1. Teil
Im Sommer 1989 stieg der Druck im Kessel DDR. Der Kontakt der Bevölkerung zur Führung ihres Landes war völlig verloren gegangen, selbige unsichtbar geworden. Erich Honecker hatte sich irgendwohin schwerkrank zurückgezogen, Krenz war in Zwangsurlaub versetzt worden. Eine Staatskrise hatte eingesetzt, eine ungewohnte Situation, in der auch den erfahrensten Leuten nichts mehr zu der Frage einfiel, wie es mit dem Lande am Vorabend seines 40. Jahrestages der Gründung weitergehen könnte.
Doch tausende Menschen verließen täglich das Land, über Ungarn und andere Orte, über die man entfliehen konnte. Die Mehrheit blieb, zwangsläufig.
Wie gewohnt, erwarteten die Menschen irgendwelche Äußerungen der Partei- und Staatsführung "von oben" – nichts kam.
Möglicherweise stellen sich bei dem einen oder anderen, der diese Situation in der DDR im Sommer 1989 miterlebt hat, Verbindungen zu gegenwärtigen Ereignissen ein.
Als einer der ersten in dieser gespenstisch anmutenden Zeit des Schweigens der sonst so geschwätzigen Führung meldete sich schließlich Hermann Kant in einem Interview zu Wort. Er war ein nervöser Schriftsteller. Er hatte gespürt, dass etwas im Lande überhaupt nicht mehr lief, dass man jetzt eingreifen müsste, dass es bald zu spät sein könnte und die Angelegenheiten des Staates völlig entgleiten konnten, dem er sich wie Millionen dennoch verbunden fühlte.
Viele wollten das Land verlassen, doch Millionen konnten es nicht und wollten es nicht. Es wurde nun in diesem September zu einem Dialog zwischen Staat und Volk aufgerufen.
Es war zu spät, viel zu spät. Hermann Kant wurde in den Strudel des Untergangs der DDR gerissen. Etliche mochten mit ihm an der Vorstellung von einer „besseren“ Alternative im Osten Deutschlands mit Vollbeschäftigung, fehlenden Sorgen um bezahlbare Wohnungen festhalten. Das Regime trat ab von der Bühne, zum Glück völlig unblutig, und mit ihm das Mitglied des Zentralkomitees der SED Hermann Kant. Er fand weiterhin seine Leser und Zuhörer.
Der 1965 veröffentlichte Roman “Die Aula“ berichtete vom Aufstieg von Angehörigen einer Generation, die nicht mehr mit dem traditionellen Bildungsbürgertum der Zeit vor 1945 verbunden war. Deren Vertreter waren in den Westen gegangen oder hatten sich in der Masse der Funktionsträger an den Schulen und in der Ärzteschaft aufgelöst.
Die "Arbeiter-und-Bauern-Fakultäten" (ABF) („durchkoppeln“ lernten wir in der Schule, wie im Fall der „Arbeiter-und-Bauern-Inspektion“ mit hunderttausenden Mitarbeitern als allumfassendem Kontrollorgan, im Westen selbst Spezialisten heutzutage weitgehend unbekannt) mit der wichtigsten Einrichtung in Halle an der Saale sorgten dafür, dass tausende junger Menschen aus Kreisen der Arbeiter und Bauern eine Hochschulbildung erwarben, um recht schnell führende Positionen im Staats-oder Parteiapparat erlangen zu können. Sie wurden häufig von übrig gebliebenen Bildungsbürgern verspottet. Die konnten ja nicht einmal richtig Latein, sie beherrschten etwas Russisch, bekamen aber lebende Engländer oder Franzosen wegen der Mauer nicht zu sehen und erlernten die modernen europäischen und Weltsprachen an der ABF nur höchst mangelhaft.
Es gab Hunderttausende Menschen, die Kants Roman lasen und als etwas Besonderes auffassten, die bereits nicht mehr über lebendige Verbindungen zu Westdeutschland verfügten, keine Westverwandtschaft hatten, keine westdeutschen Sender hörten oder sahen. Jetzt wird der 55. Jahrestag des Mauerbaus 1961 begangen - eine große Zahl von Menschen hatte sich damit abfinden müssen, dass Deutschland auf absehbare lange Zeit geteilt bleiben würde und man sich in dem Staatswesen dauerhaft einrichten müsste, das mit der Sowjetunion verbündet war, deren Armeen in den brandenburgischen und mecklenburgischen Wäldern standen.
Die Besucher der Arbeiter-und-Bauern-Fakultäten wuchsen in einer religionsfreien Zone auf. Bis zu den fünfziger Jahren herrschte in der DDR ein militanter Atheismus, Jugendliche, die die Christenlehre besuchten und sich konfirmieren ließen, wurden diskriminiert und massiv am Fortkommen gehindert. 1965 jedoch, und das wird in Hermann Kants Roman "Die Aula" auch spürbar, war diese militante antikirchliche Linie nicht mehr durchzuhalten. Man versuchte, zu einem Arrangement zu kommen. 1967 sollte dann das Treffen des Landesbischofs Moritz Mitzenheim mit Walter Ulbricht zur Regelung des Verhältnisses zwischen Staat und Kirche stattfinden, die Losung von der "Kirche im Sozialismus" kam auf. Niemand braucht sich heute zu wundern, dass es im Osten Deutschlands Millionen religionsferner Menschen gibt, die nichts besonders gegen die Kirchen haben, sondern einfach nicht mit christlichen Dingen als einer für sie fremden Welt behelligt werden möchten. Auch unter dem Einfluss eines Romans wie "Die Aula" in ihrer Jugendzeit. Das erzeugte "Wir-Gefühl" jener Generation beruhte auch auf Religionsferne.
Sie waren verstört, dass die Romangestalt „Quasi Rieck“ trotz affektiv demonstrierter Verbundenheit mit der DDR dennoch in den Westen ging, in Hermann Kants Heimatstadt Hamburg, um dort ein Kneipenwirt in einem trostlosen Milieu zu werden.