Beiträge von Karamzin

    Deine umfangreichen Betrachtungen bieten eine Menge Gesprächsstoff. Vielleich etwas zur "Emotionalisierung" von Geschichtsschreibung:

    Übrigens ist mir aufgefallen, dass auch der Zugriff Mina Wolfs auf die Geschichte des Dreißigjährigen Krieges diesen Zug der 'Emotionalisierung' hat, was mich als Historiker etwas irritierte. Sie bewegt sich lange durch die Literatur und die Quellen auf der Suche nach dem Aspekt des Krieges, der ihre Nervenbahnen zum Schwingen bringt - also eine emotionale Resonanz erzeugt, die sie dann als Sprungbrett für ihren Aufsatz nehmen kann. Diese Emotionalisierung ist ein Zug unserer Zeit und auch ein Problem einer immer stärker um sich greifenden Empörungskultur, die sich ja in dem Roman auch sehr schön niederschlägt.

    So wie Mina Wolf an ihr Thema für die Jubiläumsschrift der westfälischen Kleinstadt herangeht, können wohl auch ausgebildete Historiker ihren Zugang suchen. Da gibt es diejenigen, die eine Ader für eine Art von Geschichtsdarstellung haben, die auch ein breites Lesepublikum anspricht, die "Erzähler". Andere schreiben eher vorwiegend für ihre Fachkollegen in einem Jargon, den kaum jemand außerhalb dieser Disziplin versteht.

    Unter den Geschichtsforschern gibt es etwa den Typ des "Sammlers", der sich in die Quellen eingräbt, jedoch Mühe hat, seine Ergebnisse allgemeinverständlich vorzustellen, den des "Philosophen", der in höheren Gefilden wolkiger Geschichtstheorien schwebt, für den die Quellen nur austauschbares Anschauungsmaterial sind.


    Gerade im Zusammenhang mit dem Thema der Mina Wolf, auch emotional nachvollziehen zu wollen, wie sich vor dem Dreißigjährigen Krieg etwas zusammenbraute, habe ich ein Beispiel, das mich regelrecht begeisterte. Mein Erfurter Landsmann Ulman Weiss (* 1949) ist sowohl "Erzähler" als auch unermüdlicher "Sammler" in einer Person, der auch einen Preis für seine schriftstellerischen Leistungen erhielt. Der Band ist 640 Seiten stark und nicht ganz billig.

    Es hat mich ergriffen, wie der Autor unmittelbar aus den Archivquellen schöpfte - gedruckte Titel gibt es nur ganz wenige, die Forschungsliteratur ist an den Fingern abzuzählen - und die Lebenswelten der Bauern, der Stadtbürger von Erfurt und Langensalza und jener Handwerker erfassen konnte, die von apokalyptischen Ängsten umgetrieben wurden und mit ihren phantastischen Deutungen der Zeitläufte schließlich in Konflikt mit der weltlichen und der geistlichen Gewalt gerieten. Sogar ein Kind wurde in den Kerker geworfen und kam dort um. Die Herrschenden wurden ebenfalls nervös, von Sorgen und Ängsten ergriffen, einhundert Jahre später war die Erinnerung an den Bauernkrieg in Thüringen von 1525 und Thomas Müntzer noch nicht gänzlich erloschen. Nach der "Thüringer Sintflut" von 1616 (neue "Eiszeit") folgten Krieg und Söldnerdurchzüge, die mit friedlichen Phasen abwechselten, Seuchen, Mißernten, Fürbitten in den Kirchen, Unruhen in der bikonfessionellen Stadt Erfurt, wo sich zuvor friedlich nebeneinander lebende Katholiken und Protestanten nun in die Haare gerieten ... das liest sich alles ungemein fesselnd und emotional anrührend, manches klingt, als wären wir in DDR oder heutiger Bundesrepublik Augenzeugen vom "Umgang mit Dissidenten" (habe ich Tellkamp gesagt oder wahrscheinlich nur gedacht, geträumt),

    so schreiben kann nicht jeder ...


    Ulman Weiß: Die Lebenswelten des Esajas Stiefel oder vom Umgang mit Dissidenten. Stuttgart 2007. 640 Seiten.

    http://www.steiner-verlag.de/titel/56211.html

    Hallo Zefira,


    ich finde es sehr gut, dass Du Dich an der Diskussion beteiligst und hier die Erfahrungen Deiner Familie einbringst. Auch mein Sohn ist an einer Berliner Schule als Lehrer tätig und berichtet täglich von seinen Erfahrungen. Ich hätte es selbst im Februar noch nicht für möglich gehalten, dass mich der Roman von Monika Maron so beschäftigen würde, hatte ich doch zuvor ihr als Autorin gegenüber eine eher reservierte Haltung eingenommen.

    So sehr ich mich bei einem - zugegeben sehr selektiven Leseverhalten in Bezug auf Gegenwartsliteratur - vor allem auf Christa Wolf fixiert hatte, muss ich jetzt doch anerkennen, dass mich auch, wie @JH Newman, vor allem die sprachliche Gestaltung des Romans sehr einnimmt. In den zurückliegenden Monaten eher zurückhaltend, strömt es hier heraus wie ein Wasserfall.

    Viele Grüße

    Mina Wolf hört den Lehrerinnen zu, die sich am Nachbartisch darüber empören, dass Kinder schon in jungen Jahren mit sexuellen Orientierungen konfrontiert werden, die vielleicht nur einen geringen Prozentsatz betreffen oder gar im Promillebereich liegen, aber nicht die Hauptprobleme der Mehrheit der Heranwachsenden mit der Geschlechterfrage in den Schulen diskutiert würden. Auch hier greift die Autorin ein gesellschaftliches Problem auf, das vor allem im Südwesten des Landes heiß diskutiert wird.

    Aus meiner bisherigen Erfahrung heraus kommt mir das alles als wahnsinnig fremd vor (und Monika Maron auch). Ich frage mich, woher solche Bestrebungen des frühen Hineintragens von sexuellen Themen in die Schulen kommen. Ist es dann dieses Einsetzen für Minderheiten, denen tolerant begegnet werden soll, wie es in der von Zefira zitierten Lesermeinung anklingt?

    Wahrscheinlich bin ich dann aber doch selber sehr konservativ (DDR nicht "links", sondern unter Umständen ausgesprochen "konservativ"), wenn auch völlig frei von religiösen Einflüssen. Und wenn ich meine, dass es bei Kindern dieses Alters in erster Linie um die Herausbildung elementarer Fähigkeiten im Schreiben, Lesen und Rechnen gehen sollte, die ganz offenkundig in den letzten Jahrzehnten zurückgegangen sind, was den Eintritt dieser Kinder in das Berufsleben kolossal erschwert. Wenn in den Elternhäusern nicht die elementaren alltäglichen Umgangsformen herrschen, sollten sie auch in den Schulen eingeübt werden, etliche Schüler würden wahrscheinlich das erste Mal etwas davon mitbekommen.

    Das hat übrigens mit 1968ern nichts zu tun, diese Jahreszahl stand für uns in erster Linie im Zusammenhang mit einem "demokratischen Sozialismus" in der Tschechoslowakei. Meine Befindlichkeit ist allerdings nur eine von vielen möglichen, das gebe ich zu. Monika Maron sollte man nicht vorwerfen können, dass sie auf den 220 Seiten nur ein Problem in den Vordergrund gerückt hätte.

    Die Sängerin ist eine fiktive Figur der Erzählerin, wenn sich ihr Auftritt im wirklichen Leben so ereignen würde, wie im Roman dargestellt wird, würde man schon eher zu einer Lösung gelangt sein. Mit ihr zu reden, ist offensichtlich sinnlos. Sie greift sogar Kinder verbal an, was in den Augen der Eltern gar nicht geht, wobei manche dieser Kinder - nicht die Unschuld an sich - ja auch ihrerseits der Sängerin zuleibe rücken, wie wir auch selber heute mancherorts erleben müssen, dass die Hemmschwelle für manche Kinder und Jugendliche herabgesetzt zu sein scheint, Erwachsene verbal oder tätlich anzugreifen, was in etlichen Schulen der Großstädte seit längerem geschieht. Die Kinder richten sich nur spiegelbildlich nach dem Vorbild der Eltern. Und die Betreuer der Sängerin würden sich auf die Position zurückziehen, dass sie keine gesetzliche Handhabe haben, um etwas an dem Zustand zu ändern.


    "Der vormundschaftliche Staat" hieß ein Buch des Rechtsanwalts Rolf Henrich, das zur Auslösung der Staatskrise in der DDR 1989 beitrug. Ob man das jetzt - JHNewman - als "Ost-West-Falle" bei der Interpretation ansieht oder nicht: vielerorts gelangt man inzwischen durchaus zu der Ansicht, dass inzwischen die "Ost-Problematik" den Westen einzuholen begonnen hat. Durch zentrale Entscheidungen wird vielen Ansichten zufolge auch heute zentral vorgegeben, was die Menschen zu denken und zu leisten hätten.

    Ja natürlich kommen jetzt auch hier ideologische Interpretationen auf: dass die Frage der zeitweise unkontrollierten Masseneinwanderung im Raum steht (der berühmte "weiße Elefant" im Raum), wird regierungsseitig mit eben solchen Formulierungen inzwischen zugegeben, dass die Bevölkerung politisch gespalten ist, wird mittlerweile von der Bundeskanzlerin auch eingeräumt. Die einen sagen, dass es ein Akt der Mitmenschlichkeit gewesen sei, wenn zugelassen wurde, dass nach 2015 Hunderttausende Fremder ins Land kamen, von denen man nur bei einem Bruchteil ihren Status bestimmen kann. Die anderen sagen, dass damit die Kontrolle über die Landesgrenzen aufgegeben worden und dem Land Probleme auferlegt worden seien, die als schwer beherrschbar erscheinen, wozu man in den übrigen europäischen Ländern nur den Kopf schüttelt. Die Juristen bieten verschiedene Beurteilungen dieser Vorfälle an.

    Kann ich noch sagen, dass ich hier keine politische Diskussion lostreten will, sondern dass es erst einmal nur um Literatur geht? Die Autorin Monika Maron macht jedenfalls keinen Hehl daraus, dass es vor allem der politisierte Islam ist, der ihr Sorgen bereitet und der hierzulande Gewalt freisetzen kann, die es ansonsten im Gemeinwesen nicht gegeben hätte, dessen christlich-jüdische Wurzeln von Leuten wie Horst Seehofer festgehalten werden, wobei, wie ich oben festhalten wollte, der Anteil der Nichtreligiösen beträchtlich ist, die sich in dieser Bestimmung der gesellschaftlichen Grundlagen auch nicht wiederfinden können.


    Historischer Exkurs

    Die DDR glaubte alles unter Kontrolle zu haben. Im Herbst 1988 nahm ich an einer Einwohnerversammlung in einem Neubauviertel 100 Meter von der Mauer, der Grenze zu Westberlin in unmittelbarer Nähe des Grenzübergangs Heinrich-Heine-Straße teil. Solche Versammlungen finden auch in dem Roman statt, wenngleich in einem kleineren Rahmen - Monika Maron kennt sie natürlich noch - und 1988 mit einem vergleichsweise vielleicht schwerer wiegendem Anlass als den nervenden Auftritten der fiktiven Sängerin in der Erzählung.

    Ein Staatsanwalt nahm vor Hunderten beunruhigter Bürger Stellung zu einem einige Tage zurückliegenden Vorfall, wonach etwa fünfzig Jugendliche aus dem Neubauviertel sich zu einem Marschzug formierten, die von ihrer sozialen Herkunft her alle Bevölkerungsschichten repräsentierten, wie sich bei der anschließenden gerichtlichen Untersuchung herausstellte. Zu ihnen gehörten Kinder von SED-Funktionären, Offizieren und Polizisten. Sie streckten die Arme zum Hitlergruß empor und sangen: "Es zittern die morschen Knochen" (wo sie nur diesen SS-Text herhatten!). Es dauerte geschlagene zehn Minuten, bis Polizei und Staatssicherheit mit Lastkraftwagen herangerückt waren, um die Jugendlichen alle festzunehmen und "zuzuführen", wie es damals hieß. Die Deutung stellte sich ein: um seine Verachtung sowohl gegenüber der Elterngeneration als auch gegenüber dem Staat zu äußern, musste man zu dem greifen, was die in der DDR herrschenden Antifaschisten am meisten verletzen musste.


    Zefira

    Die von Dir wiedergegebene Beurteilung des Romans durch eine Leserzuschrift ist für mich irgendwie schwer fassbar. "Problemlösungsfähigkeit einer Gesellschaft" - das geht von der Vorstellung aus, dass es noch eine geschlossene Gesellschaft mit gemeinsamen Wertevorstellungen geben würde.


    Der Roman von Monika Maron ist sicher raben- / krähenschwarz. Wo will man aber Optimismus hernehmen? Ist es die Aufgabe von Schriftstellern, Lösungsvorschläge anzubieten, wenn sich "die" Gesellschaft vor Probleme gestellt sieht, die sie nicht bewusst herbeigeführt hat? Müssen "wir" uns verantwortlich fühlen, wenn sich etwa ein französischer Präsident mutmaßlich vom libyschen Staatschef im Wahlkampf bestechen ließ, daraufhin einen Krieg gegen das Land erstmals mit dem Ziel lostrat, dort einen Systemwechsel herbeizuführen, was auch gelang, der Mann an der Spitze war tot, das Land zerfiel in mehrere Teile - da war unser Westerwelle doch noch ein weitblickender Politiker! - und dann kamen die sogenannten nordafrikanischen Intensivtäter in unser Land? Ich weiß, alles sehr zugespitzt, das darf man auch nicht machen. Aber so einfach ist das "weiß Gott" nicht mit "unserer" Mitverantwortung, und "dem Westen" fühle ich mich auch nicht von vornherein als zugehörig, weil ich in der Sowjetunion einen Teil meiner Ausbildung absolviert habe.

    Und die DDR und die Sowjetunion haben in den 1970/80er Jahren die Armee und die Staatssicherheit und ein säkulares Bildungssystem in Syrien aufgebaut (ich war da nicht dabei), das dann von Islamisten größtenteils wieder beseitigt wurde - wer hat den ersten Dolch in Syrien hineingesteckt? Muss sich aber dafür ein Westdeutscher verantwortlich fühlen?


    Man sollte bitte einer Schriftstellerin nicht den Vorwurf machen, wenn ihr alles als sehr verworren und überaus düster vorkommt und sie keine "Lösungsvorschläge" für das anzubieten hat, was die halbtierisch-kriegerische Natur des Menschen laut Urteil der Krähe zugelassen hat.

    Zitat

    Das ergibt ja Sinn bei Menschen, die während der DDR-Zeit gelernt haben, zwischen den Zeilen zu lesen und die dann einen kompletten Systemwechsel verarbeiten mussten. Sie reagieren sensibler auf neue gesellschaftliche Veränderungen, während die Westdeutschen mit ihren gewissermaßen ungebrochenen Biographien diese Veränderungen weniger stark empfinden oder als weniger bedrohlich erleben. Es fehlt ihnen schlicht an Vorstellungskraft, dass das System, in dem sie zu leben gewohnt sind, sich radikal ändern könnte.

    Dann doch noch etwas, bevor ich wieder in Klausur gehe (und es sind ja nach unseren auch noch weitere Beiträge zu erwarten).


    JHNewman


    Besten Dank für all Deine interessanten Betrachtungen, auf die ich später gern eingehen will. Selbst in diesem Forum rechnet der gelernte DDR-Bürger, dass auch hier Menschen aus dem realen Leben vorbeischauen können.8)

    Und da glaube ich auch heute einen Unterschied wahrnehmen zu können: Die einen sagen: Hoppla, jetzt komme ich, ich stehe jetzt hier und sage offen meine Meinung! Das Ehepaar Herforth sieht sich auch heute noch, nach mehr als dreißig Jahren, vorsichtig um, bevor es etwas zum Besten gibt.

    Die "verdeckte Schreibweise" ist bei manchen in Fleisch und Blut übergegangen.

    Der Umgang mit diesem Roman von Monika Maron erleichtert, hier etwas aufzuschreiben, weil sie auch vieldeutig schreibt und immer auf die Verwendung der Begriffe achtet.

    Ängsten kann man sozusagen therapeutisch (selbsttherapeutisch) begegnen, wenn man sich aktiv mit der Wirklichkeit auseinander setzt, lese ich bei Dir heraus. (auch kollektiven Ängsten? Massenpsychosen?). Es gibt allerdings auch Leute, die versuchen, erst einmal alles an sich herankommen zu lassen. Das Chaos im Kopf muss nicht zwangsläufig und unumkehrbar zur Selbstzerstörung führen. Es kann auch passieren, dass sich die Wirklichkeit wieder etwas aufklart.

    Der Dreißigjährige Krieg und die "Magdeburgische Hochzeit" 1631


    So war es auch um 1618, als ein Komet von künftigem Unheil kündete. Die Religionsparteien, die europäischen Mächte, bereiteten sich auf das Gemetzel vor. Oder schlitterte man nicht doch in den großen Krieg hinein, wie das Clarke für 1914 schildert? Während die Schriftstellerin Monika Maron die Geschichte genau kennt, muss sich ihre Mina Wolf in die Grundlagen einarbeiten, um das Honorar der westfälischen Kleinstadt für eine Skizze über den Dreißigjährigen Krieg zu erhalten.

    Welche Kleinstadt zahlt heute noch solche Honorare? Es mag sie geben. Mina Wolf ist jedenfalls auf Gelegenheitsarbeiten dieser Art angewiesen und kann sich die Nachtarbeit auch erlauben.

    An "Cicely", wie sie die britische Historikerin Wedgwood nennt, die 1932 über den Dreißigjährigen Krieg geschrieben hatte, ist erstaunlich, dass diese Autorin erst 28 Jahre alt war, also in einem Alter, in der von Frauen verfasste historische Darstellungen kaum veröffentlicht wurden, heute vermutlich gar nicht (die Dame von "Darm mit Charme" ist zwar auch erst 26 Jahre alt, aber sie berücksichtigt nicht ausreichend chronische Durchfälle, die sich auch einstellen können, wenn man sich alles zu sehr zu Herzen nimmt). "Cicely" lebte auch in einer "Vorkriegs"-Zeit.


    Der Berliner Historiker Jan Peters (1932-2011) berichtete in den 1980er Jahren zuerst über das den gebürtigen DDR-Bürgern damals entfernte Schweden, wo er im Exil aufwuchs, und weckte Sehnsüchte: "Die alten Schweden" (1981). Dann wandte er sich den relativ seltenen Selbstzeugnissen der Unterschichten in der Frühen Neuzeit zu, entdeckte und edierte das Kriegstagebuch des Peter Hagendorf.



    Im Jubiläumsjahr 2018 biegen sich die Tische unter der Last an Jubiläums-Literatur: Herfried Münkler ist wieder mit einem kiloschweren Werk da, Georg Schmidt, Harold Wilson und viele, viele andere, wie seit 2013, als Jubiläen drohten und den Schreibwettbewerb beförderten.


    Meine nächste Bezugsperson im Leben ist Magdeburgerin. Ich war seit 40 Jahren sehr oft in dieser Stadt. Magdeburg, das 1631 von den katholischen Kaiserlichen verwüstet wurde, stand symbolisch für Greuel des Krieges (Friedrich Schiller!), wie im Ersten Weltkrieg Leuven, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Dresden oder Hiroshima. In einem Dorf auf engstem Raum 1968 zusammengedrängt in Vietnam: My Lai (und das prägte das Amerikabild stark, während die der gleichen Generation angehörende Angela Merkel, wertfrei gesagt, starke Sympathien für Amerika entwickelte.)

    Diese evangelische Hochburg Magdeburg, die nach der Reformation "Des Herrgotts Kanzlei" genannt wurde (wo Mitte des 16. Jh. die protestantische Geschichtsschreibung der "Magdeburger Centurien" um Flacius Illyricus entstand), verlor in wenigen Tagen mehr als 20.000 Einwohner. Die "Magdeburgische Hochzeit" war das Thema des 1938 erschienenen, die Zeitläufte verarbeitenden Romans der christlichen Autorin Gertrud Le Fort. Die Magdeburger Jungfrau wurde im Krieg geschändet.

    Monika Maron lässt ihre Gestalt im Zusammenhang mit Magdeburg vor allem an das Jahr 1631 denken. Allerdings hatte meine Schwiegermutter auch den 16. Januar 1945 täglich vor Augen gehabt, an dem ihr Elternhaus in Schutt und Asche versank und sie mit knapper Not ihr Leben rettete, wie meine Eltern am 13. Februar 1945 in Dresden bzw. 1944 in Chemnitz.


    Aber jetzt höre ich wirklich auf, vielleicht für ein paar Tage, in denen ich gar nicht in dieses Forum schaue. An Stoff für eine Diskussion dürfte sich vielleicht einiges angesammelt haben. Dann komme ich eventuell wieder.

    Religion zum Ersten

    Vor einigen Tagen ließ Horst Seehofer seiner Behauptung "Der Islam gehört nicht zu Deutschland", die ebenso pauschal wie die entgegengesetzte des einstigen Maschmeyer-Bundespräsidenten war, sofort den Verweis auf das Christentum folgen und die den Jahresablauf prägenden Feiertage. Na ja, muss sofort hinzugefügt werden: wir stehen in der jüdisch-christlichen Tradition.

    Millionen von Menschen gehören auch zu Deutschland, die sind religionsfern, sie interessieren sich nicht in ihrem Alltag für Religion und Kirche, wollen nicht damit behelligt werden, da es auch schon vor 1990 ausgeprägte religionsfreie Zonen gab, sie sind nicht konfessionsgebunden, sind Agnostiker oder Atheisten, wenn sie sich dennoch Gedanken über Religion machen. Es gibt keine verläßlichen Zahlen dazu, aber mitunter wird davon ausgegangen, dass ein Drittel der Bevölkerung religionsfrei ist, vor allem im Osten. Durch solche historischen Gestalten wie Frau Merkel (die Frau, bei der sich nach Monika Maron die untere Gesichtshälfte zu einem Viereck verzieht) und Joachim Gauck wird dieser Eindruck nicht zu deutlich. Eines könnte hier diskutiert werden: Monika Maron gehört eindeutig zu den Konfessionslosen. Ihr erscheint Religion als Beschleunigung für die zunehmende Verrohung, wenn sie auch andere der komplexen Ursachen für Krieg oft nur verdeckt. So ist es heute - sie wird kaum der Behauptung zustimmen, dass ein moderater, friedfertiger Islam heute irgendeinen nennenswerten Einfluss ausüben könnte.

    Über die Religion bei Monika Maron könnte man hier diskutieren.

    Einige Grundaussagen, die verstören und polarisieren können:

    Eine einzige Figur, die falsch tönende, psychisch gestörte Sängerin, bringt Unruhe in die Straße, die sicher schon zuvor latent vorhanden war, jetzt aber zum Ausbruch kommt.

    Letztlich leiden etliche der hart arbeitenden Menschen unter der Ruhestörung. Zwischen einem Taxifahrer, der auf Ruhezeiten angewiesen ist, und einem Audi-Fahrer aus der Medienbranche, der jene Anwohner repräsentiert, die sich tagsüber gar nicht in der Straße aufhalten, sondern auf Arbeit sind, entwickelt sich der Streit.

    Wie die "Sängerin" zeige, die angeblich eine ganze Straße "terrorisiere" (kann man das Wort verwenden in den Zeiten des "richtigen" Terrors? S. 97)


    „In diesem Land muss man inzwischen verrückt sein, zu doof oder zu faul zum Arbeiten, nicht Deutsch können, drogenabhängig oder kriminell sein, damit sich jemand mit dir beschäftigt.“ (S. 95)


    Wer unauffällig seiner Arbeit nachgeht, wird hingegen nicht beachtet.

    „Wenn einem gar nichts mehr einfiel, musste man Respekt fordern. Respekt war das abgedroschenste Wort der letzten Jahre.“ (S. 101).

    Mina Wolf entwickelt eine Vermeidungshaltung, arbeitet zunächst nur noch nachts. Aber sie wird zunehmend in das Geschehen hineingezogen. (Einwohnerversammlungen kennt man noch aus besten DDR-Zeiten).

    Monika Maron: Munin oder Chaos im Kopf. Roman. S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2018. 222 S.


    Mina Wolf, die Erzählerin, die beim Fall der Mauer im November ihr Abitur ablegte, dürfte also um 1970/71 geboren worden sein. Von der DDR hat sie bewusst allenfalls Jugendeindrücke mitgenommen, die Welt stand ihr offen, und sie nutzte die Reisefreiheit. Die Romanautorin hingegen weiß unendlich mehr als die Erzählerin, sie war 1989 bereits achtundvierzig Jahre alt.


    Dieser Altersunterschied von drei Jahrzehnten sollte im Auge behalten werden. Monika Maron musste wissen, dass sehr bald Äußerungen ihrer „Ich-Erzählerin“ für Äußerungen der eigenen Meinung der Autorin gehalten werden würden. Das ist nicht weiter verwunderlich, bedeutet aber auch eine erste Verteidigungslinie für Schriftsteller, die immer darauf verweisen können, dass die Ansichten ihrer „Ich-Erzähler“ nicht in Allem identisch mit ihren eigenen zu sein brauchen. Schließlich führt Monika Maron ja auch ein Ensemble weiterer Figuren ein, die ebenfalls Meinungen vertreten, die nicht in allem ihre eigenen zu sein brauchen.

    Der Jugendfreund Friedrich, in den Mina Wolf einst verliebt war, hat die Reisefreiheit, die ihm der Westen bot und bietet, in vollen Zügen genossen. Er schipperte mit einem Boot um die halbe Welt. Und doch hat sich in jüngster Zeit etwas verändert: Friedrich will nicht mehr das Mittelmeer befahren, sondern zieht Nordeuropa und die baltische Staatenwelt vor. Warum wohl?

    Wer die Zeitung liest und Nachrichten verfolgt, weiß es.


    Ihrer Freundin Rosa, die sich in Rumänien um herrenlose Hunde kümmert und sich immer mit Hunden umgibt, kann sie ihr Herz ausschütten, sie versteht die Ängste von Mina Wolf. Da ist auch kein Hohn gegenüber dieser literarischen Figur der Art zu verspüren „Seit ich die Menschen kannte, lernte ich die Tiere lieben“. Rosa hat ihren Mann durch einen Unfall verloren. Mina Wolf hat ebenfalls eine Ehe hinter sich, in der sich beide nur noch wehtaten.

    Und sie ist ja auch zunehmend einem Tier verfallen: einer deutschen Nebelkrähe (westlich der Elbe kommen sie nicht vor, nur Rabenkrähen und natürlich Saatkrähen), die sie nach der altgermanischen Mythologie Munin nennt und die, im Unterschied zu einem Hund, sprechen und Weisheiten von sich geben kann. Oder nur zu sprechen scheint, und Mina Wolf hat alles nur geträumt, Traum und Wirklichkeit vermengen einander.



    Die „Vorkriegszeit“

    Wenn Monika Marons Hauptfigur wie viele unserer Zeitgenossen das Gefühl beschleicht, in einer „Vorkriegszeit“ zu leben, so deckt sich dieser Befund mit dem Empfinden vieler einfacher Menschen, also keiner Diplomaten, Politiker oder Militärs, die kurz vor einer großen Völkertragödie eben von einer solchen unbestimmten Vorahnung erfasst werden.

    Gleich am Anfang des „Schwejk“ ist der Held davon überzeugt, dass ein Krieg unmittelbar bevorstehe. Nun wird es heute, im Jahr 2018, viele Leser geben, die am liebsten Entwarnung geben würden: Toben die offenen Kriege nicht doch noch etwas weit weg, in der Ukraine, in Syrien, im Irak, in Afghanistan und Jemen? Natürlich ist man mit einem Flugzeug in wenigen Stunden in der Nähe dieser Kriegsschauplätze, mit Smartphones können in Bruchteilen von Sekunden echte Kriegsnachrichten übermittelt werden. Wer soll denn aber hierzulande Krieg führen? Liegt nicht das Waffenmonopol beim Staat, gibt es nicht bei uns Polizei und Armee? Ist die Masse der Bevölkerung denn nicht unbewaffnet (na ja, in Amerika sieht man, was Schusswaffen in jeder Hand anrichten können). Monika Maron zitiert Albert Einstein, wonach der vierte Weltkrieg mit Knüppeln und Steinen ausgetragen werden würde, was auf die ewig kriegerische Natur des Menschen zurück verweist, der es letztlich nicht gelernt habe, in Frieden zu leben. Das ist eine Hauptaussage dieses Romans.


    Er spielt in Berlin, in einer Straße, die zugleich Neubauten, wie wir sie in Berlin sattsam kennen (ich wohne seit 1974 mit Unterbrechungen in Berlin), als auch einen eher vorstädtischen Charakter aufweist.

    Am Ende scheint wieder einigermaßen Ruhe eingekehrt zu sein. Die angenommene Verursacherin der Beunruhigung in der Straße ist tot.

    Das abrupte Ende des Romans erinnert mich fatal an Günter de Bruyns „Märkische Forschungen“. Während die Forschungsergebnisse des Lehrers im Osten verstören, weil sie der verordneten Geschichtssicht widersprechen und demzufolge verboten gehören, werden sie im Westen abgelehnt – welche Ironie! -, da zu sehr dem Geschichtsbild in der DDR verhaftet.

    Die Betrachtungen der Mina Wolf zum Dreißigjährigen Krieg werden in der westfälischen Kleinstadt abgelehnt, weil sie als zu pessimistisch erscheinen, da doch dort angesichts des Stadtjubiläums freudiges Feiern angesagt ist, das nicht durch verstörende Geschichtsparallelen beeinträchtigt werden sollte.

    Die Rezension von Miriam Seidler auf Literaturkritik.de vom 16.03. 2018 erscheint mir zwar auf weite Strecken durchaus sympathisch, weil frei von vorschnellen Verurteilungen gemutmaßter Intentionen der Autorin Monika Maron.

    http://literaturkritik.de/maro…achtstueck-vor,24336.html

    Doch äußert sich die Rezensentin auch nicht zur Mutmaßung einer „Vorkriegszeit“. Ist alles „falscher Alarm“? Wird die große Koalition der Politiker da oben alles wieder, wie zuvor, in gewünschte ruhige Bahnen lenken können? War das wieder, mal wieder im „Osten“, ein Sturm im Wasserglas?


    Fortsetzung folgt.

    Eine etwas lang geratene Vorrede, dann geht es bald los


    Diesen langen persönlichen Vorspann kann überfliegen, wer will, und gleich zu dem nächsten Beitrag herunterrollen, er wird dann zu dem vordringen, was ich nach der Lektüre des neuen Romans von Monika Maron sagen will.

    In den zurückliegenden sechs Jahren hatte ich mich in diesem Forum mit Vorliebe Autoren des 18. und 19. Jahrhunderts zugewandt, in den Leserunden Wieland, Goethe, Immermann und Fontane. Hermann Kant und Christa Wolf waren kürzlich verstorbene Schriftsteller, die mit einer abgeschlossenen Periode, der DDR verbunden waren, in der ich mehrere Jahrzehnte bewusst erlebte. Wir verfolgten noch bis zum Höhepunkt der Perestrojka 1989 rege sowjetische Literatur, in der jetzt auf bisher unerhörte Weise Dinge gesagt werden durften, die auch uns angingen, dann kehrte nach derartiger Lektüre wieder Ruhe ein.


    Nach der Herstellung der deutschen Einheit ließ jedoch mein Interesse an zeitgenössischer Belletristik spürbar nach. Viel Lektüre war nachzuholen, die Werke maßgeblicher Autoren Westeuropas wurden jetzt erstmals zugänglich, die vor 1989 nicht in den Handel gelangt waren und in den Bibliotheken nur mit besonderer Genehmigung gelesen werden konnten. Es war nicht nur mein Eindruck, sondern auch der vieler Freunde, dass etliche der jetzt tonangebenden und in den westlichen Journalen bevorzugt besprochenen jüngeren Autorinnen und Schriftsteller ihre individuellen Befindlichkeiten sehr wichtig nahmen, dass sie in einer Welt lebten, die uns sehr fremd war. So wurden etwa Beziehungsprobleme behandelt, die für meine Freunde und mich nicht als so interessant empfunden wurden. Wir kamen aus einer Gesellschaft, in der die Gleichberechtigung der Frau in vielen Bereichen weiter vorangeschritten war als im Westen, wenn auch das Leben vieler Frauen sehr hart war. Aber es wurde auch nicht erleichtert, wenn sie zu Hunderttausenden in die Arbeitslosigkeit geschickt wurden, die unbekannt war. Fremde Länder zu erleben, konnte nach 1990 nur, wer, wie die Romanfigur Friedrich, das nötige Geld dazu hatte. Manche haben die östlichen Bundesländer überhaupt nicht mehr verlassen, manche wurden zu Pendlern zwischen völlig verschiedenen Welten.


    Unruhe und Misstrauen im Land

    Die meisten hier im Klassikerforum werden mir sicher beipflichten, dass seit 2015 eine bisher nicht gekannte Unruhe weite Landstriche Deutschlands erfasst hat. Im Westen wird gefragt, was da jetzt seit einiger Zeit im Osten los ist, den man in den Jahren zuvor eventuell kaum noch wahrgenommen hat. Sicher, ich wundere mich manchmal, dass in manchen Gebieten von dieser Unruhe, diesem Missmut, noch kaum etwas wahrzunehmen ist. In einem Thüringer Ort mit 4000 Einwohnern, wo die sechzehn Migranten weitergezogen sein sollen, hörte ich eben auch dort die Rede, dass man nur noch eine gewisse Partei wähle, dass man „ja nichts mehr sagen könne“ . Was daraufhin allerdings sofort getan wird, nachdem man sich vergewissert hat, dass man „unter sich sei“.


    Diese Situation erinnert etliche ganz verblüffend an die Grundstimmung des Jahres 1989. „Von oben“ war nichts mehr zu vernehmen, der Druck im Kessel nahm aber ständig zu. Tausende junger und gut ausgebildeter Menschen verließen in jeder Woche das Land. Das Gespenst einer „chinesischen Lösung“ lag über dem Land. Die Kommunikation zwischen „denen da oben“ und der Masse der Bevölkerung war abgebrochen. Dass diese Staatskrise am 9. November 1989 eine nicht vorhersehbare Wende nahm, überraschte dann allerdings jeden. Wie wird es jetzt weitergehen, im Jahr 2018? Oder ist das alles nur übertriebene Schwarzseherei, vor allem betrieben in den großstädtischen Ballungszentren?


    Die Ich-Erzählerin im Roman heißt mit dem Familiennamen Wolf, wie die Schriftstellerin Christa Wolf, die 1929, zwölf Jahre vor Monika Maron (* 1941), geboren wurde. Das ist ganz gewiss Zufall (oder?). Denn wenn sich gleichermaßen Christa Wolf und Monika Maron als Warnerinnen, als „Kassandra“ verstanden, so verhielten sie sich doch gegenüber der DDR völlig unterschiedlich. Sicher, Monika Maron warnte 1981 in „Flugasche“ früh vor der ökologischen Katastrophe, als dieses Thema in der DDR nicht öffentlich angesprochen werden durfte. Sie war die Tochter des Innenministers der DDR von 1955 bis 1963, Karl Maron (1903-1975), der 1945 mit der „Gruppe Ulbricht“ aus Moskau zurückgekehrt war und die Grundlagen sowohl für eine Zivilverwaltung in Berlin als auch den Aufbau einer streng hierarchisch organisierten Kaderorganisation der Kommunistischen Partei legen half. Wenn er später, nach 1964, das „Institut für Meinungsforschung“ in der DDR leitete, dürfte er Einblicke in die Stimmungslage in der DDR erhalten haben, über die natürlich nichts öffentlich berichtet werden durfte.

    Doch Monika Maron wandte sich schroff ab von der DDR und siedelte 1988 in die Bundesrepublik über. Die in dem Land verbrachte Jugend- und Erwachsenenzeit wird in ihrem neuen Roman immer wieder spürbar. Christa Wolf, mit der sie sich sicher nicht viel zu sagen hatte, blieb hingegen bis zum Schluss ihrem Land verbunden. Was hätte sie gesagt, wenn sie die Zeit nach 2015 noch erlebt hätte? Wir wissen es nicht. Wahrscheinlich hätte sie, so meine Vermutung, nichts Zusammenhängendes mehr aufschreiben können, so anders ist diese scharf polarisierende Welt als die, die sie gekannt hatte. Im 20. Jahrhundert gab es auch eine polarisierte Welt. Doch funktionierte alles anders.

    Fortsetzung folgt.

    Ich habe das Buch heute morgen beendet. Ich bin sehr beeindruckt. Es ist ein sehr kluges Buch, großartig komponiert, aber auch ein Buch, über das ich mich an einigen Stellen geärgert habe. Ich bin sicher, die Autorin wollte auch genau das erreichen. Die dialektische Anlage des Buches lädt ja geradezu dazu ein. In jedem Fall habe ich jetzt Gesprächsbedarf. ^^

    Ich werde in aller Kürze einen eigenen Thread dazu aufmachen. Es ist seit Jahren das erste Buch der Gegenwartsliteratur, das mich gefesselt hat, und nicht nur mich: das Buch wird im gesamten Bekanntenkreis (Ost und West) gelesen und diskutiert.

    Ich kenne die Gegend um Sorge (es gibt auch noch den Ort Zorge), Elend und Benneckenstein im Oberharz aus eigener Anschauung ziemlich gut, habe allerdings jetzt nicht das Bedürfnis, das Buch "Die Grüne Grenze" zu lesen. Mit der DDR-Vergangenheit beschäftige ich mich zur Zeit auf eine andere Weise, jetzt einmal ohne Belletristik.


    Gelesen habe ich Monika Maron "Munin oder Chaos im Kopf", das nicht auf der Liste für den Leipziger Buchpreis steht, jedoch in den zurückliegenden Wochen schon eine beträchtliche Resonanz in verschiedenen Medien erfahren hat. Sie wurde durch die Reaktion auf Uwe Tellkamp verstärkt (zu ihm werde ich mich aber nicht äußern, das im "Turm" geschilderte Dresden auf dem "Weißen Hirsch" der Zeit vor 1989 ist nicht das, das ich seit den 1960er Jahren kenne, und etwas anderes von ihm habe ich auch nicht mehr gelesen).


    Ich werde dazu einen eigenen Thread eröffnen, hätte nicht gedacht, dass ich mich noch einmal dermaßen in ein Buch dieser Autorin einlesen würde.

    Zum ersten Mal seit Jahrzehnten haben aus der DDR kommende Schriftsteller wieder Emotionen erweckende Debatten eröffnet. Wir hatten zwar aus der Schulzeit noch das Wort von Karl Marx in dem Schreiben an Ferdinand Lassalle von einer bestimmten Tendenz-Literatur als "bloßer Sprachröhre des Zeitgeistes" wegen dessen "Franz von Sickingen" (1857) in Erinnerung. Gut, Marx war der an Belletristik interessierte Sozialist und Ökonom, nicht jedes Wort muss zu der jetzigen Zeit passen.


    Es ist sicher Zufall, dass Monika Marons "Ich-Erzählerin" mit Familiennamen Wolf heißt: wie die 1929 geborene Schriftstellerin Christa Wolf, die sensibel als "Kassandra" auf sie Bedrohendes reagierte und ihm durch Schreiben therapeutisch begegnete (was die im Westen vor allem auf das Ästhetische schauenden Marcel Reich-Ranicki und Ulrich Greiner eher abstieß, die in gesicherten Gefilden ohne Staatszensur arbeiten konnten).

    Meine These, auf die ich in diesem Thread noch zurückkommen möchte: Würde Christa Wolf heute noch leben - das seit zweieinhalb Jahren Geschehende könnte sie wahrscheinlich nicht mehr als Schriftstellerin verarbeiten. Jetzt ist eine völlig andere Zeit angebrochen, der mit den Denkgewohnheiten des ebenfalls, aber auf eine andere Weise polarisierenden 20. Jahrhunderts nicht mehr beizukommen sein dürfte.


    Jedoch hatten in der Sowjetunion während der Perestrojka 1987-1989 und in der DDR vor 1989 die Schriftsteller das zu artikulieren versucht, wozu es kein ausreichendes Forum in der Öffentlichkeit gab, um das Polarisierende anzusprechen.

    Don Quijote isst nicht nur, sondern wird das Gegessene auch wieder los, und Cervantes schildert dies auf eine derart unnachahmliche Weise, dass ich schon als Zehnjähriger bei meinem ersten Lesen des Romans davon fasziniert war.:D

    Sich aus dem Sattel heraus im Reiten herunter beugen, die Hosen zu fassen kriegen und sie nach unten zu ziehen, das gelingt dem Ritter. Wer zeigt mir in der Weltliteratur noch so eine derartige Szene mit Pferd und Reiter?


    (habe mich hier mal kurz dazwischen geschoben, kann aber leider nicht kontinuierlich an der Leserunde teilnehmen)

    Angesichts der ungeheuren Menge an Vorläuferliteratur will ich gern das Bestreben Rüdiger Safranskis anerkennen, bei der Darstellung des Lebensweges Schillers und Goethes angesichts des doch begrenzten Raumes durchgängig bestimmten Leitlinien zu folgen und dabei zeitbedingten Fehldeutungen zu begegnen, zum Beispiel dem unhistorischen Denunzieren Goethes als "Reaktionär" durch D. Wilson. (Nicholas Boyle musste wohl doch erst einmal angesichts der Fülle an Material und Verzweigungen mit seiner Goethe-Biographie bei 1803 innehalten, mit dieser Dichte konnte er auch er nicht weiterkommen). Also Safranski mit dem Mut zur Verknappung und auch entsprechender Routine.


    Er lässt der Freundschaft der beiden Weimarer Gerechtigkeit widerfahren und deutet nichts unhistorisch hinein, wie seinerzeit Hans Mayer und all jene, die in der Freundschaft nur einen Mythos sahen, an dem Goethe früh zu arbeiten begonnen habe. Selbst wenn die Einkommensverhältnisse der beiden schroff auseinander klafften - in Sachen Literatur waren - auch mit Safranski - beide Gebende und Nehmende, Goethe nicht der schwer reiche Behäbige und Schiller nur durchweg der arme Schlucker, bei dem auch angesichts der angeschlagenen Gesundheit Neid aufkommen musste.


    Bei Safranski ist Goethe ein großer Liebender. Der Kenner der Goetheschen Lyrik Wilhelm Solms ruft dieser Tage eben in diesem Sinne dazu auf, bei der Analyse der Liebeslyrik weiterzuarbeiten, die nicht von Goethes Lebensumständen getrennt werden könne. Er sah das Quälende, Irrationale, Dräuende in seinem Innern und suchte sich durch Schreiben zu befreien - das gezeigt zu haben, gefällt mir alles bei Safranski. Das sind nicht diese psychologisierenden, psychoanalytischen Deutungen des vergangenen Jahrhunderts. Revolutionäres, Beunruhigendes bei Goethe verbirgt sich hinter der scheinbaren Behaglichkeit (wir hatten hier dazu Leserunden), und der "revolutionäre" Schiller konnte auch ein betulicher Philister mit weltfremdem Frauenbild sein.

    Bei dem "Romantik"-Buch Rüdiger Safranskis fiel mir auf, dass er ausschließlich die deutsche Romantik und deren Folgen bis ins 20. Jahrhundert vor Augen hat, und sie nicht als gesamteuropäische Erscheinung wertet. Wo bleiben all die Chateaubriand, Sand, Manzoni, Mickiewicz, Petöfi, Puschkin?


    @sandgruber Safranski der "Schwätzer"? -- wohl nein, eher nicht, nein gar nicht, finde ich, auch wenn ich nicht alle seiner Biographien gelesen habe.

    Es kommt wohl eher auf den inneren Zustand des jetzigen Lesers Safranskis und seine Erwartungen an. Findet er die Ruhe dazu, gar vor einem Kamin mit lodernder Flamme?


    Wenn früher den Schriftstellern auch die Aufgabe auferlegt wurde, dem Zeitgeist eine Stimme zu verleihen, so dürfte dies nach 2015 wohl ziemlich schwierig geworden sein.


    In der DDR wussten wir, dass Schriftsteller etwas im literarischen Gewand vermitteln können, wofür es keine Bühne einer öffentlichen gewalt- und zensurfreien Auseinandersetzung geben konnte. In der Schule lernten wir das Wort des Karl Marx in dessen Brief an Ferdinand Lassalle (1859) von mancher zeitgenössischer Literatur als "bloßer Sprachröhre des Zeitgeistes" kennen, da war ja auch etwas dran,

    wenn man damals und später eher nach den politischen Gesinnungen fragte, als nach der ästhetischen Umsetzung. Und heute, wie geht das weiter?


    Man wird es kaum verübeln, wenn ein Schriftsteller zugeben würde, erst einmal angesichts heutiger Realitäten ziemlich ratlos zu sein. Ein "Philosophisches Quartett" mit Safranski und Sloterdijk mag man sich dieser Tage gar nicht mehr vorstellen. Die Wirklichkeit schlägt heutzutage manche Fiktion um Längen. Typen im realen Leben gibt es, die hätte man keinem Schriftsteller abgenommen ...

    Schiller, Goethe, Hoffmann und die Romantiker angesichts der jetzigen Ereignisse neu lesen zu wollen, wer hat da den inneren Abstand dazu?

    (Abschweifung: an mir "Klassikfreund" der Zeit um 1800 geht das Heute auch nicht spurlos vorbei; hätte nie gedacht, dass ich mich 2018 sogar einmal an Monika Maron machen würde, von der wir damals wussten, dass sie die Tochter des DDR-Innenministers war und sich mit Grausen vom System abwandte, aber jetzt interessiert mich das schon sehr, wie sie das literarisch gemacht hat. Monika Maron sucht ebenfalls ihre Ängste durch Schreiben zu bannen, noch vor Jahren hätte mich das gar nicht weiter interessiert, wenn mir auch Krähen schon seit Jahrzehnten immer sympathische Vögel waren ... ))


    Aber nun wirklich wieder zurück zu Safranski, wer diesen zugegeben etwas wirren Zeilen nicht folgen will, rollt schnell weiter nach unten.


    Hallo finsbury,


    nach längerer Pause wieder: ich habe den Télemach ebenso wie Du vor Jahren gelesen.


    Die Kaiserin Katharina die Große von Russland, die mehr als 30 Dramen sowie zahlreiche Erzählungen und Fabeln zur Erziehung ihrer Enkel verfasste, unterhielt in St. Petersburg einen engeren Freundeskreis, den sie die "Kleine Ermitage" nannte. Sie schrieb dieser kleinen Gesellschaft Regeln vor, von denen eine lautete, dass derjenige, der sich daneben benahm, dazu verdonnert wurde, der Gesellschaft laut aus Fenelons "Télemach" vorzulesen. Man bog sich dabei vor Lachen.
    D. h., um 1780 schien Fenelon, der in den Jahrzehnten zuvor ein "Kultbuch" gewesen war, in seinem Gehalt und in seiner Machart völlig veraltet, lächerlich geworden zu sein. In ähnlicher Weise wurde auch Klopstocks "Messias", der zuvor nahezu als "heilig" verehrt wurde, dermaßen verlacht, dass ihn kaum noch jemand ernst nehmen wollte, Arno Schmidt vermittelt einen Widerhall davon.
    Die ursprüngliche religiöse und politische Botschaft Fenelons wurde im Zeitalter der Hochaufklärung nicht mehr ernst genommen, über die in A. Minois' Geschichte des Atheismus, Weimar 2000, manch Aufschlussreiches zu lesen ist.


    Der Troja-Ausgräber Heinrich Schliemann allerdings, der seit seiner Jugendzeit an die zwanzig Fremdsprachen nach einer eigenen Methode erlernt haben soll, lernte Fenelons "Télemach" auswendig und wandte diese Kenntnis beim Erlernen der anderen Fremdsprachen an.

    Es ist eben die Frage: welches Bedürfnis treibt einen um, gerade die Situation eines Jubiläumsjahres zu nutzen, um sich wieder einer Gestalt wie der Luthers anzunähern.


    Wenn einen die Frage des Antijudaismus Luthers beschäftigt, ist einem wohl am besten mit Thomas Kaufmann geholfen, der sich schon seit Jahren mit diesem Thema beschäftigt hat. Bei der Umsetzung ist für ihn kennzeichnend gewesen, dass es von ihm so gründliche Studien über Luther und die Juden gibt, in denen am oberen Rand gerade einmal ein paar Zeilen Text zu finden sind, während der größte Teil einer Seite von Fußnoten ausgefüllt wird - sozusagen eine Art Markenzeichen früherer Arbeiten :zwinker: - nicht aber in seinem neuen Buch über die Reformation!


    Was Melanchthon betrifft, so hat jetzt Heinz Scheible eine neue Auflage seiner Biographie herausgegeben. Diesem Humanisten stand ein Erbe der Antike zu Gebote, das weit über die Quellen Luthers hinaus reichte. Ein Probefeld wäre die Auseinandersetzung um das heliozentrische System des Kopernikus, das Luther am Ende seines Lebens noch nicht zur Auseinandersetzung herausfordern konnte.

    Heinz Schillings Biographie hätte ich auch empfohlen, die bereits 2012 erschienen war. Da war schon absehbar, dass sich fünf Jahre später die Tische unter der Last der Bücher über Luther biegen würden.


    Der Autor hatte in den 1980er Jahren maßgeblich die Vorstellung von der "Konfessionalisierung" in Territorien geprägt, sich lange Zeit mit der calvinischen Variante des Protestantismus beschäftigt und verfügt über einen europaweiten Blick.


    In diesem Jahr nun beeindruckt mich die Müntzer-Biographie von Siegfried Bräuer (* 1930) und Günter Vogler (*1933), die Ergebnis von jahrzehntelangen Quellenforschungen beider Autoren ist.


    https://www.randomhouse.de/Buc…r-Verlagshaus/e494831.rhd


    Die Autoren orientieren sich an den gesicherten Fakten und vermeiden Spekulationen, die Sprache wirkt nüchtern und lakonisch. Vorausgegangen war 2015 eine Müntzer-Biographie von Hans-Dieter Goertz, der zuvor jahrzehntelang die radikalen Varianten reformatorischer Bewegungen erforscht hatte.


    Günter Vogler entwickelte mit Max Steinmetz und Adolf Laube das in der DDR maßgebliche Konzept einer "frühbürgerlichen Revolution" und hat 2003 ebenfalls ein Buch über Europa in der frühen Neuzeit vorgelegt, also einen länderübergreifenden Ansatz verfolgt.
    In den letzten Jahren der DDR wirkten marxistische Geschichtsforscher und evangelisch-lutherische Kirchenhistoriker wie Siegfried Bräuer zusammen: die in einem nichtreligiösen Umfeld aufgewachsenen Autoren lernten den wohl wichtigsten Vertreter einer zu Luther alternativen Reformation auch als Theologen, Prediger und Erneuerer der Liturgie kennen, Theologen wiederum begriffen immer mehr, dass auch das soziale Umfeld für das Wirken der Reformatoren erforscht werden musste.

    Hallo JHNewman,


    jetzt kommen mit überaus großer Verspätung und wahrscheinlich schon gar nicht mehr erwartet, einige Bemerkungen zur "Aufklärung" von Steffen Martus.
    So ziemlich genau vor einem Jahr fiel sie mir in die Hände, sie ziert meinen Bücherschrank, und ich habe sie von Anfang bis Ende gelesen, am Anfang zum Teil in meinem irischen Stamm-Pub mit passendem Getränk. :zwinker:


    Steffen Martus war mir kein Unbekannter. Seine Biographie der Brüder Grimm (2010) hatte ich bereits mit Gewinn gelesen. Darin suchte ich etwas: woher kam nun diese Märchenwelt, die teilweise überhaupt nicht jugend- oder gar kindgerecht ist, mit ihrem "Blut im Schuh", Verbrennungen im Backofen, bösen Wölfen, (die aber heute wieder angesiedelt werden sollen, obwohl auch noch schafvertilgenderweise böse), und die Guten kommen oft gerade einmal so davon, keineswegs ohne Dellen und Beulen! Das Gute siegt ja gar nicht immer! Von wegen "Volksmärchen"!
    Steffen Martus gab mir eine plausible Antwort: einige westfälische adlige Damen aus den Geschlechtern von Haxthausen und von Droste-Hülshoff, darunter die bekannte Annette von Droste-Hülshoff (mit deren Art Jakob Grimm aber nicht so recht klar kam), machten sich einen tierischen Spaß daraus, solche Horrorgeschichten zusammenzuspinnen und Wilhelm Grimm zwecks literarischer Ausgestaltung gefällig zu überlassen, die dann den richtigen "Märchen-Sound" schufen, der so gut ankam, dass "Grimms Märchen" zum "Weltkultur-Erbe" gehören sollten. Es gab auch einige wenige echte Volksgestalten unter den Zulieferern, darunter einen abgedankten Soldaten, aber eben nicht das Mütterchen, das am schnurrenden Spinnrad sitzt. Also Steffen Martus zum Ersten.


    Und jetzt lieferte er ab, was ich erwartete: eine "historische Erzählung" über die Aufklärung und keine fremdwortgesättigte Analyse. Die Schwierigkeit eines solchen Unterfangens zeigt sich schon darin, dass drei Überschriften nötig sind: es geht nicht nur um die Aufklärung (an sich), sondern um "das deutsche 18. Jahrhundert". Damit ist also gesagt, dass es sich um "deutschsprachige Territorien" handelt, einschließlich Österreich und deutschsprachige Schweiz (Haller, Gessner, Bodmer lassen sich im 18. Jahrhundert noch gar nicht trennen von der literarischen Entwicklung im gesamten deutschsprachigen Raum). Und dann will Martus noch "Ein Epochenbild" bieten.


    Ich glaube völlig zu verstehen, JHNewman, was Du meinst. Steffen Martus scheint sich in Details zu verlieren und hätte mehr strukturieren und ordnen sollen.
    Eine synthetische Darstellung zur Aufklärung ist sicher sehr schwierig zu bewerkstelligen. Literaturwissenschaftler, Philosophen, Säkularhistoriker, Theologen nähern sich dem Gegenstand "Aufklärung" von verschiedenen Seiten.
    Die in Halle tätigen Historiker Andreas Pecar und Damien Tricoire haben gleichfalls im vorigen Jahr 2015 versucht, eine Debatte über die Aufklärung zu beginnen: "Falsche Freunde. War die Aufklärung wirklich die Geburtsstunde der Moderne?", ohne das gleichzeitig erschienene Buch von Steffen Martus zu kennen, mit dem Ergebnis: bei etlichen Aufklärern vor allem französischer Herkunft finden sich die Ursprünge rassistischer, antisemitischer, intoleranter, frauenfeindlicher Auffassungen, so dass es unmöglich werde, "die Aufklärung" für den emanzipatorischen Fortschritt und die Toleranzidee der Moderne in Anspruch zu nehmen. Sie konzentrieren sich bei ihrer Untersuchung "der Aufklärung" in den Debatten der Jetztzeit vorwiegend auf Autoren aus dem französischen und dem englischen Sprachraum. Was ist aber mit dem deutschsprachigen Raum? Nimmt man dort lediglich auf, was aus Westeuropa kam?
    Auf 230 Seiten können Pecar/Tricoire nicht "Zentrum und Peripherie" der Aufklärung in Europa gänzlich erfassen.


    Es stellt sich die Frage: von welchem Aufklärungs-Begriff wird ausgegangen? Gemeinhin verweist man auf Kants "Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit" (1784), und die Zitate werden dann auch noch aus dem Zusammenhang des Aufklärungs-Diskurses in Preußen gerissen, der von dem Prediger Zöllner initiiert worden war und in dessen Rahmen Moses Mendelssohn eine ebenfalls interessante Antwort vorlegte.
    Wir haben es mit einem Spannungsfeld zu tun zwischen radikaler Aufklärung (Jonathan Israel lässt sie in seiner Trilogie von Baruch Spinoza ausgehen), in Deutschland etwa Dippel, Knutzen, Edelmann, und aufgeklärten Reformbestrebungen etwa im katholischen Süden Deutschlands und in Österreich (darüber ist 2016 ein Sammelband unter dem Titel "Josephinismus", hrsg. von Franz Leander Fillafer und Thomas Wallnig, erschienen). Aufklärung und Esoterik (Freimaurertum) schlossen keineswegs einander aus), Reformen der Aufklärungszeit, die das "Glück des Volkes" befördern sollten, das Bildungswesen und Medizinalwesen betrafen, jedoch nicht an die staatliche und kirchliche Ordnung rührten: "Alles für das Volk, nichts mit dem Volk." (Joseph II.)
    Nehmen wir den Titel von Frank Kelleter zur Hand "Amerikanische Aufklärung. Sprachen der Realität im Zeitalter der Revolution", Paderborn u. a. 2002. Auf 852 (!) Seiten ist davon die Rede, wie vor allem rationalistische Ideen aus dem Mutterland der amerikanischen Kolonien über den Atlantik in die Neue Welt gelangten und die Rechte von versklavten Afroamerikanern und Frauen mit Argumenten der kontinentalen Aufklärung eingefordert wurden. Aufklärung wird hier vor allem mit "Rationalismus" in Verbindung gebracht.


    Michael Schippan legt in seinem Buch "Die Aufklärung in Russland im 18. Jahrhundert" (2012) auf annähernd 500 Seiten dar, dass man kaum von dem einen Aufklärungs-Begriff ausgehen könne, sondern "prosveshchenie" (russ. für Aufklärung, aber auch Erleuchtung, Taufe, Volksbildung) die verschiedensten Bedeutungsebenen erfassen könne. Er untergliederte sein Buch in drei Teile: chronologische Entfaltung der Aufklärung von einer Frühaufklärung bis zur Spätaufklärung (wie das auch Martus tut), räumliche Entfaltung (nicht nur in den Hauptstädten Moskau und St. Petersburg, sondern auch in der Provinz, bei Martus wechselnde Schauplätze in deutschen Territorien - Hamburg, Leipzig, Berlin usw.) sowie Themen der Aufklärungsdebatten (Russland und Europa bzw. Asien, Krieg und Frieden, Ökonomie, Bildungswesen, Theologie der Aufklärung, Geschichtsschreibung usw.).


    Und Steffen Martus? Ich will in einem Post der kommenden (hoffentlich nicht allzu entfernten) Zeit versuchen, einmal ein paar Thesen zu seinem Buch zu formulieren.

    Ja, sehr interessant und mehr als das! Bonhoeffers Vorliebe für Stifter war mir bislang nicht bekannt. Es hat mich berührt zu lesen, dass er in der Zeit der Inhaftierung und existenziellen Bedrohung Stifters Lektüre als wohltuend und heilsam empfunden hat. Gerade habe ich Stifters Erzählung Abdias wiedergelesen und mich gefragt, warum diese simple Hiobsgeschichte um einen gefährdeten und einsamen Menschen mich so fasziniert. Das „geborgene und verborgene Leben seiner Gestalten“, Besinnung auf „die wesentlichen Lebensinhalte“, „Reinheit der Sprache und der Personen“, „seltenes merkwürdiges Glücksgefühl", die Stichworte Bonhoeffers, die du zitiertst, beschreiben ziemlich genau, wonach ich suchte.
    Ja, die Erzählung( ich hab durchaus noch andere therapeutische Literatur auf Lager :smile:) ist so etwas wie ein Rückzugsort, an dem ich wieder zu mir finde.. Dass, wie du schreibst, Bonhoeffer sich durch die Stifter-Lektüre „gegenüber den äußeren Umständen abzugrenzen“ suchte und „sein inneres Leben zu pflegen“, finde ich einleuchtend und berührend.
    Danke für Deine Ausführungen!


    So ging es mir ebenso in der Zeit des Realsozialismus. Seit 1981 habe ich den "Nachsommer" neunmal gelesen. Er war ein Trost in einer Zeit, in der Erziehung in "Kollektiven" stattzufinden hatte, wer sich "vom Kollektiv abgrenzte", wenn auch nur, weil er einmal allein sein wollte, machte sich verdächtig.
    Schon vor 1989 fand ich Äußerungen von Schriftstellern wie Friedrich Hebbel, die meinten, dass an Stifter die Konflikte seiner Zeit, Revolution und Konterrevolution, Krise und Krieg, einfach spurlos vorbeigegangen seien und er eine weltfremde "Idylle" konstruiert habe, in der es patriarchalisch zuging und die Dienstboten lediglich stumm für das Wohl der Bewohner des Asperhofes oder des Sternhofes sorgten. Und Arno Schmidt meinte ja, dass Stifter schlicht nicht schreiben könne und Fehler zuhauf gegen einfache Regeln der Logik und Grammatik begangen hätte.
    Die Leserschaft war bis ins 20. Jahrhundert gespalten in "Stifter-Enthusiasten" und "Stifter-Gegner". Den "Witiko" habe ich übrigens nie bewältigt. Das "reale Mittelalter" in meiner Thüringer Heimat war immer anhand sichtbarer und mündlicher Überlieferungen, die ich seit meiner Kindheit kannte, gar nicht so fern und leicht erfassbar.


    In den 1980er Jahren war ich davon überzeugt, dass ich die Alpen in meinem Leben wegen der Mauer nicht mehr sehen könnte. Hätte ich geahnt, dass ich in jedem Jahr mehrere Wochen dort leben würde! Ich habe mir den "Nachsommer" mitgenommen und - siehe da - angesichts der hohen Berge und auch wenige Kilometer vom "Simmi-Eis" entfernt, das nach dem tüchtigen Geologen Simoni benannt ist, der zum Teil für den blässlichen Heinrich Drendorf das Vorbild abgab, lese ich den Roman wieder mit Genuss.


    Gontscharow


    ( ich hab durchaus noch andere therapeutische Literatur auf Lager :smile:)


    Würdest Du eventuell einen Einblick in dieses "Lager" gewähren? Vor Jahren hatte ich einmal einen Thread in dieser Richtung aufgemacht und auch mehrere Hinweise bekommen; es stellte sich allerdings als schwierig heraus, etwas Passendes zu finden.

    Vielleicht können wir Details zu diesen Fragen auch per PN klären.



    Als ich diesen Thread eröffnete, dachte ich an die Möglichkeit, dass sich vielleicht auch Fans von Hermann Kant fänden. Es fiel ja auch auf, dass anerkennende Worte über ihn eher im Westen von Leuten mit Autorität, wie M. Reich-Ranicki, gefunden wurden.
    Mit wem ich aber auch sprach - und das ist bei Lesern mit Ost-Vergangenheit eher verständlich, wenngleich ich auch im Westen auf Interesse für diesen Schriftsteller stieß: ja, die "Aula" ging noch, einige lehnten aber auch schon die als beschönigend ab, und der "Aufenthalt" wurde ebenfalls mit Anerkennung bedacht. Das Verhältnis zu unseren unmittelbaren polnischen Nachbarn war schon lange ein kompliziertes; Christa Wolf und Hermann Kant hatten sich der Problematik zumindest aus der Perspektive der Erinnerung gestellt. Über aktuelle Probleme in den Beziehungen hätte in den 1970er/80er Jahren schwerlich etwas in eine größere Öffentlichkeit gelangen können.