfolge ich das Schaffen der 1940 in Gotha geborenen Sigrid Damm.


    In ihrem neuen Buch "Goethes Freunde in Gotha und Weimar" (Insel-Verlag, ausgeliefert August 2014) treffe ich viele "alte Bekannte" und seit der Kindheit vertraute Orte in Thüringen wieder.


    Was mich zunehmend stört, ist ihre Manie, in jedem Absatz einen unvollständigen Satz zu bringen. Das Ganze wirkt dann wie eine Ansammlung von kurzen Notizbuch-Eintragungen. Es geht mir aber jetzt weniger um die Kunst des Schreibens, als vielmehr um die Fakten, was sicher nicht nach dem Geschmack eines jeden Lesers sein dürfte. Dies als Warnung. (Damm'sche Manier) :zwinker:


    Im September bin ich für drei Wochen, wie schon seit langem in jedem Jahr, in Südtirol weitgehend ohne Internet, habe eine Tasche mit Büchern bei mir, werde mich aber voraussichtlich viel mit einem Autor beschäftigen: mit Karamzin.