Deine umfangreichen Betrachtungen bieten eine Menge Gesprächsstoff. Vielleich etwas zur "Emotionalisierung" von Geschichtsschreibung:
Übrigens ist mir aufgefallen, dass auch der Zugriff Mina Wolfs auf die Geschichte des Dreißigjährigen Krieges diesen Zug der 'Emotionalisierung' hat, was mich als Historiker etwas irritierte. Sie bewegt sich lange durch die Literatur und die Quellen auf der Suche nach dem Aspekt des Krieges, der ihre Nervenbahnen zum Schwingen bringt - also eine emotionale Resonanz erzeugt, die sie dann als Sprungbrett für ihren Aufsatz nehmen kann. Diese Emotionalisierung ist ein Zug unserer Zeit und auch ein Problem einer immer stärker um sich greifenden Empörungskultur, die sich ja in dem Roman auch sehr schön niederschlägt.
So wie Mina Wolf an ihr Thema für die Jubiläumsschrift der westfälischen Kleinstadt herangeht, können wohl auch ausgebildete Historiker ihren Zugang suchen. Da gibt es diejenigen, die eine Ader für eine Art von Geschichtsdarstellung haben, die auch ein breites Lesepublikum anspricht, die "Erzähler". Andere schreiben eher vorwiegend für ihre Fachkollegen in einem Jargon, den kaum jemand außerhalb dieser Disziplin versteht.
Unter den Geschichtsforschern gibt es etwa den Typ des "Sammlers", der sich in die Quellen eingräbt, jedoch Mühe hat, seine Ergebnisse allgemeinverständlich vorzustellen, den des "Philosophen", der in höheren Gefilden wolkiger Geschichtstheorien schwebt, für den die Quellen nur austauschbares Anschauungsmaterial sind.
Gerade im Zusammenhang mit dem Thema der Mina Wolf, auch emotional nachvollziehen zu wollen, wie sich vor dem Dreißigjährigen Krieg etwas zusammenbraute, habe ich ein Beispiel, das mich regelrecht begeisterte. Mein Erfurter Landsmann Ulman Weiss (* 1949) ist sowohl "Erzähler" als auch unermüdlicher "Sammler" in einer Person, der auch einen Preis für seine schriftstellerischen Leistungen erhielt. Der Band ist 640 Seiten stark und nicht ganz billig.
Es hat mich ergriffen, wie der Autor unmittelbar aus den Archivquellen schöpfte - gedruckte Titel gibt es nur ganz wenige, die Forschungsliteratur ist an den Fingern abzuzählen - und die Lebenswelten der Bauern, der Stadtbürger von Erfurt und Langensalza und jener Handwerker erfassen konnte, die von apokalyptischen Ängsten umgetrieben wurden und mit ihren phantastischen Deutungen der Zeitläufte schließlich in Konflikt mit der weltlichen und der geistlichen Gewalt gerieten. Sogar ein Kind wurde in den Kerker geworfen und kam dort um. Die Herrschenden wurden ebenfalls nervös, von Sorgen und Ängsten ergriffen, einhundert Jahre später war die Erinnerung an den Bauernkrieg in Thüringen von 1525 und Thomas Müntzer noch nicht gänzlich erloschen. Nach der "Thüringer Sintflut" von 1616 (neue "Eiszeit") folgten Krieg und Söldnerdurchzüge, die mit friedlichen Phasen abwechselten, Seuchen, Mißernten, Fürbitten in den Kirchen, Unruhen in der bikonfessionellen Stadt Erfurt, wo sich zuvor friedlich nebeneinander lebende Katholiken und Protestanten nun in die Haare gerieten ... das liest sich alles ungemein fesselnd und emotional anrührend, manches klingt, als wären wir in DDR oder heutiger Bundesrepublik Augenzeugen vom "Umgang mit Dissidenten" (habe ich Tellkamp gesagt oder wahrscheinlich nur gedacht, geträumt),
so schreiben kann nicht jeder ...
Ulman Weiß: Die Lebenswelten des Esajas Stiefel oder vom Umgang mit Dissidenten. Stuttgart 2007. 640 Seiten.